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T O P I C : Maximierung der Überlebenswahrscheinlichkeit der Spezies Homo Sapiens.

--------- RazorBlade ---------
ABSTIMMUNG + KLIMAKLAGE
[ beschwerde_klage_intro.html ]
----- Klimanotstand & Co. -----

¡! UNSORTED DATA ¿?

= + REGLAS de CATHOLICA +
= Ein paar Daten für Hildegard und ihre Briefe an den zukünftigen Papst.
+ Für dieses daraus resultierende "philosophisch-theologische Glatteis" ?!
= Da gibt es natürlich auch als Hilfestellung den 'Sandstreuer' . . .

+ BILDER aus dem Buch H v B . . .

WORK IN PROGRESS FORTSCHRITTLICHE ARBEIT

REGLAS de CATHOLICA PARTE DATA + PARTE I + PARTE II + PARTE III
MATER ET MAGISTRA
PACEM IN TERRIS
OCTOGESIMA ADVENIENS
POPULORUM PROGRESSIO
REDEMPTOR HOMINIS
LABOREM EXERCENS
SOLLICITUDO REI SOCIALIS
CARITAS IN VERITATE




ENZYKLIKA
CARITAS IN VERITATE
VON PAPST
BENEDIKT XVI.
AN DIE BISCHÖFE
AN DIE PRIESTER UND DIAKONE
AN DIE PERSONEN
GOTTGEWEIHTEN LEBENS
AN DIE CHRISTGLÄUBIGEN LAIEN
UND AN ALLE MENSCHEN
GUTEN WILLENS
ÜBER DIE GANZHEITLICHE
ENTWICKLUNG DES MENSCHEN
IN DER LIEBE
UND IN DER WAHRHEIT

 

EINLEITUNG

1. Caritas in veritate – die Liebe in der Wahrheit, die Jesus Christus mit seinem irdischen Leben und vor allem mit seinem Tod und seiner Auferstehung bezeugt hat, ist der hauptsächliche Antrieb für die wirkliche Entwicklung eines jeden Menschen und der gesamten Menschheit. Die Liebe – »caritas« – ist eine außerordentliche Kraft, welche die Menschen drängt, sich mutig und großherzig auf dem Gebiet der Gerechtigkeit und des Friedens einzusetzen. Es ist eine Kraft, die ihren Ursprung in Gott hat, der die ewige Liebe und die absolute Wahrheit ist. Jeder findet sein Glück, indem er in den Plan einwilligt, den Gott für ihn hat, um ihn vollkommen zu verwirklichen: In diesem Plan findet er nämlich seine Wahrheit, und indem er dieser Wahrheit zustimmt, wird er frei (vgl. Joh 8, 32). Die Wahrheit zu verteidigen, sie demütig und überzeugt vorzubringen und sie im Leben zu bezeugen, sind daher anspruchsvolle und unersetzliche Formen der Liebe. Denn diese »freut sich an der Wahrheit« (1 Kor 13, 6). Alle Menschen spüren den inneren Impuls, wahrhaft zu lieben: Liebe und Wahrheit weichen niemals gänzlich von ihnen, denn sie sind die Berufung, die Gott ins Herz und in den Geist eines jeden Menschen gelegt hat. Jesus Christus reinigt und befreit die Suche nach der Liebe und der Wahrheit von unseren menschlichen Armseligkeiten und offenbart uns vollends die Initiative der Liebe und den Plan eines wahren Lebens, das Gott für uns vorbereitet hat. Die Liebe in der Wahrheit wird zum Gesicht Christi; und in Christus wird sie zur Berufung für uns, unsere Mitmenschen in der Wahrheit seines Planes zu lieben. Er selbst ist ja die Wahrheit (vgl. Joh 14, 6).

2. Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche. Jede von dieser Lehre beschriebene Verantwortung und Verpflichtung geht aus der Liebe hervor, die nach den Worten Jesu die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes ist (vgl. Mt 22, 36-40). Sie verleiht der persönlichen Beziehung zu Gott und zum Nächsten einen wahren Gehalt; sie ist das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen – in Freundschaft, Familie und kleinen Gruppen –, sondern auch der Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen. Für die Kirche ist – vom Evangelium her – die Liebe alles, denn, wie uns der heilige Johannes lehrt (vgl. 1 Joh 4, 8.16) und ich in meiner ersten Enzyklika in Erinnerung gerufen habe: »Gott ist Liebe« (Deus caritas est): Aus der Liebe Gottes geht alles hervor, durch sie nimmt alles Gestalt an, und alles strebt ihr zu. Die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott den Menschen gemacht hat, sie ist seine Verheißung und unsere Hoffnung.

Ich weiß um die Entstellungen und die Sinnentleerungen, denen die Liebe ausgesetzt war und ist, mit der entsprechenden Gefahr, daß sie mißverstanden, aus der ethischen Lebenspraxis ausgeschlossen und in jedem Fall daran gehindert wird, in rechter Weise zur Geltung zu kommen. Im gesellschaftlichen, rechtlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bereich, also in den Zusammenhängen, die für diese Gefahr am anfälligsten sind, wird die Liebe leicht als unerheblich für die Interpretation und die Orientierung der moralischen Verantwortung erklärt. Daher ist es notwendig, die Liebe und die Wahrheit nicht nur in der vom heiligen Paulus angegebenen Richtung der »veritas in caritate« (Eph 4, 15) miteinander zu verbinden, sondern auch in der entgegengesetzten und komplementären von »caritas in veritate«. Die Wahrheit muß in der »Ökonomie« der Liebe gesucht, gefunden und ausgedrückt werden, aber die Liebe muß ihrerseits im Licht der Wahrheit verstanden, bestätigt und praktiziert werden. Auf diese Weise werden wir nicht nur der von der Wahrheit erleuchteten Liebe einen Dienst erweisen, sondern wir werden auch dazu beitragen, daß sich die Wahrheit glaubwürdig erweist, indem wir ihre Authentizität und ihre Überzeugungskraft im konkreten gesellschaftlichen Leben deutlich machen. Das ist heute von nicht geringer Bedeutung in einem sozialen und kulturellen Umfeld, das die Wahrheit relativiert und ihr gegenüber oft gleichgültig und ablehnend eingestellt ist.

3. Wegen dieser engen Verbindung mit der Wahrheit kann die Liebe als authentischer Ausdruck des Menschseins und als ein Element von grundlegender Bedeutung in den menschlichen Beziehungen – auch im öffentlichen Bereich – erkannt werden. Nur in der Wahrheit erstrahlt die Liebe und kann glaubwürdig gelebt werden. Die Wahrheit ist ein Licht, das der Liebe Sinn und Wert verleiht. Es ist das Licht der Vernunft wie auch des Glaubens, durch das der Verstand zur natürlichen und übernatürlichen Wahrheit der Liebe gelangt: er erfaßt ihre Bedeutung als Hingabe, Annahme und Gemeinschaft. Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab. Sie wird ein leeres Gehäuse, das man nach Belieben füllen kann. Das ist die verhängnisvolle Gefahr für die Liebe in einer Kultur ohne Wahrheit. Sie wird Opfer der zufälligen Gefühle und Meinungen der einzelnen, ein Wort, das mißbraucht und verzerrt wird, bis es schließlich das Gegenteil bedeutet. Die Wahrheit befreit die Liebe von den Verengungen einer Emotionalisierung, die sie rationaler und sozialer Inhalte beraubt, und eines Fideismus, der ihr die menschliche und universelle Weite nimmt. In der Wahrheit spiegelt die Liebe die persönliche und zugleich öffentliche Dimension des Glaubens an den biblischen Gott wider, der zugleich »Agape« und »Logos« ist: Caritas und Wahrheit, Liebe und Wort.

4. Da die Liebe voll Wahrheit ist, kann sie vom Menschen in ihrem Reichtum an Werten begriffen, zustimmend angenommen und vermittelt werden. Denn die Wahrheit ist „lógos“, der „diá-logos“ schafft und damit Austausch und Gemeinschaft bewirkt. Indem die Wahrheit die Menschen aus den subjektiven Meinungen und Empfindungen herausholt, gibt sie ihnen die Möglichkeit, kulturelle und geschichtliche Festlegungen zu überwinden und in der Beurteilung von Wert und Wesen der Dinge einander zu begegnen. Die Wahrheit öffnet den Verstand der Menschen und vereint ihre Intelligenz im Logos der Liebe: Das ist die Botschaft und das christliche Zeugnis der Liebe. Wenn wir im augenblicklichen sozialen und kulturellen Umfeld, in dem die Tendenz zur Relativierung der Wahrheit verbreitet ist, die Liebe in der Wahrheit leben, kommen wir zu der Einsicht, daß die Zustimmung zu den Werten des Christentums ein nicht nur nützliches, sondern unverzichtbares Element für den Aufbau einer guten Gesellschaft und einer echten ganzheitlichen Entwicklung des Menschen ist. Ein Christentum der Liebe ohne Wahrheit kann leicht mit einem Vorrat an guten, für das gesellschaftliche Zusammenleben nützlichen, aber nebensächlichen Gefühlen verwechselt werden. Auf diese Weise gäbe es keinen eigentlichen Platz mehr für Gott in der Welt. Ohne die Wahrheit wird die Liebe in einen begrenzten und privaten Bereich von Beziehungen verbannt. Aus den Planungen und den Prozessen zum Aufbau einer menschlichen Entwicklung von umfassender Tragweite – im Dialog zwischen Wissen und Praxis – wird sie ausgeschlossen.

5. Caritas ist empfangene und geschenkte Liebe. Sie ist »Gnade« (cháris). Ihre Quelle ist die ursprüngliche Liebe des Vaters zum Sohn im Heiligen Geist. Sie ist Liebe, die vom Sohn her zu uns herabfließt. Sie ist schöpferische Liebe, aus der wir unser Sein haben; sie ist erlösende Liebe, durch die wir wiedergeboren sind. Sie ist von Christus offenbarte und verwirklichte Liebe (vgl. Joh 13, 1), »ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist« (Röm 5, 5). Als Empfänger der Liebe Gottes sind die Menschen eingesetzt, Träger der Nächstenliebe zu sein, und dazu berufen, selbst Werkzeuge der Gnade zu werden, um die Liebe Gottes  zu verbreiten und Netze der Nächstenliebe zu knüpfen.

Auf diese Dynamik der empfangenen und geschenkten Liebe geht die Soziallehre der Kirche ein. Sie ist »caritas in veritate in re sociali«: Verkündigung der Wahrheit der Liebe Christi in der Gesellschaft. Diese Lehre ist Dienst der Liebe, aber in der Wahrheit. Die Wahrheit ist Hüterin und Ausdruck der befreienden Kraft der Liebe in den immer neuen Wechselfällen der Geschichte. Sie ist zugleich Wahrheit des Glaubens und der Vernunft, in der Unterscheidung ebenso wie im Zusammenwirken der beiden Erkenntnisbereiche. Für die Entwicklung, den gesellschaftlichen Wohlstand und eine angemessene Lösung der schweren sozioökonomischen Probleme, welche die Menschheit plagen, ist diese Wahrheit notwendig. Und noch notwendiger dafür ist, daß diese Wahrheit geliebt und bezeugt wird. Ohne Wahrheit, ohne Vertrauen und Liebe gegenüber dem Wahren gibt es kein Gewissen und keine soziale Verantwortung: Das soziale Handeln wird ein Spiel privater Interessen und Logiken der Macht, mit zersetzenden Folgen für die Gesellschaft, um so mehr in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung und in schwierigen Situationen wie der augenblicklichen.

6. »Caritas in veritate«ist das Prinzip, um das die Soziallehre der Kirche kreist, ein Prinzip, das in Orientierungsmaßstäben für das moralische Handeln wirksame Gestalt annimmt. Besonders zwei von ihnen möchte ich erwähnen, die speziell beim Einsatz für die Entwicklung in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung erforderlich sind: die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl.

Zunächst die Gerechtigkeit. Ubi societas, ibi ius: Jede Gesellschaft erarbeitet ein eigenes Rechtssystem. Die Liebe geht über die Gerechtigkeit hinaus, denn lieben ist schenken, dem anderen von dem geben, was „mein“ ist; aber sie ist nie ohne die Gerechtigkeit, die mich dazu bewegt, dem anderen das zu geben, was „sein“ ist, das, was ihm aufgrund seines Seins und seines Wirkens zukommt. Ich kann dem anderen nicht von dem, was mein ist, „schenken“, ohne ihm an erster Stelle das gegeben zu haben, was ihm rechtmäßig zusteht. Wer den anderen mit Nächstenliebe begegnet, ist vor allem gerecht zu ihnen. Die Gerechtigkeit ist der Liebe nicht nur in keiner Weise fremd, sie ist nicht nur kein alternativer oder paralleler Weg zur ihr: Die Gerechtigkeit ist untrennbar mit der Liebe verbunden,[1] sie ist ein ihr innewohnendes Element. Die Gerechtigkeit ist der erste Weg der Liebe oder – wie Paul VI. sagte – ihr »Mindestmaß«,[2] ein wesentlicher Bestandteil jener Liebe »in Tat und Wahrheit« (1 Joh 3, 18), zu der der Apostel Johannes aufruft. Zum einen erfordert die Liebe die Gerechtigkeit: die Anerkennung und die Achtung der legitimen Rechte der einzelnen und der Völker. Sie setzt sich für den Aufbau der „Stadt des Menschen“ nach Recht und Gerechtigkeit ein. Zum andern geht die Liebe über die Gerechtigkeit hinaus und vervollständigt sie in der Logik des Gebens und Vergebens.[3] Die „Stadt des Menschen“ wird nicht nur durch Beziehungen auf der Grundlage von Rechten und Pflichten gefördert, sondern noch mehr und zuerst durch Verbindungen, die durch Unentgeltlichkeit, Barmherzigkeit und Gemeinsamkeit gekennzeichnet sind. Die Nächstenliebe offenbart auch in den menschlichen Beziehungen immer die Liebe Gottes; diese verleiht jedem Einsatz für Gerechtigkeit in der Welt einen theologalen und heilbringenden Wert.

7. Ferner muß besonderer Wert auf das Gemeinwohl gelegt werden. Jemanden lieben heißt sein Wohl im Auge haben und sich wirkungsvoll dafür einsetzen. Neben dem individuellen Wohl gibt es eines, das an das Leben der Menschen in Gesellschaft gebunden ist: das Gemeinwohl. Es ist das Wohl jenes „Wir alle“, das aus einzelnen, Familien und kleineren Gruppen gebildet wird, die sich zu einer sozialen Gemeinschaft zusammenschließen.[4] Es ist nicht ein für sich selbst gesuchtes Wohl, sondern für die Menschen, die zu der sozialen Gemeinschaft gehören und nur in ihr wirklich und wirkungsvoller ihr Wohl erlangen können. Das Gemeinwohl wünschen und sich dafür verwenden ist ein Erfordernis von Gerechtigkeit und Liebe. Sich für das Gemeinwohl einzusetzen bedeutet, die Gesamtheit der Institutionen, die das soziale Leben rechtlich, zivil, politisch und kulturell strukturieren, einerseits zu schützen und andererseits sich ihrer zu bedienen, so daß auf diese Weise die Polis, die Stadt Gestalt gewinnt. Man liebt den Nächsten um so wirkungsvoller, je mehr man sich für ein gemeinsames Gut einsetzt, das auch seinen realen Bedürfnissen entspricht. Jeder Christ ist zu dieser Nächstenliebe aufgerufen, in der Weise seiner Berufung und entsprechend seinen Einflußmöglichkeiten in der Polis. Das ist der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe, der nicht weniger tauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nächsten unmittelbar, außerhalb der institutionellen Vermittlungen der Polis entgegenkommt. Wenn der Einsatz für das Gemeinwohl von der Liebe beseelt ist, hat er eine höhere Wertigkeit als der nur weltliche, politische. Wie jeder Einsatz für die Gerechtigkeit gehört er zu jenem Zeugnis der göttlichen Liebe, das, während es in der Zeit wirkt, die Ewigkeit vorbereitet. Wenn das Handeln des Menschen auf Erden von der Liebe inspiriert und unterstützt wird, trägt es zum Aufbau jener universellen Stadt Gottes bei, auf die sich die Geschichte der Menschheitsfamilie zubewegt. In einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung müssen das Gemeinwohl und der Einsatz dafür unweigerlich die Dimensionen der gesamten Menschheitsfamilie, also der Gemeinschaft der Völker und der Nationen,[5] annehmen, so daß sie der Stadt des Menschen die Gestalt der Einheit und des Friedens verleihen und sie gewissermaßen zu einer vorausdeutenden Antizipation der grenzenlosen Stadt Gottes machen.

8. Durch die Veröffentlichung der Enzyklika Populorum progressio im Jahr 1967 hat mein verehrter Vorgänger Paul VI. das große Thema der Entwicklung der Völker unter dem Glanz der Wahrheit und dem Licht der Liebe Christi beleuchtet. Er hat bekräftigt, daß die Verkündigung Christi der erste und hauptsächliche Entwicklungsfaktor ist,[6] und er hat uns aufgegeben, auf dem Weg der Entwicklung mit unserem Herzen und all unserer Intelligenz voranzugehen,[7] das heißt mit dem Feuer der Liebe und der Weisheit der Wahrheit. Es ist die ursprüngliche Wahrheit der Liebe Gottes, eine uns geschenkte Gnade, die unser Leben für die Gabe öffnet und es möglich macht, eine Entwicklung »des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit«,[8] einen Übergang »von weniger menschlichen zu menschlicheren Bedingungen«[9] zu erhoffen, der durch die Überwindung der unweigerlich auf dem Weg anzutreffenden Schwierigkeiten erreicht wird.

Über vierzig Jahre nach der Veröffentlichung der Enzyklika möchte ich dem Gedenken des großen Papstes Paul VI. Anerkennung zollen und Ehre erweisen, indem ich seine Lehren über die ganzheitliche Entwicklung des Menschen aufnehme und mich auf den von ihnen vorgezeichneten Weg begebe, um sie in der gegenwärtigen Zeit zu aktualisieren. Dieser Prozeß der Aktualisierung begann mit der Enzyklika Sollecitudo rei socialis, mit welcher der Diener Gottes Papst Johannes Paul II. der Veröffentlichung von Populorum progressio anläßlich ihres zwanzigsten Jahrestags gedenken wollte. Ein solches Andenken war bis dahin nur der Enzyklika Rerum novarum zuteil geworden. Nachdem nun weitere zwanzig Jahre vergangen sind, bringe ich meine Überzeugung zum Ausdruck, daß die Enzyklika Populorum progressio verdient, als »die Rerum novarum unserer Zeit« angesehen zu werden, welche die Schritte der Menschheit auf dem Weg zu einer Einigung erleuchtet.

9. Die Liebe in der Wahrheit – caritas in veritate – ist eine große Herausforderung für die Kirche in einer Welt der fortschreitenden und um sich greifenden Globalisierung. Die Gefahr unserer Zeit besteht darin, daß der tatsächlichen Abhängigkeit der Menschen und der Völker untereinander keine ethische Wechselbeziehung von Gewissen und Verstand der Beteiligten entspricht, aus der eine wirklich menschliche Entwicklung als Ergebnis hervorgehen könnte. Nur mit der vom Licht der Vernunft und des Glaubens erleuchteten Liebe ist es möglich, Entwicklungsziele zu erreichen, die einen menschlicheren und vermenschlichenderen Wert besitzen. Das Teilen der Güter und der Ressourcen, aus dem die echte Entwicklung hervorgeht, wird nicht allein durch technischen Fortschritt und durch bloß vom Kalkül bestimmte Beziehungen gewährleistet, sondern durch das Potential der Liebe, die das Böse durch das Gute besiegt (vgl. Röm 12, 21) und die Menschen dafür öffnet, in ihrem Gewissen und mit ihrer Freiheit aufeinander einzugehen.

Die Kirche hat keine technischen Lösungen anzubieten[10] und beansprucht keineswegs, »sich in die staatlichen Belange einzumischen«.[11] Sie hat aber zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird. Ohne Wahrheit verfällt man in eine empiristische und skeptische Lebensauffassung, die unfähig ist, sich über die Praxis zu erheben, weil sie nicht daran interessiert ist, die Werte – und bisweilen sogar die Bedeutungen – zu erfassen, mit denen diese zu beurteilen und nach denen sie auszurichten ist. Die Treue zum Menschen erfordert die Treue zur Wahrheit, die allein Garant der Freiheit (vgl. Joh 8, 32) und der Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung ist. Darum sucht die Kirche die Wahrheit, verkündet sie unermüdlich und erkennt sie an, wo immer sie sich offenbart. Diese Sendung der Wahrheit ist für die Kirche unverzichtbar. Ihre Soziallehre ist ein besonderer Aspekt dieser Verkündigung: Sie ist Dienst an der Wahrheit, die befreit. Offen für die Wahrheit, gleichgültig aus welcher Wissensrichtung sie kommt, nimmt die Soziallehre der Kirche sie auf, setzt die Bruchstücke, in der sie sie häufig vorfindet, zu einer Einheit zusammen und vermittelt sie in die immer neue Lebenspraxis der Gesellschaft der Menschen und der Völker hinein.[12]

 

ERSTES KAPITEL

DIE  BOTSCHAFT VON POPULORUM PROGRESSIO

10. Die erneute Lektüre von Populorum progressio über vierzig Jahre nach ihrer Veröffentlichung regt dazu an, ihrer Botschaft der Liebe und der Wahrheit treu zu bleiben und sie im Kontext der spezifischen Lehre Papst Pauls VI. und allgemeiner innerhalb der Tradition der Soziallehre der Kirche zu betrachten. Alsdann sind die anderen Bedingungen zu erwägen, unter denen sich das Problem der Entwicklung heute im Unterschied zu damals stellt. Der richtige Gesichtspunkt ist also jener der Überlieferung des apostolischen Glaubens,[13] des alten und neuen Erbes, außerhalb dessen Populorum progressio ein Dokument ohne Wurzeln wäre und die Entwicklungsfragen sich einzig auf soziologische Daten reduzieren würden.

11. Die Publikation von Populorum progressio geschah unmittelbar nach Abschluß des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Enzyklika selbst weist in den ersten Absätzen auf ihre enge Beziehung zum Konzil hin.[14] Papst Johannes Paul II. unterstrich zwanzig Jahre danach in Sollicitudo rei socialis seinerseits die fruchtbare Verbindung jener Enzyklika zum Konzil, insbesondere zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes.[15] Auch ich möchte hier an die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Enzyklika Papst Pauls VI. und für das gesamte nachfolgende Lehramt der Päpste in sozialen Fragen erinnern. Das Konzil vertiefte, was seit jeher zur Wahrheit des Glaubens gehört, daß nämlich die Kirche, da sie im Dienst Gottes steht, bezüglich der Liebe und der Wahrheit im Dienst der Welt steht. Genau von dieser Sicht ging Papst Paul VI. aus, um uns zwei große Wahrheiten mitzuteilen. Die erste ist, daß die ganze Kirche, wenn sie verkündet, Eucharistie feiert und in der Liebe wirkt, in all ihrem Sein und Handeln darauf ausgerichtet ist, die ganzheitliche Entwicklung des Menschen zu fördern. Sie hat eine öffentliche Rolle, die sich nicht in ihrem Einsatz in der Fürsorge oder der Erziehung erschöpft, sondern all ihre besonderen Kräfte im Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit offenbart, wenn sie sich eines freiheitlichen Regimes bedienen kann. In nicht wenigen Fällen ist diese Freiheit behindert durch Verbote und Verfolgungen oder auch eingeschränkt, wenn die öffentliche Präsenz der Kirche einzig auf ihre karitativen Aktivitäten begrenzt wird. Die zweite Wahrheit ist, daß die echte Entwicklung des Menschen einheitlich die Gesamtheit der Person in all ihren Dimensionen betrifft.[16] Ohne die Aussicht auf ein ewiges Leben fehlt dem menschlichen Fortschritt in dieser Welt der große Atem. Wenn er innerhalb der Geschichte eingeschlossen bleibt, ist er der Gefahr ausgesetzt, sich auf eine bloße Zunahme des Besitztums zu beschränken; so verliert die Menschheit den Mut, für die höheren Güter aufnahmebereit zu sein, für die großen und selbstlosen Initiativen, zu denen die universale Nächstenliebe drängt. Der Mensch entwickelt sich nicht bloß mit den eigenen Kräften, noch kann die Entwicklung ihm einfach von außen gegeben werden. Im Laufe der Geschichte hat man oft gemeint, die Schaffung von Institutionen genüge, um der Menschheit die Erfüllung ihres Rechtes auf Entwicklung zu gewährleisten. Leider hat man in solche Institutionen ein übertriebenes Vertrauen gesetzt, so als könnten sie das ersehnte Ziel automatisch erlangen. In Wirklichkeit reichen die Institutionen allein nicht aus, denn die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist vor allem Berufung und verlangt folglich von allen eine freie und solidarische Übernahme von Verantwortung. Eine solche Entwicklung erfordert außerdem eine transzendente Sicht der Person, sie braucht Gott: Ohne ihn wird die Entwicklung entweder verweigert oder einzig der Hand des Menschen anvertraut, der in die Anmaßung der Selbst-Erlösung fällt und schließlich eine entmenschlichte Entwicklung fördert. Im übrigen gestattet nur die Begegnung mit Gott, nicht »im anderen immer nur den anderen zu sehen«,[17] sondern in ihm das göttliche Bild zu erkennen und so dahin zu gelangen, wirklich den anderen zu entdecken und eine Liebe reifen zu lassen, die »Sorge um den anderen und für den anderen«[18] wird.

12. Die Verbindung zwischen Populorum progressio und dem Zweiten Vatikanischen Konzil stellt nicht etwa einen Bruch zwischen dem Lehramt Papst Pauls VI. in sozialen Fragen und dem seiner Vorgänger auf dem Stuhl Petri dar, denn das Konzil ist eine Vertiefung dieser Lehre in der Kontinuität des Lebens der Kirche.[19] In diesem Sinn tragen gewisse abstrakte Unterteilungen der modernen Soziallehre der Kirche, die auf die sozialen Aussagen der Päpste ihr fremde Kategorien anwenden, nicht zur Klärung bei. Es gibt nicht zwei Typologien von Soziallehre, eine vorkonziliare und eine nachkonziliare, die sich voneinander unterscheiden, sondern eine einzige kohärente und zugleich stets neue Lehre.[20] Es ist richtig, die Besonderheiten der einen oder der anderen Enzyklika, der Lehre des einen oder des anderen Papstes hervorzuheben, man darf dabei aber niemals die Kohärenz des gesamten Corpus der Lehre aus den Augen verlieren.[21] Kohärenz bedeutet nicht ein Einschließen in ein System, sondern vielmehr dynamische Treue zu einem empfangenen Licht. Die Soziallehre der Kirche beleuchtet die immer neuen Probleme, die auftauchen, mit einem Licht, das sich nicht verändert.[22] Das gewährleistet den sowohl permanent aktuellen als auch geschichtlichen Charakter dieses doktrinellen »Erbes«,[23] das mit seinen spezifischen Merkmalen Teil der stets lebendigen Überlieferung der Kirche ist.[24] Die Soziallehre der Kirche ist auf dem Fundament aufgebaut, das die Apostel den Kirchenvätern übermittelt haben und das dann von den großen christlichen Lehrmeistern aufgenommen und vertieft wurde. Diese Lehre greift letztlich auf den Neuen Menschen zurück, auf den »Letzten Adam«, der »lebendig machender Geist« wurde (1 Kor 15, 45) und Ursprung jener Liebe ist, die »niemals aufhört« (1 Kor 13, 8). Sie ist bezeugt von den Heiligen und von allen, die auf dem Gebiet der Gerechtigkeit und des Friedens ihr Leben für Christus, den Erlöser, hingegeben haben. In ihr kommt die prophetische Aufgabe der Päpste zum Ausdruck, die Kirche Christi apostolisch zu leiten und die jeweils neuen Erfordernisse der Evangelisierung zu erkennen. Aus diesen Gründen ist die in den großen Strom der Überlieferung eingebettete Enzyklika Populorum progressio imstande, uns heute noch etwas zu sagen.

13. Außer ihrer bedeutenden Verbindung mit der ganzen Soziallehre der Kirche ist die Enzyklika Populorum progressio mit dem gesamten Lehramt Papst Pauls VI. und insbesondere mit seinem Lehramt in sozialen Fragen verknüpft. Seine Unterweisungen zu diesem Thema waren durchaus von großer Wichtigkeit: Er betonte die unabdingbare Rolle des Evangeliums für den Aufbau der Gesellschaft im Sinne von Freiheit und Gerechtigkeit, in der geistigen und historischen Perspektive einer von der Liebe geleiteten Zivilisation. Papst Paul VI. erfaßte klar, daß die soziale Frage weltweit geworden war,[25] und sah die innere Entsprechung zwischen dem Drängen auf eine Vereinheitlichung der Menschheit und dem christlichen Ideal einer einzigen, in der allgemeinen Brüderlichkeit solidarischen Familie der Völker. Er bezeichnete die menschlich und christlich verstandene Entwicklung als das Herz der christlichen Soziallehre und stellte die christliche Liebe als die hauptsächliche Kraft im Dienst der Entwicklung dar. Von dem Wunsch bewegt, die Liebe Christi dem heutigen Menschen ganz sichtbar zu machen, ging Papst Paul VI. mit Festigkeit wichtige ethische Fragen an, ohne den Schwächen der Kultur seiner Zeit nachzugeben.

14. Mit dem Apostolischen Schreiben Octogesima adveniens von 1971 thematisierte Papst Paul VI. dann den Sinn der Politik und die Gefahr seitens utopistischer und ideologischer Visionen, die ihre ethische und menschliche Qualität beeinträchtigten. Es handelt sich um Argumente, die mit der Entwicklung eng verbunden sind. Leider treiben die negativen Ideologien fortwährend Blüten. Vor der technokratischen Ideologie, die heute besonders verbreitet ist, hatte Papst Paul VI. bereits gewarnt,[26] wohl wissend, daß es sehr gefährlich ist, den gesamten Entwicklungsprozeß allein der Technik zu überlassen, denn auf diese Weise würde ihm die Orientierung fehlen. Technik, für sich genommen, ist ambivalent. Wenn heute einerseits die Neigung besteht, ihr den besagten Entwicklungsprozeß gänzlich anzuvertrauen, ist andererseits das Aufkommen von Ideologien zu beobachten, welche die Nützlichkeit der Entwicklung überhaupt leugnen, weil sie sie für grundsätzlich anti-menschlich halten und meinen, sie führe zu allgemeinem Verfall. So verurteilt man letztlich nicht nur die verzerrte und ungerechte Weise, in der die Menschen manchmal den Fortschritt orientieren, sondern die wissenschaftlichen Entdeckungen selbst, die hingegen, wenn sie recht genutzt werden, eine Wachstumschance für alle darstellen. Die Vorstellung von einer Welt ohne Entwicklung drückt Mißtrauen gegenüber dem Menschen und gegenüber Gott aus. Es ist also ein schwerer Irrtum, die menschlichen Fähigkeiten zur Kontrolle von Auswüchsen in der Entwicklung geringzuschätzen, oder sogar zu ignorieren, daß der Mensch konstitutiv dem »Mehr-Sein« entgegenstrebt. Den technischen Fortschritt ideologisch zu verabsolutieren oder die Utopie einer zum ursprünglichen Naturzustand zurückgekehrten Menschheit zu erträumen, sind zwei gegensätzliche Weisen, den Fortschritt von der moralischen Bewertung und somit von unserer Verantwortung zu trennen.

15. Zwei weitere Dokumente Papst Pauls VI., die nicht unmittelbar mit der Soziallehre zusammenhängen – die Enzyklika Humanae vitae vom 25. Juli 1968 und das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi vom 8. Dezember 1975 – sind sehr wichtig, um den vollkommen menschlichen Gehalt der von der Kirche vorgeschlagenen Entwicklung zu beschreiben. Es ist also angebracht, auch diese beiden Texte in Verbindung mit Populorum progressio zu lesen.

Die Enzyklika Humanae vitae unterstreicht die zweifache Bedeutung der Sexualität als Vereinigung und als Zeugung und gründet damit die Gesellschaft auf das Fundament des Ehepaares, eines Mannes und einer Frau, die sich gegenseitig annehmen in ihrer Unterschiedenheit und Komplementarität; eines Paares also, das offen ist für das Leben.[27] Es handelt sich nicht um eine bloß individuelle Moral: Humanae vitae zeigt die starken Verbindungen auf, die zwischen der Ethik des Lebens und der Sozialethik bestehen, und hat damit eine lehramtliche Thematik eröffnet, die nach und nach in verschiedenen Dokumenten Gestalt gewonnen hat, zuletzt in der Enzyklika Evangelium vitae Papst Johannes Pauls II.[28] Die Kirche betont mit Nachdruck diesen Zusammenhang zwischen der Ethik des Lebens und der Sozialethik, denn sie weiß: Unmöglich »kann eine Gesellschaft gesicherte Grundlagen haben, die – während sie Werte wie Würde der Person, Gerechtigkeit und Frieden geltend macht – sich von Grund auf widerspricht, wenn sie die verschiedensten Formen von Mißachtung und Verletzung des menschlichen Lebens akzeptiert oder duldet, vor allem, wenn es sich um schwaches oder ausgegrenztes Leben handelt«.[29]

Das Apostolische Schreiben Evangelii nuntiandi hat seinerseits eine sehr enge Beziehung zur Entwicklung, denn »die Evangelisierung wäre nicht vollkommen«, schrieb Papst Paul VI., »wenn sie nicht dem Umstand Rechnung tragen würde, daß sich im Lauf der Zeit das Evangelium und das konkrete, persönliche und gemeinschaftliche Leben des Menschen gegenseitig fordern«.[30] »Zwischen Evangelisierung und menschlicher Förderung – Entwicklung und Befreiung – bestehen in der Tat enge Verbindungen«:[31] Von dieser Kenntnis ausgehend, stellte Papst Paul VI. die Beziehung zwischen der Verkündigung Christi und der Förderung des Menschen in der Gesellschaft klar heraus. Das Zeugnis für die Liebe Christi durch Werke der Gerechtigkeit, des Friedens und der Entwicklung gehört zur Evangelisierung, denn dem uns in Liebe zugewandten Jesus Christus liegt der ganze Mensch am Herzen. Auf diese wichtigen Lehren gründet sich der missionarische Aspekt[32] der Soziallehre der Kirche als wesentliches Element der Evangelisierung.[33] Die Soziallehre der Kirche ist Glaubensverkündigung und Glaubenszeugnis. Sie ist Instrument und unverzichtbarer Ort der Erziehung zum Glauben.

16. In der Enzyklika Populorum progressio wollte Papst Paul VI. uns vor allem sagen, daß der Fortschritt in seinem Ursprung und seinem Wesen nach eine Berufung ist: »Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln; denn das ganze Leben ist Berufung«.[34] Genau dieses Faktum rechtfertigt das Eingreifen der Kirche in den Problemkomplex der Entwicklung. Wenn es nur um technische Aspekte des menschlichen Lebens ginge und der Mensch weder den Sinn seines Voranschreitens in der Geschichte gemeinsam mit seinen Mitmenschen, noch die Zielbestimmung dieses Weges beachten würde, dann hätte die Kirche kein Recht, über diese Dinge zu sprechen. Papst Paul VI. war sich – wie schon sein Vorgänger Papst Leo XIII. in der Enzyklika Rerum novarum[35] – bewußt, eine seinem Amt eigene Pflicht zu erfüllen, indem er das Licht des Evangeliums auf die sozialen Fragen seiner Zeit warf.[36]

Wenn man sagt, daß die Entwicklung eine Berufung ist, bedeutet das anzuerkennen, daß sie zum einen aus einem transzendenten Ruf hervorgeht und zum andern nicht in der Lage ist, sich selbst ihren letzten Sinn zu geben. Nicht ohne Grund kommt das Wort »Berufung« auch an einer anderen Stelle der Enzyklika vor, wo es heißt: »Nur jener Humanismus also ist der wahre, der sich zum Absoluten hin öffnet, in Dank für eine Berufung, die die richtige Auffassung vom menschlichen Leben schenkt«.[37] Diese Sicht der Entwicklung ist das Herz von Populorum progressio und motiviert alle Reflexionen Papst Pauls VI. über die Freiheit, die Wahrheit und die Liebe in der Entwicklung. Sie ist auch der Hauptgrund, warum diese Enzyklika in unseren Tagen noch aktuell ist.

17. Die Berufung ist ein Appell, der eine freie und verantwortliche Antwort verlangt. Die ganzheitliche menschliche Entwicklung setzt die verantwortliche Freiheit der Person und der Völker voraus: keine Struktur kann diese Entwicklung garantieren, wenn sie die menschliche Verantwortung beiseite läßt oder sich über sie stellt. Die »Messianismen«, reich an »Verheißungen, die doch nur Gaukler einer Traumwelt sind«,[38] gründen ihre eigenen Vorschläge immer auf die Leugnung der transzendenten Dimension der Entwicklung, in der Sicherheit, daß diese ihnen ganz zur Verfügung steht. Diese falsche Sicherheit verwandelt sich in Schwäche, weil sie die Unterjochung des Menschen mit sich bringt, der zu einem Mittel für die Entwicklung herabgewürdigt wird, während die Demut dessen, der eine Berufung annimmt, sich in wahre Autonomie verwandelt, weil sie den Menschen frei macht. Papst Paul VI. bezweifelt nicht, daß Hindernisse und Bedingtheiten die Entwicklung hemmen, aber er ist auch sicher, daß »jeder seines Glückes Schmied, seines Versagens Ursache [ist], wie immer auch die Einflüsse sind, die auf ihn wirken«.[39] Diese Freiheit betrifft die Entwicklung, die wir vor uns haben, aber sie betrifft zugleich auch die Situationen von Unterentwicklung, die nicht ein Ergebnis des Zufalls oder einer geschichtlichen Notwendigkeit sind, sondern von der menschlichen Verantwortung abhängen. Aus diesem Grund bitten »die Völker, die Hunger leiden, … die Völker im Wohlstand dringend um Hilfe«.[40] Auch das ist Berufung, ein von freien Menschen an freie Menschen gerichteter Appell für eine gemeinsame Übernahme von Verantwortung. Papst Paul VI. hatte ein lebendiges Empfinden für die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Strukturen und der Institutionen, aber ebenso deutlich war sein Empfinden für deren eigentliches Wesen als Werkzeuge der menschlichen Freiheit. Nur wenn sie frei ist, kann die Entwicklung ganz menschlich sein; nur in Verhältnissen von verantwortlicher Freiheit kann sie in angemessener Weise wachsen.

18. Neben der Forderung nach Freiheit verlangt die ganzheitliche menschliche Entwicklung als Berufung auch, daß ihre Wahrheit respektiert wird. Die Berufung zum Fortschritt drängt die Menschen, »mehr [zu] handeln, mehr [zu] erkennen, mehr [zu] besitzen, um mehr zu sein«.[41] Doch da stellt sich das Problem: Was bedeutet »mehr sein«? Auf diese Frage antwortet Papst Paul VI., indem er auf das wesentliche Kennzeichen der »wahren Entwicklung« verweist: Sie muß »umfassend sein, sie muß den ganzen Menschen im Auge haben und die gesamte Menschheit«.[42] In der Konkurrenz der verschiedenen Auffassungen vom Menschen, von denen es in der heutigen Gesellschaft noch mehr gibt als zur Zeit Papst Pauls VI., hat die christliche Sichtweise die Besonderheit, den unveräußerlichen Wert des Menschen und den Sinn seines Wachsens zu bekräftigen und zu rechtfertigen. Die christliche Berufung zur Entwicklung hilft, die Förderung aller Menschen und des ganzen Menschen zu verfolgen. Papst Paul VI. schrieb: »Was für uns zählt, ist der Mensch, der einzelne, die Gruppe von Menschen bis zur gesamten Menschheit«.[43] Der christliche Glaube kümmert sich um die Entwicklung, ohne sich auf Privilegien oder auf Machtpositionen und nicht einmal auf die Verdienste der Christen zu verlassen, auch wenn es sie gab und auch heute abgesehen von natürlichen Grenzen gibt.[44] Der Glaube setzt vielmehr einzig auf Christus, auf den jede echte Berufung zur ganzheitlichen menschlichen Entwicklung zurückzuführen ist. Das Evangelium ist grundlegendes Element der Entwicklung, denn darin macht Christus »in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund«.[45] Von ihrem Herrn belehrt, erforscht die Kirche die Zeichen der Zeit, deutet sie und bietet der Welt »ihr Ureigenstes: eine umfassende Sicht des Menschen und der Menschheit«.[46] Gerade weil Gott das größte »Ja« zum Menschen sagt,[47] kann der Mensch nicht darauf verzichten, sich der göttlichen Berufung zu öffnen, um die eigene Entwicklung zu verwirklichen. Die Wahrheit der Entwicklung besteht in ihrer Ganzheit: Wenn die Entwicklung nicht den ganzen Menschen und jeden Menschen betrifft, ist sie keine wahre Entwicklung. Das ist die zentrale Botschaft von Populorum progressio, die heute und immer gilt. Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen auf der natürlichen Ebene als Antwort auf eine Berufung durch den Schöpfergott[48] erfordert ihre Verwirklichung in einem »Humanismus jenseitiger … Art, der [dem Menschen] eine umgreifende Vollendung schenkt: das ist das Ziel und der letzte Sinn menschlicher Entwicklung«.[49] Die christliche Berufung zu dieser Entwicklung betrifft also sowohl die natürliche als auch die übernatürliche Ebene; aus diesem Grund gilt: »Wenn Gott in den Schatten gestellt wird, schwindet unsere Fähigkeit, die natürliche Ordnung, ihr Ziel und das ‚Gute‘ zu erkennen, allmählich dahin«.[50]

19. Schließlich verlangt die Auffassung von der Entwicklung als Berufung, daß in ihr die Liebe im Zentrum steht. Papst Paul VI. stellte in der Enzyklika Populorum progressio fest, daß die Ursachen der Unterentwicklung nicht in erster Linie materieller Art sind. Er forderte uns auf, sie in anderen Dimensionen des Menschen zu suchen. Vor allem im Willen, der oft die Pflichten der Solidarität mißachtet. An zweiter Stelle im Denken, das den Willen nicht immer in rechter Weise zu orientieren weiß. Zu begleiten wäre die Entwicklung daher durch »weise Menschen mit tiefen Gedanken, die nach einem neuen Humanismus Ausschau halten, der den Menschen von heute sich selbst finden läßt«.[51] Aber das ist nicht alles. Die Unterentwicklung hat eine Ursache, die noch wichtiger ist als die Unzulänglichkeit im Denken: Es ist das »Fehlen des brüderlichen Geistes unter den Menschen und unter den Völkern«.[52] Können die Menschen eine solche Brüderlichkeit jemals aus eigenem Antrieb erreichen? Die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern. Die Vernunft für sich allein ist imstande, die Gleichheit unter den Menschen zu begreifen und ein bürgerliches Zusammenleben herzustellen, aber es gelingt ihr nicht, Brüderlichkeit zu schaffen. Diese hat ihren Ursprung in einer transzendenten Berufung durch Gott den Vater, der uns zuerst geliebt hat und uns durch den Sohn lehrt, was geschwisterliche Liebe ist. In seiner Darstellung der verschiedenen Ebenen des Entwicklungsprozesses des Menschen stellte Papst Paul VI., nachdem er den Glauben erwähnt hatte, an die Spitze »die Einheit in der Liebe Christi, der alle gerufen hat, als Kinder am Leben des lebendigen Gottes teilzunehmen, des Vaters aller Menschen«.[53]

20. Diese von Populorum progressio eröffneten Perspektiven bleiben grundlegend, um unserem Einsatz für die Entwicklung der Völker Schwung und Orientierung zu verleihen. Die Enzyklika unterstreicht außerdem immer wieder die Dringlichkeit von Reformen[54] und ruft dann auf, angesichts der großen Probleme der Ungerechtigkeit in der Entwicklung der Völker mutig und ohne Zögern zu handeln. Auch die Liebe in der Wahrheit schreibt diese Dringlichkeit vor. Die Liebe Christi ist es, die uns drängt: »caritas Christi urget nos« (2 Kor 5, 14). Die Dringlichkeit liegt nicht nur in den Gegebenheiten, sie ergibt sich nicht nur daraus, daß die Ereignisse und Probleme sich überstürzen, sondern auch aus der ausgesetzten Prämie: die Verwirklichung einer echten Brüderlichkeit. Dieses Ziel hat eine solche Bedeutung, daß es unsere Aufgeschlossenheit erfordert, damit wir es zutiefst begreifen und uns konkret und »von Herzen« dafür engagieren, daß die aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse zu wahrhaft menschlichen Ergebnissen führen.

 

ZWEITES KAPITEL

DIE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN IN UNSERER ZEIT

21. Papst Paul VI. hatte eine differenzierte Sicht der Entwicklung. Mit dem Begriff »Entwicklung« wollte er das Ziel anzeigen, den Völkern vor allem zu einer Überwindung von Hunger, Elend, endemischen Krankheiten und Analphabetismus zu verhelfen. Das bedeutete vom ökonomischen Gesichtspunkt aus ihre aktive Teilnahme am internationalen Wirtschaftsprozeß unter paritätischen Bedingungen; vom sozialen Gesichtspunkt aus ihre Entwicklung zu gebildeten und solidarischen Gesellschaften; vom politischen Gesichtspunkt aus die Konsolidierung demokratischer Regime, die imstande sind, Freiheit und Frieden zu sichern. Während wir nun nach vielen Jahren mit Besorgnis auf die Entwicklungen und auf die Perspektiven der Krisen schauen, die in diesen Zeiten einander folgen, fragen wir uns, wie weit die Erwartungen Papst Pauls VI. von dem in den letzten Jahrzehnten angewendeten Entwicklungsmodell befriedigt worden sind. Wir erkennen so, daß die Befürchtungen der Kirche bezüglich der Fähigkeiten des rein technisch orientierten Menschen, sich realistische Ziele zu setzen und die zur Verfügung stehenden Mittel in angemessener Weise zu handhaben, begründet waren. Der Gewinn ist nützlich, wenn er in seiner Eigenschaft als Mittel einem Zweck zugeordnet ist, welcher der Art und Weise seiner Erlangung ebenso wie der seiner Verwendung einen Sinn verleiht. Die ausschließliche Ausrichtung auf Gewinn läuft, wenn dieser auf ungute Weise erzielt wird und sein Endzweck nicht das Gemeinwohl ist, Gefahr, Vermögen zu zerstören und Armut zu schaffen. Die von Papst Paul VI. herbeigewünschte wirtschaftliche Entwicklung sollte so geartet sein, daß sie ein reales, auf alle ausdehnbares und konkret nachhaltiges Wachstum hervorruft. Es trifft zu, daß die Entwicklung ein positiver Faktor war und weiterhin ist, der Milliarden von Menschen aus dem Elend befreit und in letzter Zeit vielen Ländern die Möglichkeit gegeben hat, wirksame Partner in der internationalen Politik zu werden. Man muß jedoch zugeben, daß ebendiese wirtschaftliche Entwicklung durch Verzerrungen und dramatische Probleme belastet war und weiterhin ist, die durch die augenblickliche Krisensituation noch mehr in den Vordergrund treten. Diese stellt uns unaufschiebbar vor Entscheidungen, die zunehmend die Bestimmung des Menschen selbst betreffen, der im übrigen nicht von seiner Natur absehen kann. Die auf dem Plan befindlichen technischen Kräfte, die weltweiten Wechselbeziehungen, die schädlichen Auswirkungen einer schlecht eingesetzten und darüber hinaus spekulativen Finanzaktivität auf die Realwirtschaft, die stattlichen, oft nur ausgelösten und dann nicht angemessen geleiteten Migrationsströme, die unkontrollierte Ausbeutung der Erdressourcen – all das veranlaßt uns heute, über die notwendigen Maßnahmen zur Lösung von Problemen nachzudenken, die im Vergleich zu den von Papst Paul VI. unternommenen nicht nur neu sind, sondern auch und vor allem einen entscheidenden Einfluß auf das gegenwärtige und zukünftige Wohl der Menschheit haben. Die Aspekte der Krise und ihrer Lösungen wie auch die einer zukünftigen neuen möglichen Entwicklung sind immer mehr miteinander verbunden, sie bedingen sich gegenseitig, erfordern neue Bemühungen um ein Gesamtverständnis und eine neue humanistische Synthese. Die Kompliziertheit und Schwere der augenblicklichen wirtschaftlichen Krise besorgt uns zu Recht, doch müssen wir mit Realismus, Vertrauen und Hoffnung die neuen Verantwortungen übernehmen, zu denen uns das Szenario einer Welt ruft, die einer tiefgreifenden kulturellen Erneuerung und der Wiederentdeckung von Grundwerten bedarf, auf denen eine bessere Zukunft aufzubauen ist. Die Krise verpflichtet uns, unseren Weg neu zu planen, uns neue Regeln zu geben und neue Einsatzformen zu finden, auf positive Erfahrungen zuzusteuern und die negativen zu verwerfen. So wird die Krise Anlaß zu Unterscheidung und neuer Planung. In dieser eher zuversichtlichen als resignierten Grundhaltung müssen die Schwierigkeiten des gegenwärtigen Augenblicks in Angriff genommen werden.

22. Heute ist der Rahmen der Entwicklung polyzentrisch. Die Akteure und die Ursachen sowohl der Unterentwicklung als auch der Entwicklung sind vielgestaltig, Schuld und Verdienste sind voneinander zu unterscheiden. Diese Gegebenheit müßte dazu drängen, sich von den Ideologien zu befreien, die in oft künstlicher Weise die Realität vereinfachen, und dazu veranlassen, objektiv die menschliche Komplexität der Probleme zu überprüfen. Die Demarkationslinie zwischen reichen und armen Ländern ist nicht mehr so deutlich wie zur Zeit der Enzyklika Populorum progressio; darauf hatte schon Papst Johannes Paul II. hingewiesen.[55] Absolut gesehen, nimmt der weltweite Reichtum zu, doch die Ungleichheiten vergrößern sich. In den reichen Ländern verarmen neue Gesellschaftsklassen, und es entstehen neue Formen der Armut. In ärmeren Regionen erfreuen sich einige Gruppen einer Art verschwenderischer und konsumorientierter Überentwicklung, die in unannehmbarem Kontrast zu anhaltenden Situationen entmenschlichenden Elends steht. »Der Skandal schreiender Ungerechtigkeit«[56] hält an. Korruption und Illegalität gibt es leider im Verhalten wirtschaftlicher und politischer Vertreter der alten und neuen reichen Länder ebenso wie in den armen Ländern selbst. Manchmal sind es große transnationale Unternehmen oder auch lokale Produktionsgruppen, welche die Menschenrechte der Arbeiter nicht respektieren. Die internationalen Hilfen sind oft durch Verantwortungslosigkeiten sowohl in der Kette der Geber als auch in der der Nutznießer zweckentfremdet worden. Auch im Bereich der nicht materiellen oder der kulturellen Ursachen der Entwicklung bzw. der Unterentwicklung können wir die gleiche Aufteilung der Verantwortung finden. Es gibt übertriebene Formen des Wissensschutzes seitens der reichen Länder durch eine zu strenge Anwendung des Rechtes auf geistiges Eigentum, speziell im medizinischen Bereich. Zugleich bestehen in einigen armen Ländern kulturelle Leitbilder und gesellschaftliche Verhaltensnormen fort, die den Entwicklungsprozeß bremsen.

23. Viele Regionen der Erde haben sich heute, wenn auch auf problematische und nicht homogene Weise, fortentwickelt und sind in den Kreis der großen Mächte eingetreten, die dazu bestimmt sind, in Zukunft wichtige Rollen zu spielen. Es muß jedoch unterstrichen werden, daß ein Fortschritt allein unter wirtschaftlichem und technologischem Gesichtspunkt nicht genügt. Es ist notwendig, daß die Entwicklung vor allem echt und ganzheitlich ist. Das Heraustreten aus dem wirtschaftlichen Entwicklungsrückstand, ein an sich positives Faktum, löst nicht die komplexe Problematik der Förderung des Menschen: weder für die unmittelbar von diesem Fortschritt selbst betroffenen Länder, noch für die wirtschaftlich bereits entwickelten, und auch nicht für die noch armen Länder, die nicht nur unter den alten Formen der Ausbeutung, sondern auch unter den negativen Konsequenzen eines durch Verzerrungen und Unausgeglichenheiten gekennzeichneten Wachstums leiden können.

Nach dem Zusammenbruch der wirtschaftlichen und politischen Systeme der kommunistischen Länder Osteuropas und dem Ende der sogenannten „gegnerischen Blöcke“ wäre ein umfassendes Überdenken der Entwicklung nötig gewesen. Das hatte Papst Johannes Paul II. gefordert, der 1987 die Existenz dieser „Blöcke“ als eine der Hauptursachen der Unterentwicklung ausgewiesen hatte,[57] insofern die Politik der Wirtschaft und der Kultur Geldmittel entzog und die Ideologie die Freiheit behinderte. Im Jahr 1991, nach den Ereignissen von 1989, forderte er auch, daß dem Ende der „Blöcke“ eine globale Neuplanung der Entwicklung entsprechen müsse, und zwar nicht nur in jenen Ländern, sondern auch im Westen und in jenen Teilen der Welt, die sich im Stadium der Entwicklung befanden.[58] Das ist nur zum Teil geschehen und bleibt weiter eine echte Verpflichtung, der Genüge getan werden muß, indem man vielleicht gerade aus den zur Überwindung der aktuellen wirtschaftlichen Probleme notwendigen Entscheidungen Nutzen zieht.

24. Obwohl man angesichts des schon fortgeschrittenen Prozesses der Sozialisierung von einer weltweit gewordenen sozialen Frage sprechen konnte, war die Welt, die Papst Paul VI. vor sich hatte, noch viel weniger zusammengewachsen als die heutige. Wirtschaftliche Aktivität und politische Tätigkeit spielten sich großenteils im selben räumlichen Bereich ab und konnten sich so aufeinander verlassen. Die produktive Tätigkeit geschah vornehmlich innerhalb der nationalen Grenzen, und die finanziellen Investitionen hatten eine eher begrenzte Zirkulation im Ausland, so daß die Politik vieler Staaten noch die Prioritäten der Wirtschaft festsetzen und mit den ihr noch zur Verfügung stehenden Mitteln deren Fortgang in gewisser Weise regeln konnte. Aus diesem Grund schrieb Populorum progressio der »staatlichen Gewalt«[59] eine zentrale, wenn auch nicht ausschließliche Aufgabe zu.

In unserer Zeit sieht sich der Staat mit der Situation konfrontiert, sich mit den Beschränkungen auseinandersetzen zu müssen, die der neue internationale ökonomisch-kommerzielle und finanzielle Kontext seiner Souveränität in den Weg legt – ein Kontext, der sich auch durch eine zunehmende Mobilität des Finanzkapitals und der materiellen wie nicht materiellen Produktionsmittel auszeichnet. Dieser neue Kontext hat die politische Macht der Staaten verändert.

Heute – auch unter dem Eindruck der Lektion, die uns die augenblickliche Wirtschaftskrise erteilt, in der die staatliche Gewalt unmittelbar damit beschäftigt ist, Irrtümer und Mißwirtschaft zu korrigieren – scheint eine neue Wertbestimmung der Rolle und der Macht der Staaten realistischer; beides muß klug neu bedacht und abgeschätzt werden, so daß die Staaten wieder imstande sind – auch durch neue Modalitäten der Ausübung –, sich den Herausforderungen der heutigen Welt zu stellen. Mit einer besser ausgewogenen Rolle der staatlichen Gewalt kann man davon ausgehen, daß sich jene neuen Formen der Teilnahme an der nationalen und internationalen Politik stärken, die sich durch die Tätigkeit der in der Zivilgesellschaft arbeitenden Organisationen verwirklichen. Es ist wünschenswert, daß in dieser Richtung eine tiefer empfundene Aufmerksamkeit und Anteilnahme der Bürger an der Res publica wachse.

25. Vom sozialen Gesichtspunkt aus haben die Schutz- und Fürsorgeeinrichtungen, die es schon zur Zeit Papst Pauls VI. in vielen Ländern gab, Mühe – und in Zukunft könnte es noch schwieriger werden –, ihre Ziele wirklicher sozialer Gerechtigkeit in einem zutiefst veränderten Kräftespiel zu verfolgen. Der global gewordene Markt hat vor allem bei den reichen Ländern die Suche nach Zonen angetrieben, in die die Produktion zu Niedrigpreisen verlagert werden kann, mit dem Ziel, die Preise vieler Waren zu senken, die Kaufkraft zu steigern und somit die auf vermehrtem Konsum basierenden Wachstumsraten für den eigenen internen Markt zu erhöhen. Folglich hat der Markt neue Formen des Wettstreits unter den Staaten angeregt, die darauf abzielen, mit verschiedenen Mitteln – darunter günstige Steuersätze und die Deregulierung der Arbeitswelt – Produktionszentren ausländischer Unternehmen anzuziehen. Diese Prozesse haben dazu geführt, daß die Suche nach größeren Wettbewerbsvorteilen auf dem Weltmarkt mit einer Reduzierung der Netze der sozialen Sicherheit bezahlt wurde, was die Rechte der Arbeiter, die fundamentalen Menschenrechte und die in den traditionellen Formen des Sozialstaates verwirklichte Solidarität in ernste Gefahr bringt. Die Systeme der sozialen Sicherheit können die Fähigkeit verlieren, ihre Aufgabe zu erfüllen, und zwar nicht nur in den armen Ländern, sondern auch in den Schwellenländern und in den seit langem entwickelten Ländern. Hier kann die Haushaltspolitik mit Streichungen in den Sozialausgaben, die häufig auch von den internationalen Finanzinstituten angeregt werden, die Bürger machtlos neuen und alten Gefahren aussetzen; diese Machtlosigkeit wird durch das Fehlen eines wirksamen Schutzes durch die Arbeitnehmervereinigungen noch erhöht. Die Gesamtheit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen bewirkt, daß die Gewerkschaftsorganisationen bei der Ausübung ihrer Aufgabe, die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten, auf größere Schwierigkeiten stoßen, auch weil die Regierungen aus Gründen des wirtschaftlichen Nutzens oft die gewerkschaftlichen Freiheiten oder die Verhandlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften selbst einschränken. So haben die traditionellen Netze der Solidarität wachsende Hindernisse zu überwinden. Der Vorschlag seitens der Soziallehre der Kirche – angefangen von der Enzyklika Rerum novarum[60] –, Arbeitnehmervereinigungen zur Verteidigung der eigenen Rechte ins Leben zu rufen, sollte darum heute noch mehr nachgekommen werden als früher, indem man vor allem eine sofortige und weitblickende Antwort auf die Dringlichkeit gibt, neue Formen des Zusammenwirkens nicht nur auf lokaler, sondern auch auf internationaler Ebene einzuführen.

Die Arbeitsmobilität ist in Verbindung mit der verbreiteten Deregulierung ein wichtiges Phänomen nicht ohne positive Aspekte gewesen, denn sie ist imstande, die Produktion von neuem Vermögen und den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen anzuregen. Wenn jedoch die Unsicherheit bezüglich der Arbeitsbedingungen infolge von Prozessen der Mobilität und der Deregulierung um sich greift, bilden sich Formen psychologischer Instabilität aus, Schwierigkeiten, eigene konsequente Lebensplanungen zu entwickeln, auch im Hinblick auf die Ehe. In der Folge ergeben sich Situationen nicht nur sozialer Kräftevergeudung, sondern auch menschlichen Niedergangs. Vergleicht man dies mit dem, was in der Industriegesellschaft der Vergangenheit geschah, so provoziert die Arbeitslosigkeit heute neue Aspekte wirtschaftlicher Bedeutungslosigkeit, und die augenblickliche Krise kann die Situation nur noch verschlechtern. Der langzeitige Ausschluß von der Arbeit oder die längere Abhängigkeit von öffentlicher oder privater Hilfe untergraben die Freiheit und die Kreativität der Person sowie ihre familiären und gesellschaftlichen Beziehungen, was schwere Leiden auf psychologischer und spiritueller Ebene mit sich bringt. Allen, besonders den Regierenden, die damit beschäftigt sind, den Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen der Welt ein erneuertes Profil zu geben, möchte ich in Erinnerung rufen, daß das erste zu schützende und zu nutzende Kapital der Mensch ist, die Person in ihrer Ganzheit – »ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft«.[61]

26. Auf kultureller Ebene ist der Unterschied im Vergleich zur Zeit Papst Pauls VI. noch markanter. Damals waren die Kulturen ziemlich gut umschrieben und hatten größere Chancen, sich vor Versuchen kultureller Homogenisierung zu schützen. Heute haben die Möglichkeiten der Wechselwirkung zwischen den Kulturen beträchtlich zugenommen und geben Raum für neue Perspektiven des interkulturellen Dialogs – eines Dialogs, der, um wirkungsvoll zu sein, von den verschiedenen Gesprächspartnern als Ausgangspunkt das tiefe Bewußtsein ihrer spezifischen Identität verlangt. Man darf dabei allerdings nicht außer Acht lassen, daß die zunehmende Kommerzialisierung des Kulturaustauschs heute eine zweifache Gefahr begünstigt. An erster Stelle ist ein häufig unkritisch angenommener kultureller Eklektizismus zu beobachten: Die Kulturen werden einfach nebeneinander gestellt und als im wesentlichen gleichwertig und untereinander austauschbar betrachtet. Das fördert das Abgleiten in einen Relativismus, der dem wahren interkulturellen Dialog wenig hilfreich ist; auf gesellschaftlicher Ebene bewirkt der kulturelle Relativismus ein getrenntes Nebeneinanderher-Leben der Kulturgruppen ohne echten Dialog und folglich ohne wirkliche Integration. An zweiter Stelle existiert die entgegengesetzte Gefahr, die in der kulturellen Verflachung und der Vereinheitlichung der Verhaltensweisen und der Lebensstile besteht. Auf diese Weise geht die tiefe Bedeutung der Kultur der verschiedenen Nationen und der Traditionen der verschiedenen Völker verloren, in denen der Mensch sich mit den Grundfragen der Existenz auseinandersetzt.[62] Eklektizismus und kulturelle Nivellierung laufen auf die Trennung der Kultur von der menschlichen Natur hinaus. So können die Kulturen ihr Maß nicht mehr in einer Natur finden, die über sie hinausgeht,[63] und reduzieren den Menschen schließlich auf ein bloßes kulturelles Phänomen. Wenn das geschieht, gerät die Menschheit in neue Gefahren der Hörigkeit und der Manipulation.

27. In vielen armen Ländern hält als Folge der Nahrungsmittelknappheit die extreme Unsicherheit des Lebens an und läuft Gefahr, sich noch zu verschärfen: Der Hunger rafft noch zahllose Opfer unter den vielen Menschen gleich dem »Lazarus« hinweg, denen es nicht gestattet ist, mit dem Reichen an derselben Tafel zu sitzen – wie Papst Paul VI. es gewünscht hatte.[64] Den Hungrigen zu essen geben (vgl. Mt 25, 35.37.42) ist ein ethischer Imperativ für die Weltkirche, die den Lehren ihres Gründers Jesus Christus über Solidarität und Teilen entspricht. Den Hunger in der Welt zu beseitigen, ist darüber hinaus in der Ära der Globalisierung auch ein Ziel geworden, das notwendigerweise verfolgt werden muß, um den Frieden und die Stabilität auf der Erde zu bewahren. Der Hunger hängt weniger von einem materiellen Mangel ab, als vielmehr von einem Mangel an gesellschaftlichen Ressourcen, deren wichtigste institutioneller Natur ist. Das heißt, es fehlt eine Ordnung wirtschaftlicher Institutionen, die in der Lage sind, sowohl einen der richtigen Ernährung angemessenen regulären Zugang zu Wasser und Nahrungsmitteln zu garantieren, als auch die Engpässe zu bewältigen, die mit den Grundbedürfnissen und dem Notstand im Fall echter Nahrungsmittelkrisen verbunden sind – Krisen, die natürliche Ursachen haben können oder auch durch nationale und internationale politische Verantwortungslosigkeit hervorgerufen werden. Das Problem der Unsicherheit auf dem Gebiet der Ernährung muß in einer langfristigen Perspektive in Angriff genommen werden, indem man die strukturellen Ursachen, die sie hervorrufen, beseitigt und die landwirtschaftliche Entwicklung der ärmsten Länder fördert. Dies kann geschehen durch Investitionen in die ländliche Infrastruktur, in Bewässerungssysteme, in Transportwesen, in die Organisation von Märkten, in die Bildung und Verbreitung von geeigneten landwirtschaftlichen Techniken – also durch Investitionen, die geeignet sind, die menschlichen, natürlichen und sozioökonomischen Ressourcen, die auf lokaler Ebene am zugänglichsten sind, bestmöglich zu nutzen, so daß die Nachhaltigkeit dieser Investitionen auch langfristig gewährleistet ist. All das muß verwirklicht werden, indem man die lokalen Gemeinschaften in die Auswahl des Ackerlandes und die Entscheidungen bezüglich seiner Nutzung mit einbezieht. Aus dieser Sicht könnte es sich als hilfreich erweisen, die neuen Horizonte zu betrachten, die sich durch einen richtigen Einsatz der traditionellen wie auch der innovativen landwirtschaftlichen Produktionstechniken auftun, vorausgesetzt, daß letztere nach angemessener Prüfung als zweckmäßig, umweltfreundlich und für die am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen als  zuträglich erkannt wurden. Gleichzeitig sollte die Frage einer gerechten Agrarreform in den Entwicklungsländern nicht vernachlässigt werden. Das Recht auf Ernährung sowie das auf Wasser spielen eine wichtige Rolle für die Erlangung anderer Rechte, angefangen vor allem mit dem Grundrecht auf Leben. Darum ist es notwendig, daß ein solidarisches Bewußtsein reift, welches die Ernährung und den Zugang zum Wasser als allgemeine Rechte aller Menschen betrachtet, ohne Unterscheidungen und Diskriminierungen.[65] Außerdem ist es wichtig zu verdeutlichen, wie der Weg der Solidarisierung mit den armen Ländern ein Projekt zur Lösung der augenblicklichen weltweiten Krise darstellen kann; Politiker und Verantwortliche internationaler Institutionen haben das in letzter Zeit erfaßt. Indem man durch solidarisch ausgerichtete Finanzierungspläne die armen Länder wirtschaftlich unterstützt, damit sie selber dafür sorgen, die Nachfrage ihrer Bürger nach Konsumgütern und Entwicklung zu befriedigen, kann man nicht nur ein echtes Wirtschaftswachstum erzielen, sondern auch dazu beitragen, die Produktionskapazitäten der reichen Länder zu erhalten, die Gefahr laufen, durch die Krise in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

28. Einer der augenscheinlichsten Aspekte der heutigen Entwicklung ist die Wichtigkeit des Themas der Achtung vor dem Leben, das in keiner Weise von den Fragen bezüglich der Entwicklung der Völker getrennt werden kann. Es handelt sich um einen Aspekt, der in letzter Zeit eine immer größere Bedeutung gewinnt und uns verpflichtet, die Begriffe von Armut[66] und Unterentwicklung auf die Fragen auszudehnen, die mit der Annahme des Lebens verbunden sind, vor allem dort, wo dieses in verschiedener Weise behindert wird.

Nicht nur die Situation der Armut verursacht noch in vielen Regionen hohe Quoten der Kindersterblichkeit, sondern in verschiedenen Teilen der Welt gibt es weiterhin Praktiken der Bevölkerungskontrolle durch die Regierungen, die oft die Empfängnisverhütung verbreiten und sogar so weit gehen, die Abtreibung anzuordnen. In den wirtschaftlich mehr entwickelten Ländern sind die lebensfeindlichen Gesetzgebungen sehr verbreitet und haben bereits die Gewohnheit und die Praxis entscheidend beeinflußt; sie tragen dazu bei, eine geburtenfeindliche Mentalität zu lancieren, die man häufig auch auf andere Staaten zu übertragen sucht, als stelle sie einen kulturellen Fortschritt dar.

Einige Nichtregierungsorganisationen arbeiten aktiv für die Verbreitung der Abtreibung und fördern manchmal in den armen Ländern die Entscheidung für die Praxis der Sterilisierung, auch bei Frauen, die sich der Bedeutung des Eingriffs nicht bewußt sind. Außerdem besteht der begründete Verdacht, daß gelegentlich die Entwicklungshilfe selbst an bestimmte Formen der Gesundheitspolitik geknüpft wird, die de facto die Auferlegung starker Geburtenkontrollen einschließen. Besorgniserregend sind ferner Gesetzgebungen, welche die Euthanasie vorsehen, und ebenso beunruhigend auch der Druck von nationalen und internationalen Gruppen, die deren rechtliche Anerkennung fordern.

Die Offenheit für das Leben steht im Zentrum der wahren Entwicklung. Wenn eine Gesellschaft den Weg der Lebensverweigerung oder -unterdrückung einschlägt, wird sie schließlich nicht mehr die nötigen Motivationen und Energien finden, um sich für das wahre Wohl des Menschen einzusetzen. Wenn der persönliche und gesellschaftliche Sinn für die Annahme eines neuen Lebens verlorengeht, verdorren auch andere, für das gesellschaftliche Leben hilfreiche Formen der Annahme.[67] Die Annahme des Lebens stärkt die moralischen Kräfte und befähigt zu gegenseitiger Hilfe. Wenn die reichen Völker die Offenheit für das Leben pflegen, können sie die Bedürfnisse der armen Völker besser verstehen, die Verwendung ungeheurer wirtschaftlicher und intellektueller Ressourcen zur Befriedigung egoistischer Wünsche bei den eigenen Bürgern vermeiden und statt dessen gute Aktionen im Hinblick auf eine moralisch gesunde und solidarische Produktion fördern, in der Achtung des Grundrechtes jedes Volkes und jedes Menschen auf das Leben.

29. Es gibt noch einen anderen Aspekt des heutigen Lebens, der mit der Entwicklung sehr eng verbunden ist: die Verweigerung des Rechtes auf Religionsfreiheit. Ich beziehe mich nicht nur auf die Kämpfe und Konflikte, die in der Welt noch aus religiösen Gründen ausgefochten werden, auch wenn das Religiöse manchmal nur der Deckmantel für andersartige Gründe ist wie die Gier nach Herrschaft und Reichtum. Tatsächlich wird heute oft im heiligen Namen Gottes getötet, wie mein Vorgänger Papst Johannes Paul II. und ich selbst wiederholt öffentlich betont und mißbilligt haben.[68] Gewalt aller Art bremst die authentische Entwicklung und behindert den Übergang der Völker zu größerem sozioökonomischen und geistigen Wohlbefinden. Das gilt speziell für den Terrorismus mit fundamentalistischem Hintergrund,[69] der Leid, Verwüstung und Tod verursacht, den Dialog zwischen den Nationen blockiert und große Geldmittel von ihrem friedlichen und zivilen Einsatz abzieht. Es muß jedoch hinzugefügt werden, daß außer dem religiösen Fanatismus, der in einigen Bereichen die Ausübung des Rechtes auf Religionsfreiheit verhindert, auch die planmäßige Förderung der religiösen Indifferenz oder des praktischen Atheismus durch viele Länder den Bedürfnissen der Entwicklung der Völker widerspricht, indem sie ihnen spirituelle und humane Reichtümer entzieht. Gott ist der Garant der wahren Entwicklung des Menschen, denn da er ihn nach seinem Bild geschaffen hat, begründet er auch seine transzendente Würde und nährt sein Grundverlangen, »mehr zu sein«. Der Mensch ist nicht etwa ein verlorenes Atom in einem Zufalls-Universum,[70] sondern ein Geschöpf Gottes, das von ihm eine unsterbliche Seele empfangen hat und von Ewigkeit her geliebt worden ist. Wenn der Mensch nur das Ergebnis des Zufalls bzw. der Notwendigkeit wäre oder wenn er seine Bestrebungen auf den begrenzten Horizont der Situationen reduzieren müßte, in denen er lebt, wenn alles allein Geschichte und Kultur wäre und der Mensch nicht eine Natur besäße, die dazu bestimmt ist, sich in einem übernatürlichen Leben selbst zu überschreiten, könnte man von Wachstum oder Evolution sprechen, aber nicht von Entwicklung. Wenn der Staat Formen eines praktischen Atheismus fördert, lehrt oder sogar durchsetzt, entzieht er seinen Bürgern die moralische und geistige Kraft, die für den Einsatz in der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung unentbehrlich ist, und hindert sie, mit neuer Lebendigkeit im eigenen Engagement für eine großherzigere menschliche Antwort auf die göttliche Liebe voranzuschreiten.[71] Es kommt auch vor, daß die wirtschaftlich entwickelten Länder oder die Schwellenländer im Rahmen ihrer kulturellen, kommerziellen und politischen Beziehungen diese herabwürdigende Sicht des Menschen und seiner Bestimmung in die armen Länder exportieren. Das ist der Schaden, den die »Überentwicklung«[72] der echten Entwicklung zufügt, wenn sie von der »moralischen Unterentwicklung«[73] begleitet ist.

30. In dieser Richtung bekommt das Thema der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen eine noch umfassendere Tragweite: Die Wechselbeziehung zwischen ihren vielfältigen Elementen erfordert, daß man sich darum bemüht, die verschiedenen Ebenen des menschlichen Wissens im Hinblick auf die Förderung einer wahren Entwicklung der Völker interagieren zu lassen. Oft wird die Meinung vertreten, die Entwicklung bzw. die entsprechenden sozioökonomischen Maßnahmen verlangten nur ihre Realisierung als Frucht eines gemeinsamen Handelns. Dieses gemeinsame Handeln muß aber orientiert werden, denn »alles soziale Handeln setzt eine Lehre voraus«.[74] Angesichts der Komplexität der Probleme ist es klar, daß die verschiedenen Disziplinen mittels einer geordneten Interdisziplinarität zusammenarbeiten müssen. Die Liebe schließt das Wissen nicht aus, ja, sie verlangt, fördert und belebt es von innen her. Das Wissen ist niemals allein das Werk der Intelligenz. Es kann zwar auf ein Kalkül oder Experiment reduziert werden, wenn es aber Weisheit sein will, die imstande ist, den Menschen im Licht der Grundprinzipien und seiner letzten Ziele zu orientieren, dann muß sie mit dem »Salz« der Liebe »gewürzt« sein. Das Tun ist blind ohne das Wissen, und das Wissen ist steril ohne die Liebe. Denn »der wahre Liebende [ist] erfinderisch im Entdecken von Ursachen des Elends, im Finden der Mittel, es zu überwinden und zu beseitigen«.[75] Gegenüber den vor uns liegenden Phänomenen verlangt die Liebe in der Wahrheit vor allem ein Erkennen und ein Verstehen im Bewußtsein und in der Achtung der spezifischen Kompetenz jeder Ebene des Wissens. Die Liebe ist keine nachträgliche Hinzufügung, gleichsam ein Anhängsel an die von den verschiedenen Disziplinen bereits getane Arbeit, sondern sie steht mit diesen von Anfang an im Dialog. Die Ansprüche der Liebe stehen zu denen der Vernunft nicht im Widerspruch. Das menschliche Wissen ist ungenügend, und die Schlußfolgerungen der Wissenschaften können allein den Weg zur ganzheitlichen Entwicklung des Menschen nicht weisen. Es ist immer nötig, darüber hinaus weiter vorzustoßen – das verlangt die Liebe in der Wahrheit.[76] Darüber hinaus zu gehen bedeutet jedoch niemals, von den Schlüssen der Vernunft abzusehen, noch ihren Ergebnissen zu widersprechen. Intelligenz und Liebe stehen nicht einfach nebeneinander: Es gibt die an Intelligenz reiche Liebe und die von Liebe erfüllte Intelligenz.

31. Das bedeutet, daß die moralischen Bewertungen und die wissenschaftliche Forschung gemeinsam wachsen müssen und daß die Liebe sie in einer harmonischen interdisziplinären Ganzheit, die aus Einheit und Unterschiedenheit besteht, beseelen muß. Die Soziallehre der Kirche, die »eine wichtige interdisziplinäre Dimension«[77] hat, kann aus dieser Perspektive eine Funktion von außerordentlicher Wirksamkeit erfüllen. Sie gestattet dem Glauben, der Theologie, der Metaphysik und den Wissenschaften, ihren Platz innerhalb einer Zusammenarbeit im Dienst des Menschen zu finden. Vor allem hier realisiert die Soziallehre der Kirche ihre auf der Weisheit beruhende Dimension. Papst Paul VI. hatte deutlich gesehen, wie die Unterentwicklung unter anderem auch dadurch verursacht wird, daß es an Weisheit, an Reflexion, an einem Denken fehlt, das imstande ist, eine richtungweisende Synthese aufzustellen;[78] für sie bedarf es »einer klaren Konzeption auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und geistigem Gebiet«.[79] Die übertriebene Aufteilung des Wissens in Fachbereiche,[80] das Sich-Verschließen der Humanwissenschaften gegenüber der Metaphysik,[81] die Schwierigkeiten im Dialog der Wissenschaften mit der Theologie schaden nicht nur der Entwicklung des Wissens, sondern auch der Entwicklung der Völker, denn in diesen Fällen wird der Blick auf das ganze Wohl des Menschen in den verschiedenen Dimensionen, die es charakterisieren, verstellt. Die »Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs«[82] ist unerläßlich, um alle Elemente der Frage nach der Entwicklung und der Lösung der sozioökonomischen Probleme angemessen abwägen zu können.

32. Die großen Neuheiten, die das Gesamtbild der Entwicklung der Völker heute aufweist, machen in vielen Fällen neue Lösungen erforderlich. Sie müssen unter Beachtung der Eigengesetze jeder Realität und zugleich im Licht einer ganzheitlichen Sicht des Menschen gesucht werden – einer Sicht, welche die verschiedenen Aspekte des Menschen widerspiegelt, wie sie sich dem von der Liebe geläuterten Blick darstellen. Dann wird man einzigartige Übereinstimmungen und konkrete Lösungsmöglichkeiten entdecken, ohne auf irgendeinen fundamentalen Bestandteil des menschlichen Lebens zu verzichten.

Die Würde der Person und die Erfordernisse der Gerechtigkeit verlangen, daß – vor allem heute – die wirtschaftlichen Entscheidungen die Unterschiede im Besitztum nicht in übertriebener und moralisch unhaltbarer Weise vergrößern[83] und daß als Priorität weiterhin das Ziel verfolgt wird, allen Zugang zur Arbeit zu verschaffen und für den Erhalt ihrer Arbeitsmöglichkeit zu sorgen. Recht besehen erfordert das auch die »wirtschaftliche Vernunft«. Die systembedingte Zunahme der Ungleichheit unter Gesellschaftsgruppen innerhalb eines Landes und unter den Bevölkerungen verschiedener Länder bzw. das massive Anwachsen der relativen Armut neigt nicht nur dazu, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu untergraben, und bringt auf diese Weise die Demokratie in Gefahr. Auch auf wirtschaftlicher Ebene wirkt sie sich negativ aus: durch fortschreitende Abtragung des »Gesellschaftskapitals« bzw. durch Untergrabung jener Gesamtheit von Beziehungen, die auf Vertrauen, Zuverlässigkeit und Einhaltung der Regeln gründen und die unverzichtbar sind für jedes bürgerliche Zusammenleben.

Zudem sagt uns die Wirtschaftswissenschaft, daß eine strukturelle Situation der Unsicherheit Verhaltensweisen erzeugt, welche die Produktion hemmen und menschliche Ressourcen verschwenden, insofern der Arbeitnehmer dazu neigt, sich passiv den automatischen Mechanismen zu fügen, anstatt Kreativität zu entwickeln. Auch in diesem Punkt gibt es eine Übereinstimmung zwischen Wirtschaftswissenschaft und moralischer Bewertung. Der menschliche Preis ist immer auch ein wirtschaftlicher Preis, und die wirtschaftlichen Mißstände fordern immer auch einen menschlichen Preis.

Ferner muß daran erinnert werden, daß die Reduzierung der Kulturen auf die technologische Dimension, selbst wenn sie kurzfristig die Erlangung eines Gewinns fördern mag, auf lange Sicht die gegenseitige Bereicherung und die Dynamiken der Zusammenarbeit behindert. Es ist wichtig, zwischen kurzfristigen und langfristigen wirtschaftlichen oder soziologischen Überlegungen zu unterscheiden. Die Senkung des Rechtsschutzniveaus für die Arbeiter oder der Verzicht auf Mechanismen der Umverteilung des Gewinns, damit das Land eine größere internationale Wettbewerbsfähigkeit erlangt, verhindern, daß sich eine langfristige Entwicklung durchsetzen kann. So sollten die Konsequenzen, welche die aktuellen Tendenzen zu einer kurzfristig, bisweilen extrem kurzfristig angelegten Wirtschaft für die Menschen haben, aufmerksam abgewogen werden. Das verlangt »eine neue und vertiefte Reflexion über den Sinn der Wirtschaft und ihrer Ziele«[84] sowie eine tiefgreifende und weitblickende Revision des Entwicklungsmodells, um seine Mißstände und Verzerrungen zu korrigieren. Tatsächlich ist dies ein Erfordernis der ökologischen Gesundheit des Planeten; und vor allem ist es eine Notwendigkeit, die sich aus der kulturellen und moralischen Krise des Menschen ergibt, deren Symptome seit langem in allen Teilen der Welt sichtbar sind.

33. Über vierzig Jahre nach der Enzyklika Populorum progressio ist ihr Grundthema, eben der Fortschritt, nach wie vor ein noch offenes Problem, das sich durch die augenblickliche Wirtschafts- und Finanzkrise verschärft hat und noch dringender geworden ist. Wenn einige Regionen der Erde, die einst durch die Armut belastet waren, bemerkenswerte Änderungen im Sinn eines wirtschaftlichen Wachstums und einer Beteiligung an der Weltproduktion erfahren haben, so leben andere Zonen noch in einer Situation des Elends, die jener zur Zeit Papst Pauls VI. vergleichbar ist, ja, in einigen Fällen kann man sogar von einer Verschlechterung sprechen. Es ist bezeichnend, daß einige Ursachen dieser Situation bereits in Populorum progressio ausgemacht worden waren, wie zum Beispiel die von den wirtschaftlich entwickelten Ländern festgesetzten hohen Grenzzölle, welche die Produkte aus den armen Ländern immer noch daran hindern, auf die Märkte der reichen Länder zu gelangen. Andere Ursachen hingegen, welche die Enzyklika nur angedeutet hatte, sind in der Folge deutlicher hervorgetreten. Das trifft auf die Bewertung des Entkolonisierungsprozesses zu, der damals in vollem Gange war. Papst Paul VI. wünschte sich einen autonomen Verlauf, der sich in Freiheit und Frieden vollziehen sollte. Nach über vierzig Jahren müssen wir eingestehen, wie schwierig dieser Verlauf gewesen ist, sei es aufgrund neuer Formen von Kolonialismus und Abhängigkeit von alten und neuen Hegemonialländern, sei es durch schwerwiegende Verantwortungslosigkeiten innerhalb der Länder selbst, die sich unabhängig gemacht haben.

Die hauptsächliche Neuheit war die Explosion der weltweiten wechselseitigen Abhängigkeit, die inzwischen unter der Bezeichnung »Globalisierung« allgemein bekannt ist. Papst Paul VI. hatte sie teilweise vorausgesehen, doch das Ausmaß und die Heftigkeit, mit der sie sich entwickelt hat, sind erstaunlich. In den wirtschaftlich entwickelten Ländern entstanden, hat dieser Prozeß seiner Natur entsprechend eine Einbeziehung sämtlicher Ökonomien verursacht. Er war der Hauptantrieb für das Heraustreten ganzer Regionen aus der Unterentwicklung und stellt an sich eine große Chance dar. Ohne die Führung der Liebe in der Wahrheit kann dieser weltweite Impuls allerdings dazu beitragen, die Gefahr bisher ungekannter Schäden und neuer Spaltungen in der Menschheitsfamilie heraufzubeschwören. Darum stellen uns die Liebe und die Wahrheit vor einen ganz neuen und kreativen Einsatz, der freilich sehr umfangreich und komplex ist. Es geht darum, die Vernunft auszuweiten und sie fähig zu machen, diese eindrucksvollen neuen Dynamiken zu erkennen und auszurichten, indem man sie im Sinn jener »Kultur der Liebe« beseelt, deren Samen Gott in jedes Volk und in jede Kultur gelegt hat.

 

DRITTES KAPITEL

BRÜDERLICHKEIT, WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG UND ZIVILGESELLSCHAFT

34. Die Liebe in der Wahrheit stellt den Menschen vor die staunenswerte Erfahrung des Geschenks. Die Unentgeltlichkeit ist in seinem Leben in vielerlei Formen gegenwärtig, die aufgrund einer nur produktivistischen und utilitaristischen Sicht des Daseins jedoch oft nicht erkannt werden. Der Mensch ist für das Geschenk geschaffen, das seine transzendente Dimension ausdrückt und umsetzt. Manchmal ist der moderne Mensch fälschlicherweise der Überzeugung, der einzige Urheber seiner selbst, seines Lebens und der Gesellschaft zu sein. Diese Überheblichkeit ist eine Folge des egoistischen Sich-in-sich-selbst-Verschließens und rührt – in Begriffen des Glaubens gesprochen – von der Ursünde her. Die Weisheit der Kirche hat stets vorgeschlagen, die Erbsünde auch bei der Interpretation der sozialen Gegebenheiten und beim Aufbau der Gesellschaft zu beachten: »Zu übersehen, daß der Mensch eine verwundete, zum Bösen geneigte Natur hat, führt zu schlimmen Irrtümern im Bereich der Erziehung, der Politik, des gesellschaftlichen Handelns und der Sittlichkeit«.[85] Zur Aufzählung der Bereiche, in denen sich die schädlichen Auswirkungen der Sünde zeigen, gehört nun schon seit langer Zeit auch jener der Wirtschaft. Auch unsere Zeit liefert uns dafür einen offensichtlichen Beleg. Die Überzeugung, sich selbst zu genügen und in der Lage zu sein, das in der Geschichte gegenwärtige Übel allein durch das eigene Handeln überwinden zu können, hat den Menschen dazu verleitet, das Glück und das Heil in immanenten Formen des materiellen Wohlstands und des sozialen Engagements zu sehen. Weiter hat die Überzeugung, daß die Wirtschaft Autonomie erfordert und keine moralische „Beeinflussung“ zulassen darf, den Menschen dazu gedrängt, das Werkzeug der Wirtschaft sogar auf zerstörerische Weise zu mißbrauchen. Langfristig haben diese Überzeugungen zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Systemen geführt, die die Freiheit der Person und der gesellschaftlichen Gruppen unterdrückt haben und genau aus diesem Grund nicht in der Lage waren, für die Gerechtigkeit zu sorgen, die sie versprochen hatten. Wie ich schon in meiner Enzyklika Spe salvi geschrieben habe, entfernt man auf diese Weise die christliche Hoffnung aus der Geschichte,[86] die jedoch ein kraftvolles Potential im Dienste der umfassenden Entwicklung des Menschen darstellt, die in der Freiheit und in der Gerechtigkeit gesucht wird. Die Hoffnung ermutigt die Vernunft und gibt ihr die Kraft, den Willen zu lenken.[87] Sie ist bereits im Glauben gegenwärtig, von dem sie geradezu geweckt wird. Die Liebe in der Wahrheit nährt sich aus ihr und macht sie zugleich sichtbar. Da die Hoffnung ein völlig unentgeltliches Geschenk Gottes ist, tritt sie als etwas Ungeschuldetes in unser Leben herein, das über jedes Gesetz der Gerechtigkeit hinausgeht. Das Geschenk übertrifft seinem Wesen nach den Verdienst, sein Gesetz ist das Übermaß. Es kommt uns in unserer Seele zuvor als Zeichen der Gegenwart Gottes in uns und seiner Erwartung an uns. Die Wahrheit, die wie die Liebe ein Geschenk ist, ist, so lehrt der heilige Augustinus, größer als wir.[88] Auch die Wahrheit über uns selbst, über unsere eigene Erkenntnis, ist uns zu aller erst „geschenkt“. Denn in jedem Erkenntnisvorgang wird die Wahrheit nicht von uns erzeugt, sondern immer gefunden, oder besser, empfangen. Die Wahrheit kommt wie die Liebe »nicht aus Denken und Wollen, sondern übermächtigt gleichsam den Menschen«.[89]

Da die Liebe in der Wahrheit eine Gabe ist, die alle empfangen, stellt sie eine Kraft dar, die Gemeinschaft stiftet, die die Menschen auf eine Weise vereint, die keine Barrieren und Grenzen kennt. Die Gemeinschaft der Menschen kann von uns selbst gestiftet werden, aber sie wird allein aus eigener Kraft nie eine vollkommen brüderliche Gemeinschaft sein und jede Abgrenzung überwinden, das heißt, eine wirklich universale Gemeinschaft werden: Die Einheit des Menschengeschlechts, eine brüderliche Gemeinschaft jenseits jedweder Teilung, wird aus dem zusammenrufenden Wort Gottes, der die Liebe ist, geboren. Bei der Behandlung dieser entscheidenden Frage müssen wir einerseits präzisieren, daß die Logik des Geschenks die Gerechtigkeit nicht ausschließt oder ihr in einem zweiten Moment und von außen hinzugefügt wird, und andererseits, daß eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung, die wahrhaft menschlich sein will, dem Prinzip der Unentgeltlichkeit als Ausdruck der Brüderlichkeit Raum geben muß.

35. Der Markt ist, wenn gegenseitiges und allgemeines Vertrauen herrscht, die wirtschaftliche Institution, die die Begegnung zwischen den Menschen ermöglicht, welche als Wirtschaftstreibende ihre Beziehungen durch einen Vertrag regeln und die gegeneinander aufrechenbaren Güter und Dienstleistungen austauschen, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen. Der Markt unterliegt den Prinzipien der sogenannten ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Beziehungen des Gebens und Empfangens zwischen gleichwertigen Subjekten regelt. Aber die Soziallehre der Kirche hat stets die Wichtigkeit der distributiven Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit für die Marktwirtschaft selbst betont, nicht nur weil diese in das Netz eines größeren sozialen und politischen Umfelds eingebunden ist, sondern auch aufgrund des Beziehungsgeflechts, in dem sie abläuft. Denn wenn der Markt nur dem Prinzip der Gleichwertigkeit der getauschten Güter überlassen wird, ist er nicht in der Lage, für den sozialen Zusammenhalt zu sorgen, den er jedoch braucht, um gut zu funktionieren. Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen. Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen, und der Vertrauensverlust ist ein schwerer Verlust.

Papst Paul VI. hat in der Enzyklika Populorum progressio richtigerweise die Tatsache unterstrichen, daß allgemein verbreitete gerechte Handlungsweisen für das Wirtschaftssystem selbst einen Vorteil darstellen, da die reichen Länder die ersten Nutznießer des wirtschaftlichen Aufschwungs der armen Länder sind.[90] Dabei handelte es sich nicht nur darum, Fehlfunktionen durch Hilfsleistungen zu korrigieren. Die Armen dürfen nicht als eine »Last«[91] angesehen werden, sondern als eine Ressource, auch unter streng wirtschaftlichem Gesichtspunkt. Es muß jedoch die Sichtweise jener als unrichtig verworfen werden, nach denen die Marktwirtschaft strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen sei, um bestmöglich funktionieren zu können. Es ist im Interesse des Marktes, Emanzipierung zu fördern, aber um dies zu erreichen, darf er sich nicht nur auf sich selbst verlassen, denn er ist nicht in der Lage, von sich aus das zu erreichen, was seine Möglichkeiten übersteigt. Er muß vielmehr auf die moralischen Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese hervorbringen können.

36. Das Wirtschaftsleben kann nicht alle gesellschaftlichen Probleme durch die schlichte Ausbreitung des Geschäftsdenkens überwinden. Es soll auf das Erlangen des Gemeinwohls ausgerichtet werden, für das auch und vor allem die politische Gemeinschaft sorgen muß. Es darf daher nicht vergessen werden, daß die Trennung zwischen der Wirtschaftstätigkeit, der die Aufgabe der Schaffung des Reichtums zukäme, und der Politik, die sich mittels Umverteilung um die Gerechtigkeit zu kümmern habe, schwere Störungen verursacht.

Die Kirche vertritt seit jeher, daß die Wirtschaftstätigkeit nicht als antisozial angesehen werden darf. Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden. Die Gesellschaft muß sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde. Es ist sicher richtig, daß der Markt eine negative Ausrichtung haben kann, nicht weil dies seinem Wesen entspräche, sondern weil eine gewisse Ideologie ihm diese Ausrichtung geben kann. Es darf nicht vergessen werden, daß es den Markt nicht in einer Reinform gibt. Er erhält seine Gestalt durch die kulturellen Gegebenheiten, die ihm eine konkrete Prägung und Orientierung geben. Die Wirtschaft und das Finanzwesen können, insofern sie Mittel sind, tatsächlich schlecht gebraucht werden, wenn der Verantwortliche sich nur von egoistischen Interessen leiten läßt. So können an sich gute Mittel in schadenbringende Mittel verwandelt werden. Doch diese Konsequenzen bringt die verblendete Vernunft der Menschen hervor, nicht die Mittel selbst. Daher muß sich der Appell nicht an das Mittel, sondern an den Menschen richten, an sein moralisches Gewissen und an seine persönliche und soziale Verantwortung.

Die Soziallehre der Kirche ist der Ansicht, daß wahrhaft menschliche Beziehungen in Freundschaft und Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit auch innerhalb der Wirtschaftstätigkeit und nicht nur außerhalb oder »nach« dieser gelebt werden können. Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial. Er gehört zum Tun des Menschen und muß, gerade weil er menschlich ist, nach moralischen Gesichtspunkten strukturiert und institutionalisiert werden.

Vor uns liegt eine große Herausforderung, die von den Problemen der Entwicklung in dieser Zeit der Globalisierung hervorgebracht und durch die Wirtschafts- und Finanzkrise noch weiter erschwert wurde: Wir müssen in unserem Denken und Handeln nicht nur zeigen, daß die traditionellen sozialethischen Prinzipien wie die Transparenz, die Ehrlichkeit und die Verantwortung nicht vernachlässigt oder geschwächt werden dürfen, sondern auch, daß in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen. Das ist ein Erfordernis des Menschen in unserer jetzigen Zeit, aber auch ein Erfordernis des wirtschaftlichen Denkens selbst. Es ist zugleich ein Erfordernis der Liebe und der Wahrheit.

37. Die Soziallehre der Kirche hat immer bekräftigt, daß die Gerechtigkeit alle Phasen der Wirtschaftstätigkeit betrifft, da diese stets mit dem Menschen und mit seinen Bedürfnissen zu tun hat. Die Beschaffung von Ressourcen, die Finanzierung, die Produktion, der Konsum und alle übrigen Phasen haben unvermeidbar moralische Folgen. So hat jede wirtschaftliche Entscheidung eine moralische Konsequenz. All das bestätigt sich auch in den Sozialwissenschaften und in den Tendenzen der heutigen Wirtschaft. Vielleicht war es früher denkbar, der Wirtschaft die Schaffung des Reichtums anzuvertrauen, um dann der Politik die Aufgabe zu übertragen, diesen zu verteilen. Heute erscheint das schwieriger, da die wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht an territoriale Grenzen gebunden sind, während die Autorität der Regierungen weiter vorwiegend örtlich beschränkt ist. Darum müssen die Regeln der Gerechtigkeit von Anfang an beachtet werden, während der wirtschaftliche Prozeß in Gang ist, und nicht mehr danach oder parallel dazu. Darüber hinaus ist es nötig, daß Räume für wirtschaftliche Tätigkeiten geschaffen werden, die von Trägern durchgeführt werden, die ihr Handeln aus freiem Entschluß nach Prinzipien ausrichten, die sich vom reinen Profitstreben unterscheiden, die aber dennoch weiter wirtschaftliche Werte hervorbringen wollen. Die vielen Ausdrucksformen der Wirtschaft, die aus konfessionellen und nicht konfessionellen Initiativen hervorgegangen sind, zeigen, daß das eine konkrete Möglichkeit ist.

In der Zeit der Globalisierung leidet die Wirtschaft an konkurrierenden Modellen, die von sehr unterschiedlichen Kulturen abhängig sind. Die daraus hervorgehenden wirtschaftlich-unternehmerischen Verhaltensweisen finden vorwiegend in der Beachtung der ausgleichenden Gerechtigkeit einen Berührungspunkt. Das Wirtschaftsleben braucht ohne Zweifel Verträge, um den Tausch von einander entsprechenden Werten zu regeln. Ebenso sind jedoch gerechte Gesetze, von der Politik geleitete Mechanismen zur Umverteilung und darüber hinaus Werke, die vom Geist des Schenkens geprägt sind, nötig. Die globalisierte Wirtschaft scheint die erste Logik, jene des vertraglich vereinbarten Gütertausches, zu bevorzugen, aber direkt und indirekt zeigt sie, daß sie auch die anderen beiden Formen braucht, die Logik der Politik und die Logik des Geschenks ohne Gegenleistung.

38. Mein Vorgänger Papst Johannes Paul II. hat auf diese Problematik hingewiesen, als er in der Enzyklika Centesimus annus die Notwendigkeit eines Systems mit drei Subjekten aufzeigte: dem Markt, dem Staat und der Zivilgesellschaft.[92] In der Zivilgesellschaft sah er den geeignetsten Bereich für eine Wirtschaft der Unentgeltlichkeit und der Brüderlichkeit, aber er wollte diese nicht für die anderen beiden Bereiche ausschließen. Heute können wir sagen, daß das Wirtschaftsleben als eine mehrdimensionale Realität verstanden werden muß: In allen muß in unterschiedlichem Umfang und in eigenen Formen der Aspekt der brüderlichen Gegenseitigkeit vorhanden sein. In der Zeit der Globalisierung kann die Wirtschaftstätigkeit nicht auf die Unentgeltlichkeit verzichten, die die Solidarität und das Verantwortungsbewußtsein für die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl in seinen verschiedenen Subjekten und Akteuren verbreitet und nährt. Es handelt sich dabei schließlich um eine konkrete und tiefgründige Form wirtschaftlicher Demokratie. Solidarität bedeutet vor allem, daß sich alle für alle verantwortlich fühlen,[93] und daher kann sie nicht allein dem Staat übertragen werden. Während man früher der Ansicht sein konnte, daß man zuerst für Gerechtigkeit sorgen müsse und daß die Unentgeltlichkeit danach als ein Zusatz hinzukäme, muß man heute festhalten, daß ohne die Unentgeltlichkeit auch die Gerechtigkeit nicht erreicht werden kann. Es bedarf daher eines Marktes, auf dem Unternehmen mit unterschiedlichen Betriebszielen frei und unter gleichen Bedingungen tätig sein können. Neben den gewinnorientierten Privatunternehmen und den verschiedenen Arten von staatlichen Unternehmen sollen auch die nach wechselseitigen und sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände einen Platz finden und tätig sein können. Aus ihrem Zusammentreffen auf dem Markt kann man sich erhoffen, daß es zu einer Art Kreuzung und Vermischung der unternehmerischen Verhaltensweisen kommt und daß in der Folge spürbar auf eine Zivilisierung der Wirtschaft geachtet wird. Liebe in der Wahrheit bedeutet in diesem Fall, daß jenen wirtschaftlichen Initiativen Gestalt und Struktur verliehen wird, die den Gewinn zwar nicht ausschließen, aber über die Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbstzweck hinausgehen wollen.

39. Papst Paul VI. sprach sich in der Enzyklika Populorum progressio für die Schaffung eines Marktwirtschaftsmodells aus, das wenigstens tendenziell alle Völker einschließen kann und nicht nur jene, die über entsprechende Möglichkeiten und Fähigkeiten verfügen. Er verlangte, sich dafür einzusetzen, daß eine für alle menschlichere Welt entstehe, eine Welt, »wo alle geben und empfangen können, ohne daß der Fortschritt der einen ein Hindernis für die Entwicklung der anderen ist«.[94] Damit dehnte er die Forderungen und Ziele der Enzyklika Rerum novarum auf eine universale Ebene aus. Als jene Enzyklika als Antwort auf die industrielle Revolution erschien, setzte sich zum ersten Mal der damals sicher fortschrittliche Gedanke durch, daß der Fortbestand der gesellschaftlichen Ordnung auch eines umverteilenden Eingreifens des Staates bedarf. Heute erweist sich diese Sicht auch abgesehen davon, daß sie durch die Öffnung der Märkte und der gesellschaftlichen Gruppen in Krise geraten ist, als unvollständig und kann die Ansprüche an eine voll und ganz menschliche Wirtschaft nicht erfüllen. Was die Soziallehre der Kirche ausgehend von ihrer Sicht des Menschen und der Gesellschaft immer vertreten hat, ist heute auch aufgrund der Dynamiken erforderlich, die die Globalisierung mit sich bringt.

Wenn die Logik des Marktes und die Logik des Staates mit gegenseitigem Einverständnis auf dem Monopol ihrer jeweiligen Einflußbereiche beharren, gehen langfristig die Solidarität in den Beziehungen zwischen den Bürgern, die Anteilnahme und die Beteiligung sowie die unentgeltliche Tätigkeit verloren. Diese unterscheiden sich vom „Geben, um zu haben“, das die Logik des Tausches ausmacht, und vom „Geben aus Pflicht“, das für die öffentlichen Verhaltensweisen gilt, die durch staatliche Gesetze auferlegt werden. Die Überwindung der Unterentwicklung erfordert ein Eingreifen nicht nur zur Verbesserung der auf Gütertausch beruhenden Transaktionen, nicht nur im Bereich der Leistungen der öffentlichen Hilfseinrichtungen, sondern vor allem eine fortschreitende Offenheit auf weltweiter Ebene für wirtschaftliche Tätigkeiten, die sich durch einen Anteil von Unentgeltlichkeit und Gemeinschaft auszeichnen. Die exklusive Kombination Markt-Staat zersetzt den Gemeinschaftssinn. Die Formen solidarischen Wirtschaftslebens hingegen, die ihren fruchtbarsten Boden im Bereich der Zivilgesellschaft finden, ohne sich auf diese zu beschränken, schaffen Solidarität. Es gibt keinen Markt der Unentgeltlichkeit, und eine Haltung der Unentgeltlichkeit kann nicht per Gesetz verordnet werden. Dennoch brauchen sowohl der Markt als auch die Politik Menschen, die zur Hingabe aneinander bereit sind.

40. Die derzeitigen internationalen wirtschaftlichen Dynamiken mit ihren schwerwiegenden Verzerrungen und Mißständen erfordern, daß sich auch das Verständnis des Unternehmens tiefgreifend verändern muß. Alte Formen der Unternehmertätigkeit gehen ihrem Ende entgegen, doch am Horizont werden neue vielversprechende Formen sichtbar. Eine der größten Gefahren ist sicher die, daß das Unternehmen fast ausschließlich gegenüber den Investoren verantwortlich ist und so letztendlich an Bedeutung für die Gesellschaft einbüßt. Aufgrund der wachsenden Größe und des zunehmenden Kapitalbedarfs hängen immer weniger Unternehmen von einem gleichbleibenden Unternehmer ab, der sich langfristig – und nicht nur vorübergehend – für die Tätigkeit und die Ergebnisse seines Unternehmens verantwortlich fühlt, und immer seltener hängen Unternehmen nur von einer Region ab. Außerdem kann die sogenannte Auslagerung der Produktionstätigkeit das Verantwortungsbewußtsein des Unternehmers gegenüber Interessensträgern wie den Arbeitnehmern, den Zulieferern, den Konsumenten, der Umwelt und dem größeren gesellschaftlichen Umfeld zugunsten der Aktionäre verringern, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind und daher außerordentlich beweglich sind. Der internationale Kapitalmarkt bietet heute tatsächlich einen großen Handlungsspielraum. Zugleich wächst aber auch das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer weiterreichenden „sozialen Verantwortung“ des Unternehmens. Auch wenn nicht alle ethischen Konzepte, die heute die Debatte über die soziale Verantwortung des Unternehmens bestimmen, aus der Sicht der Soziallehre der Kirche annehmbar sind, so ist es doch eine Tatsache, daß sich eine Grundüberzeugung ausbreitet, nach der die Führung des Unternehmens nicht allein auf die Interessen der Eigentümer achten darf, sondern auch auf die von allen anderen Personenkategorien eingehen muß, die zum Leben des Unternehmens beitragen: die Arbeitnehmer, die Kunden, die Zulieferer der verschiedenen Produktionselemente, die entsprechende Gemeinde. In den vergangenen Jahren war eine Zunahme einer kosmopolitischen Klasse von Managern zu beobachten, die sich oft nur nach den Anweisungen der Hauptaktionäre richten, bei denen es sich normalerweise um anonyme Fonds handelt, die de facto den Verdienst der Manager bestimmen. Auch heute gibt es jedoch viele Manager, die sich dank weitblickender Analysen immer mehr der tiefgreifenden Verbindungen bewußt werden, die ihr Unternehmen mit der Region oder den Regionen, in denen es arbeitet, hat. Papst Paul VI. lud dazu ein, ernsthaft zu bedenken, welchen Schaden es dem eigenen Land zufügen kann, wenn Kapital nur zum persönlichen Vorteil ins Ausland geschafft wird.[95] Papst Johannes Paul II. merkte an, daß eine Investition neben der wirtschaftlichen immer auch eine moralische Bedeutung hat.[96] Es muß betont werden, daß all das auch heute gilt, auch wenn der Kapitalmarkt stark liberalisiert worden ist und die moderne technologische Denkweise dazu verleiten kann, in einer Investition nur einen technischen Vorgang und nicht auch eine menschliche und ethische Handlung zu sehen. Es gibt keinen Grund zu leugnen, daß ein gewisses Kapital Gutes bewirken kann, wenn es im Ausland und nicht in der Heimat investiert wird. Es müssen aber die aus Gerechtigkeit bestehenden Ansprüche gewährt sein, wobei auch zu beachten ist, wie dieses Kapital entstanden ist und welchen Schaden die Menschen davontragen, wenn es nicht an den Orten eingesetzt wird, wo es geschaffen wurde.[97] Man muß vermeiden, daß die finanziellen Ressourcen zur Spekulation verwendet werden und man der Versuchung nachgibt, nur einen kurzfristigen Gewinn zu suchen und nicht auch den langfristigen Bestand des Unternehmens, den Nutzen der Investition für die Realwirtschaft und die Sorge für die angemessene und gelegene Förderung von wirtschaftlichen Initiativen in Entwicklungsländern. Ebenso gibt es keinen Grund zu leugnen, daß eine Verlagerung ins Ausland, wenn sie mit Investitionen und Ausbildung verbunden ist, für die Bevölkerung des betreffenden Landes Gutes bewirken kann. Die Arbeit und das technische Wissen werden überall gebraucht. Es ist aber nicht zulässig, eine Auslagerung nur vorzunehmen, um von bestimmten Begünstigungen zu profitieren oder gar um andere auszubeuten, ohne einen echten Beitrag für die Gesellschaft vor Ort zur Schaffung eines stabilen Produktions- und Sozialwesens zu leisten, das eine unverzichtbare Bedingung für eine beständige Entwicklung darstellt.

41. In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, darauf hinzuweisen, daß die unternehmerische Tätigkeit eine mehrwertige Bedeutung hat und dieser immer mehr gerecht werden muß. Die seit längerer Zeit vorherrschende Kombination Markt-Staat hat uns daran gewöhnt, nur an den privaten Unternehmer nach kapitalistischer Art und andererseits an die Leiter staatlicher Unternehmen zu denken. In Wirklichkeit ist ein differenziertes Verständnis der unternehmerischen Tätigkeit erforderlich. Das resultiert aus einer Reihe von metaökonomischen Beweggründen. Die unternehmerische Tätigkeit hat noch vor ihrer beruflichen eine menschliche Bedeutung.[98] Sie ist Teil einer jeden Arbeit, wenn sie als »actus personae«[99] betrachtet wird; daher ist es gut, jedem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, seinen persönlichen Beitrag zu leisten, so daß er selbst »das Bewußtsein hat, im eigenen Bereich zu arbeiten«.[100] Nicht zufällig lehrte Papst Paul VI. daß »jeder, der arbeitet, schöpferisch tätig ist«.[101] Gerade um den Erfordernissen und der Würde des arbeitenden Menschen sowie den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden, gibt es verschiedene Arten von Unternehmen, weit hinaus über die alleinige Unterscheidung zwischen »privat« und »staatlich«. Jede erfordert und verwirklicht eine besondere unternehmerische Fähigkeit. Um eine Wirtschaft zu erreichen, die sich in der nahen Zukunft in den Dienst des nationalen und weltweiten Gemeinwohls stellen kann, ist es angebracht, diese weitreichende Bedeutung der unternehmerischen Tätigkeit zu beachten. Diese umfassendere Sicht fördert den Austausch und die gegenseitige Prägung unter den verschiedenen Arten von unternehmerischer Tätigkeit mit einem Kompetenzfluß vom nicht-gewinnorientierten Bereich zum gewinnorientierten und umgekehrt, vom öffentlichen zu dem der Zivilgesellschaft, von den fortgeschrittenen Wirtschaftsregionen zu jenen der Entwicklungsländer.

Auch die politische Autorität hat eine mehrwertige Bedeutung, die auf dem Weg zur Verwirklichung einer neuen sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten wirtschaftlich-produktiven Ordnung nicht vergessen werden darf. So wie man auf der ganzen Welt eine differenzierte unternehmerische Tätigkeit pflegen will, so muß auch eine verteilte und auf verschiedenen Ebenen wirkende politische Autorität gefördert werden. Die zusammengewachsene Wirtschaft unserer Zeit eliminiert die Rolle der Staaten nicht, sie verpflichtet die Regierungen vielmehr zu einer engeren Zusammenarbeit untereinander. Gründe der Weisheit und der Klugheit raten davon ab, vorschnell das Ende des Staates auszurufen. Hinsichtlich der Lösung der derzeitigen Krise zeichnet sich ein Wachstum seiner Rolle ab, indem er viele seiner Kompetenzen wiedererlangt. Es gibt auch Länder, in denen der Aufbau oder der Wiederaufbau des Staates weiterhin ein Schlüsselelement für ihre Entwicklung ist. Die internationale Hilfe sollte gerade im Rahmen eines solidarischen Plans zur Lösung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme die Festigung der Verfassungs-, Rechts- und Verwaltungssysteme in den Ländern, die sich dieser Güter noch nicht vollkommen erfreuen, eher fördern. Neben der wirtschaftlichen Hilfe bedarf es der Unterstützung, um die dem Rechtsstaat eigenen Garantien, ein wirksames System der öffentlichen Ordnung und des Gefängniswesens unter Einhaltung der Menschenrechte und wirklich demokratische Institutionen zu stärken. Der Staat muß nicht überall dieselben Ausprägungen haben: Die Unterstützung zur Stärkung der schwachen Verfassungssysteme kann auf hervorragende Weise von der Entwicklung anderer politischer Akteure neben dem Staat begleitet werden, die kultureller, sozialer, regionaler oder religiöser Art sind. Die Gliederung der politischen Autorität auf lokaler Ebene, auf der Ebene der nationalen und internationalen Zivilgesellschaft und auf der Ebene der übernationalen und weltweiten Gemeinschaft ist auch einer der Hauptwege, um die wirtschaftliche Globalisierung lenken zu können. Sie ist auch die Vorgangsweise, um zu verhindern, daß diese de facto die Fundamente der Demokratie untergräbt.

42. Manchmal sind gegenüber der Globalisierung fatalistische Einstellungen bemerkbar, als ob die herrschenden Dynamiken von unpersönlichen anonymen Kräften und von vom menschlichen Wollen unabhängigen Strukturen hervorgebracht würden.[102] Diesbezüglich ist es gut, in Erinnerung zu rufen, daß die Globalisierung gewiß einen sozioökonomischen Prozeß darstellt, dies aber nicht ihre einzige Dimension ist. Hinter dem deutlicher sichtbaren Prozeß steht eine zunehmend untereinander verflochtene Menschheit; diese setzt sich aus Personen und Völkern zusammen, denen dieser Prozeß zum Nutzen und zur Entwicklung gereichen soll,[103] weil sowohl die Einzelnen als auch die Gesamtheit die jeweiligen Verantwortungen auf sich nehmen. Die Überwindung der Grenzen ist nicht nur eine materielle Angelegenheit, sondern hinsichtlich ihrer Gründe und Auswirkungen auch eine kulturelle Frage. Wenn die Globalisierung deterministisch interpretiert wird, gehen die Kriterien für ihre Bewertung und ihre Ausrichtung verloren. Sie ist eine menschliche Realität, hinter der verschiedene kulturelle Ausrichtungen stehen können, die sorgfältig abgewogen werden müssen. Die Wahrheit des Globalisierungsprozesses und sein grundlegendes ethisches Kriterium sind in der Einheit der Menschheitsfamilie und in ihrem Voranschreiten im Guten gegeben. Es ist daher ein unablässiger Einsatz zur Förderung einer personalistischen und gemeinschaftlichen sowie für die Transzendenz offenen kulturellen Ausrichtung des globalen Integrationsprozesses erforderlich.

Trotz einiger ihrer strukturell bedingten Dimensionen, die nicht zu leugnen sind, aber auch nicht verabsolutiert werden dürfen, ist »die Globalisierung a priori weder gut noch schlecht. Sie wird das sein, was die Menschen aus ihr machen«.[104] Wir dürfen nicht Opfer sein, sondern müssen Gestalter werden, indem wir mit Vernunft vorgehen und uns von der Liebe und von der Wahrheit leiten lassen. Blinder Widerstand wäre eine falsche Haltung, ein Vorurteil, das schließlich dazu führen würde, einen Prozeß zu verkennen, der auch viele positive Seiten hat, und so Gefahr zu laufen, eine große Chance zu verpassen, an den vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten teilzuhaben, die dieser bietet. Die angemessen geplanten und ausgeführten Globalisierungsprozesse machen auf weltweiter Ebene eine noch nie dagewesene große Neuverteilung des Reichtums möglich; wenn diese Prozesse jedoch schlecht geführt werden, können sie hingegen zu einer Zunahme der Armut und der Ungleichheit führen sowie mit einer Krise die ganze Welt anstecken. Es ist nötig, die auch schweren Mängel dieser Prozesse zu beheben, die neue Spaltungen zwischen den Völkern und innerhalb der Völker verursachen, und dafür zu sorgen, daß die Umverteilung des Reichtums nicht mittels einer Umverteilung der Armut erfolgt oder diese sogar noch zunimmt, wie es ein schlechter Umgang mit der gegenwärtigen Lage befürchten lassen könnte. Lange Zeit dachte man, daß die armen Völker in einem im voraus festgelegten Entwicklungsstadium verbleiben und sich mit der Philanthropie der entwickelten Völker begnügen müßten. Gegen diese Mentalität hat Papst Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio Stellung bezogen. Heute sind die zur Verfügung stehenden materiellen Möglichkeiten, um diesen Völkern aus der Armut herauszuhelfen, potentiell größer als früher, aber sie wurden hauptsächlich von den entwickelten Völkern selbst in Beschlag genommen, die sich den Prozeß der Liberalisierung des Finanz- und Arbeitskräfteverkehrs besser zunutze machen konnten. Die weltweite Ausbreitung des Wohlstands darf daher nicht durch egoistische, protektionistische und von Einzelinteressen geleitete Projekte gebremst werden. Die Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer ermöglicht heute einen besseren Umgang mit der Krise. Die zum Globalisierungsprozeß gehörende Veränderung bringt große Schwierigkeiten und Gefahren mit sich, die nur dann überwunden werden können, wenn man sich der anthropologischen und ethischen Seele bewußt wird, die aus der Tiefe die Globalisierung selbst in Richtung einer solidarischen Humanisierung führt. Leider ist diese Seele oft verschüttet und wird von individualistisch und utilitaristisch geprägten ethisch-kulturellen Sichtweisen unterdrückt. Die Globalisierung ist ein vielschichtiges und polyvalentes Phänomen, das in der Verschiedenheit und in der Einheit all seiner Dimensionen – einschließlich der theologischen – erfaßt werden muß. Dies wird es erlauben, die Globalisierung der Menschheit im Sinne von Beziehung, Gemeinschaft und Teilhabe zu leben und auszurichten.

 

VIERTES KAPITEL

ENTWICKLUNG DER VÖLKER, RECHTE UND PFLICHTEN, UMWELT

 

43. »Die Solidarität aller, die etwas Wirkliches ist, bringt für uns nicht nur Vorteile mit sich, sondern auch Pflichten«.[105] Viele Menschen neigen heute zu der Anmaßung, niemandem etwas schuldig zu sein außer sich selbst. Sie meinen, nur Rechte zu besitzen, und haben oft große Schwierigkeiten, eine Verantwortung für ihre eigene und die ganzheitliche Entwicklung des anderen reifen zu lassen. Es ist deshalb wichtig, eine neue Reflexion darüber anzuregen, daß die Rechte Pflichten voraussetzen, ohne die sie zur Willkür werden.[106] Wir erleben heutzutage einen bedrückenden Widerspruch. Während man einerseits mutmaßliche Rechte willkürlicher und genießerischer Art unter dem Vorwand beansprucht, sie würden von den staatlichen Strukturen anerkannt und gefördert, werden andererseits einem großen Teil der Menschheit elementare Grundrechte aberkannt und verletzt.[107] Häufig festzustellen ist ein Zusammenhang zwischen der Beanspruchung des Rechts auf Überfluß oder geradezu auf Rechtswidrigkeit und Laster in den Wohlstandgesellschaften und dem Mangel an Nahrung, Trinkwasser, Schulbildung oder medizinischer Grundversorgung in manchen unterentwickelten Weltregionen wie auch am Rande von großen Metropolen. Der Zusammenhang beruht darauf, daß die Individualrechte, wenn sie von einem sinngebenden Rahmen von Pflichten losgelöst sind, verrückt werden und eine praktisch grenzenlose und alle Kriterien entbehrende Spirale von Ansprüchen auslösen. Die Übertreibung der Rechte mündet in die Unterlassung der Pflichten. Die Pflichten grenzen die Rechte ein, weil sie sie auf den anthropologischen und ethischen Rahmen verweisen, in dessen Wahrheit sich auch diese letzteren einfügen und daher nicht zur Willkür werden. Die Pflichten stärken demnach die Rechte und bieten deren Verteidigung und Förderung als eine Aufgabe im Dienst des Guten an. Wenn hingegen die Rechte des Menschen ihr Fundament allein in den Beschlüssen einer Bürgerversammlung finden, können sie jederzeit geändert werden, und daher läßt die Pflicht, sie zu achten und einzuhalten, im allgemeinen Bewußtsein nach. Die Regierungen und internationalen Organismen können da die Objektivität und »Unverfügbarkeit« der Rechte außer Acht lassen. Wenn das geschieht, ist die echte Entwicklung der Völker gefährdet.[108] Derartige Einstellungen kompromittieren das Ansehen der internationalen Organismen vor allem in den Augen der am meisten entwicklungsbedürftigen Länder. Diese fordern nämlich, daß die internationale Gemeinschaft es als eine Pflicht übernimmt, ihnen zu helfen, »Baumeister ihres Schicksals«[109] zu sein, das heißt ihrerseits Pflichten zu übernehmen. Das Teilen der wechselseitigen Pflichten mobilisiert viel stärker als die bloße Beanspruchung von Rechten.

44. Die Auffassung von den Rechten und Pflichten in der Entwicklung muß auch den Problemkreis im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum berücksichtigen. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Aspekt der echten Entwicklung, weil er die unverzichtbaren Werte des Lebens und der Familie betrifft.[110] In der Bevölkerungszunahme die Hauptursache der Unterentwicklung zu sehen, ist – auch in wirtschaftlicher Hinsicht – unkorrekt. Man braucht nur einerseits an den bedeutenden Rückgang der Kindersterblichkeit und die Verlängerung des durchschnittlichen Lebensalters in neuen wirtschaftlich entwickelten Ländern zu denken und andererseits an die deutlichen Zeichen einer Krise in solchen Gesellschaften, die einen beunruhigenden Geburtenrückgang verzeichnen. Die Kirche, der die wahre Entwicklung des Menschen am Herzen liegt, empfiehlt ihm die umfassende Achtung menschlicher Werte, und dies gilt auch für den Umgang mit der Sexualität: Man kann sie nicht auf eine lediglich hedonistische und spielerische Handlung reduzieren, so wie man die Sexualerziehung nicht auf eine technische Anleitung reduzieren kann, deren einzige Sorge es ist, die Betroffenen vor eventuellen Ansteckungen oder vor dem »Risiko« der Fortpflanzung zu schützen. Das würde einer Verarmung und Mißachtung der tiefen Bedeutung der Sexualität gleichkommen, die jedoch sowohl von der einzelnen Person wie von der Gemeinschaft anerkannt und verantwortungsvoll angenommen werden soll. Die Verantwortung verbietet es nämlich ebenso, die Sexualität lediglich als Lustquelle zu betrachten, wie sie in politische Maßnahmen einer erzwungenen Geburtenplanung einzubeziehen. In beiden Fällen steht man vor materialistischen Auffassungen und deren politischen Umsetzungen, in denen die Menschen schließlich verschiedene Formen von Gewalt erleiden. All dem muß man in diesem Bereich die vorrangige Zuständigkeit der Familien[111] gegenüber dem Staat und seinen restriktiven politischen Maßnahmen sowie eine entsprechende Erziehung der Eltern entgegensetzen.

Die moralisch verantwortungsvolle Offenheit für das Leben ist ein sozialer und wirtschaftlicher Reichtum. Große Nationen haben auch dank der großen Zahl und der Fähigkeiten ihrer Einwohner aus dem Elend herausfinden können. Umgekehrt erleben einst blühende Nationen jetzt wegen des Geburtenrückgangs eine Phase der Unsicherheit und in manchen Fällen sogar ihres Niedergangs – ein entscheidendes Problem gerade für die Wohlstandsgesellschaften. Der Geburtenrückgang, der die Bevölkerungszahl manchmal unter den kritischen demographischen Wert sinken läßt, stürzt auch die Sozialhilfesysteme in die Krise, führt zur Erhöhung der Kosten, schränkt die Rückstellung von Ersparnissen und in der Folge die für die Investitionen nötigen finanziellen Ressourcen ein, reduziert die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und verringert das Reservoir der »Köpfe«, aus dem man für die Bedürfnisse der Nation schöpfen muß. Außerdem laufen die kleinen, manchmal sehr kleinen Familien Gefahr, die sozialen Beziehungen zu vernachlässigen und keine wirksamen Solidaritätsformen zu gewährleisten. Diese Situationen weisen die Symptome eines geringen Vertrauens in die Zukunft sowie einer moralischen Müdigkeit auf. Daher wird es zu einer sozialen und sogar ökonomischen Notwendigkeit, den jungen Generationen wieder die Schönheit der Familie und der Ehe vor Augen zu stellen sowie die Übereinstimmung dieser Einrichtungen mit den tiefsten Bedürfnissen des Herzens und der Würde des Menschen. In dieser Hinsicht sind die Staaten dazu aufgerufen, politische Maßnahmen zu treffen, die die zentrale Stellung und die Unversehrtheit der auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau gegründeten Familie, der Grund- und Lebenszelle der Gesellschaft,[112] dadurch fördern, indem sie sich auch um deren wirtschaftliche und finanzielle Probleme in Achtung vor ihrem auf Beziehung beruhenden Wesen kümmern.

45. Antworten auf die tiefsten moralischen Ansprüche des Menschen haben auch wichtige und wohltuende Auswirkungen auf wirtschaftlicher Ebene. Die Wirtschaft braucht nämlich für ihr korrektes Funktionieren die Ethik; nicht irgendeine Ethik, sondern eine menschenfreundliche Ethik. Heute spricht man viel von Ethik im Bereich der Wirtschaft, der Finanzen und der Betriebe. Es entstehen Studienzentren und Ausbildungsgänge für business ethics; in der Welt der hochentwickelten Länder verbreitet sich im Gefolge der rund um die soziale Verantwortung des Betriebs entstandenen Bewegung das System der ethischen Zertifikate. Die Banken bieten sogenannte »ethische« Konten und Investitionsfonds an. Es entwickelt sich ein »ethisches Finanzwesen«, vor allem durch den Kleinkredit und allgemeiner die Mikrofinanzierung. Diese Entwicklungen rufen Anerkennung hervor und verdienen eine breite Unterstützung. Ihre positiven Auswirkungen sind auch in weniger entwickelten Zonen der Erde wahrzunehmen. Es ist jedoch gut, auch ein gültiges Unterscheidungskriterium zu erarbeiten, da man eine gewisse Abnützung des Adjektivs »ethisch« feststellt, das, wenn es allgemein gebraucht wird, auch sehr verschiedene Inhalte bezeichnet. Das kann so weit gehen, daß unter seinem Deckmantel Entscheidungen und Beschlüsse durchgehen, die der Gerechtigkeit und dem wahren Wohl des Menschen widersprechen.

Viel hängt nämlich vom moralischen Bezugssystem ab. Zu diesem Thema hat die Soziallehre der Kirche einen besonderen Beitrag zu leisten, der sich auf die Erschaffung des Menschen »als Abbild Gottes« (Gen 1, 27) gründet, eine Tatsache, von der sich die unverletzliche Würde der menschlichen Person ebenso herleitet wie der transzendente Wert der natürlichen moralischen Normen. Eine Wirtschaftsethik, die von diesen beiden Säulen absähe, würde unvermeidlich Gefahr laufen, ihre moralische Qualität zu verlieren und sich instrumentalisieren zu lassen; genauer gesagt, sie würde riskieren, zu einer Funktion für die bestehenden Wirtschafts- und Finanzsysteme zu werden, statt zum Korrektiv ihrer Mißstände. Unter anderem würde sie schließlich auch die Finanzierung von ethisch nicht vertretbaren Projekten rechtfertigen. Ferner soll das Wort »ethisch« nicht in ideologisch diskriminierender Weise angewandt werden, indem man damit zu verstehen gibt, daß die Initiativen, die sich nicht formell mit dieser Bezeichnung zieren, nicht ethisch seien. Man muß sich nicht nur darum bemühen – die Bemerkung ist hier wesentlich! – , daß »ethische« Sektoren und Bereiche der Ökonomie oder des Finanzwesens entstehen, sondern daß die gesamte Wirtschaft und das gesamte Finanzwesen ethisch sind und das nicht nur durch eine äußerliche Etikettierung, sondern aus Achtung vor den ihrer Natur selbst wesenseigenen Ansprüchen. Diesbezüglich spricht die jüngste Soziallehre der Kirche mit aller Klarheit, wenn sie daran erinnert, daß die Wirtschaft mit allen ihren Zweigen ein Teilbereich des vielfältigen menschlichen Tuns sei.[113]

46. Betrachtet man die mit der Beziehung zwischen Unternehmen und Ethik befaßten Themenbereiche sowie die Entwicklung, die das Produktionssystem durchmacht, so scheint es, daß die bisher allgemein verbreitete Unterscheidung zwischen gewinnorientierten (profit) Unternehmen und nicht gewinnorientierten (non profit) Organisationen nicht mehr imstande ist, über die tatsächliche Situation vollständig Rechenschaft zu geben oder zukünftige Entwicklungen effektiv zu gestalten. In diesen letzten Jahrzehnten ist ein großer Zwischenbereich zwischen den beiden Unternehmenstypologien entstanden. Er besteht aus traditionellen Unternehmen, die allerdings Hilfsabkommen für rückständige Länder unterzeichneten; aus Unternehmensgruppen, die Ziele mit sozialem Nutzen verfolgen; aus der bunten Welt der Vertreter der sogenannten öffentlichen und Gemeinschaftswirtschaft. Es handelt sich nicht nur um einen »dritten Sektor«, sondern um eine neue umfangreiche zusammengesetzte Wirklichkeit, die das Private und das Öffentliche einbezieht und den Gewinn nicht ausschließt, ihn aber als Mittel für die Verwirklichung humaner und sozialer Ziele betrachtet. Die Tatsache, daß diese Unternehmen die Gewinne nicht verteilen oder daß sie die eine oder andere von den Rechtsnormen vorgesehene Struktur haben, wird nebensächlich angesichts ihrer Bereitschaft, den Gewinn als ein Mittel zu begreifen, um eine Humanisierung des Marktes und der Gesellschaft zu erreichen. Es ist zu wünschen, daß diese neuen Unternehmensformen in allen Ländern auch eine entsprechende rechtliche und steuerliche Gestalt finden. Ohne den herkömmlichen Unternehmensformen etwas von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und Nützlichkeit zu nehmen, bewirken die neuen Formen, daß sich das System zu einer klareren und vollkommeneren Übernahme der Verpflichtungen seitens der Wirtschaftsvertreter entwickelt. Nicht nur das. Gerade die Vielfalt der institutionellen Unternehmensformen sollte einen humaneren und zugleich wettbewerbsfähigeren Markt hervorbringen.

47. Die Vermehrung der verschiedenen Unternehmenstypologien und besonders derjenigen, die dazu fähig sind, den Gewinn als ein Mittel zu begreifen, um den Zweck der Humanisierung des Marktes und der Gesellschaften zu erreichen, muß auch in den Ländern verfolgt werden, die unter Ausschluß oder Ausgrenzung aus den globalen Wirtschaftskreisläufen leiden. Dort ist es sehr wichtig, mit Projekten angemessen konzipierter und verwalteter Subsidiarität voranzukommen, die vor allem die Rechte zu stärken trachten, wobei jedoch immer auch die Übernahme entsprechender Verantwortlichkeiten vorgesehen ist. In den Beiträgen zur Entwicklung muß das Prinzip der zentralen Stellung der menschlichen Person sichergestellt sein, die das Subjekt ist, das in erster Linie die Verpflichtung zur Entwicklung auf sich nehmen muß. Das Hauptinteresse gilt der Verbesserung der Lebenssituationen der konkreten Menschen in einer bestimmten Region, damit sie jenen Verpflichtungen nachkommen können, deren Erfüllung ihnen ihre derzeitige Notlage unmöglich macht. Die Sorge kann niemals eine abstrakte Haltung sein. Um an die einzelnen Situationen angepaßt werden zu können, müssen die Entwicklungsprogramme von Flexibilität gekennzeichnet sein; und die Empfänger der Hilfe sollten direkt in die Planung der Projekte einbezogen und zu Hauptakteuren ihrer Umsetzung werden. Ebenso ist es notwendig, die Kriterien eines stufenweisen und begleitenden Fortschreitens – einschließlich der laufenden Kontrolle der Ergebnisse – anzuwenden, da es keine universal gültigen Rezepte gibt. Viel hängt von der konkreten Durchführung der Interventionen ab. »Weil die Völker die Baumeister ihres eigenen Fortschritts sind, müssen sie selbst auch an erster Stelle die Last und Verantwortung dafür tragen. Aber sie werden es nicht schaffen, wenn sie gegenseitig isoliert bleiben«.[114] Angesichts der Konsolidierung des Prozesses der fortschreitenden Integration der Erde hat diese Mahnung Papst Pauls VI. heute noch größere Gültigkeit. Die Dynamik der Einbeziehung hat nichts Mechanisches an sich. Die Lösungen müssen auf der Grundlage einer behutsamen Einschätzung der Situation genau auf das Leben der Völker und konkreten Personen zugeschnitten werden. Neben den Großprojekten braucht es die kleinen Projekte und vor allem die tatkräftige Mobilisierung aller Angehörigen der Zivilgesellschaft, sowohl der juristischen wie der physischen Personen.

Die internationale Zusammenarbeit benötigt Personen, die den wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklungsprozeß durch die Solidarität ihrer Präsenz, der Begleitung, der Ausbildung und des Respekts teilen. Unter diesem Gesichtspunkt müßten sich die internationalen Organismen selbst nach der tatsächlichen Wirksamkeit ihrer oft viel zu kostspieligen bürokratischen Verwaltungsapparate fragen. Es kommt mitunter vor, daß der Hilfeempfänger zu einem Mittel für den Helfer wird und die Armen dazu dienen, aufwendige bürokratische Organisationen aufrechtzuerhalten, die für ihren eigenen Bestand allzu hohe Beträge aus jenen Ressourcen für sich behalten, die eigentlich für die Entwicklung bestimmt sein sollten. Aus dieser Sicht wäre es wünschenswert, daß sich alle internationalen Organismen und die Nichtregierungsorganisationen zu einer größeren Transparenz verpflichteten, indem sie die Spender sowie die öffentliche Meinung über den prozentualen Anteil der erhaltenen Gelder, der für die Programme der Zusammenarbeit bestimmt ist, über den tatsächlichen Inhalt solcher Programme und schließlich über die Zusammensetzung der Ausgaben der Einrichtung selbst informieren.

48. Das Thema Entwicklung ist heute stark an die Verpflichtungen gebunden, die aus der Beziehung des Menschen zur natürlichen Umwelt entstehen. Diese Beziehung wurde allen von Gott geschenkt. Der Umgang mit ihr stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar. Wenn die Natur und allen voran der Mensch als Frucht des Zufalls oder des Evolutionsdeterminismus angesehen werden, wird das Verantwortungsbewußtsein in den Gewissen schwächer. Der Gläubige erkennt hingegen in der Natur das wunderbare Werk des schöpferischen Eingreifens Gottes, das der Mensch verantwortlich gebrauchen darf, um in Achtung vor der inneren Ausgewogenheit der Schöpfung selbst seine berechtigten materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn diese Auffassung schwindet, wird am Ende der Mensch die Natur entweder als ein unantastbares Tabu betrachten oder, im Gegenteil, sie ausbeuten. Beide Haltungen entsprechen nicht der christlichen Anschauung der Natur, die Frucht der Schöpfung Gottes ist.

Die Natur ist Ausdruck eines Plans der Liebe und der Wahrheit. Sie geht uns voraus und wird uns von Gott als Lebensraum geschenkt. Sie spricht zu uns vom Schöpfer (vgl. Röm 1, 20) und von seiner Liebe zu den Menschen. Sie ist dazu bestimmt, am Ende der Zeiten in Christus »vereint zu werden« (vgl. Eph 1, 9-10; Kol 1, 19-20). Auch sie ist also eine »Berufung«.[115] Die Natur steht uns nicht als »ein Haufen zufällig verstreuter Abfälle«[116] zur Verfügung, sondern als eine Gabe des Schöpfers, der die ihr innewohnenden Ordnungen gezeichnet hat, damit der Mensch daraus die gebotenen Aufschlüsse bezieht, »damit er [sie] bebaue und hüte« (Gen 2, 15). Aber es muß auch betont werden, daß es der wahren Entwicklung widerspricht, die Natur für wichtiger zu halten als die menschliche Person. Diese Einstellung verleitet zu neu-heidnischen Haltungen oder einem neuen Pantheismus: Aus der in einem rein naturalistischen Sinn verstandenen Natur allein kann man nicht das Heil für den Menschen ableiten. Allerdings muß man auch die gegenteilige Position zurückweisen, die eine vollständige Technisierung der Natur anstrebt, weil das natürliche Umfeld nicht nur Materie ist, über die wir nach unserem Belieben verfügen können, sondern wunderbares Werk des Schöpfers, das eine „Grammatik“ in sich trägt, die Zwecke und Kriterien für eine weise, nicht funktionelle und willkürliche Nutzung angibt. Viele Schäden für die Entwicklung rühren heute aus diesen verzerrten Auffassungen her. Die Natur vollständig auf eine Menge einfacher Gegebenheiten zu verkürzen, erweist sich schließlich als Quelle der Gewalt gegenüber der Umwelt und motiviert zu respektlosen Handlungen gegenüber der Natur des Menschen. Da diese nicht nur aus Materie, sondern auch aus Geist besteht und als solche reich an Bedeutungen und zu erreichenden transzendenten Zielen ist, hat sie auch einen normativen Charakter für die Kultur. Der Mensch deutet und bildet die natürliche Umwelt durch die Kultur nach, die ihrerseits durch die verantwortliche, auf die Gebote des Sittengesetzes achtende Freiheit bestimmt wird. Die Projekte für eine ganzheitliche menschliche Entwicklung dürfen daher die nachfolgenden Generationen nicht ignorieren, sondern müssen zur Solidarität und Gerechtigkeit zwischen den Generationen bereit sein, indem sie den vielfältigen Bereichen – dem ökologischen, juristischen, ökonomischen, politischen und kulturellen – Rechnung tragen.[117]

49. Die mit der Sorge und dem Schutz für die Umwelt zusammenhängenden Fragen müssen heute der Energieproblematik entsprechende Beachtung schenken. Das Aufkaufen der nicht erneuerbaren Energiequellen durch einige Staaten, einflußreiche Gruppen und Unternehmen stellt nämlich ein schwerwiegendes Hindernis für die Entwicklung der armen Länder dar. Diese verfügen weder über die ökonomischen Mittel, um sich Zugang zu den bestehenden nicht erneuerbaren Energiequellen zu verschaffen, noch können sie die Suche nach neuen und alternativen Quellen finanzieren. Das Aufkaufen der natürlichen Ressourcen, die sich in vielen Fällen gerade in den armen Ländern befinden, führt zu Ausbeutung und häufigen Konflikten zwischen den Nationen und auch innerhalb der Länder selbst. Solche Konflikte werden häufig gerade auf dem Boden dieser Länder ausgetragen, mit einer bedrückenden Schlußbilanz von Tod, Zerstörung und weiterem Niedergang. Die internationale Gemeinschaft hat die unumgängliche Aufgabe, die institutionellen Wege zu finden, um der Ausbeutung der nicht erneuerbaren Ressourcen Einhalt zu gebieten, und das auch unter Einbeziehung der armen Länder, um mit ihnen gemeinsam die Zukunft zu planen.

Auch an dieser Front besteht die dringende moralische Notwendigkeit einer erneuerten Solidarität, besonders in den Beziehungen zwischen den Entwicklungsländern und den hochindustrialisierten Ländern.[118] Die technologisch fortschrittlichen Gesellschaften können und müssen ihren Energieverbrauch verringern, weil die Produktion in der verarbeitenden Industrie sich weiter entwickelt, aber auch weil sich unter ihren Bürgern eine größere Sensibilität für die Umwelt verbreitet. Man muß außerdem hinzufügen, daß heute eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Energie realisierbar und es gleichzeitig möglich ist, die Suche nach alternativen Energien voranzutreiben. Es ist jedoch auch eine weltweite Neuverteilung der Energiereserven notwendig, so daß auch die Länder, die über keine eigenen Quellen verfügen, dort Zugang erhalten können. Ihr Schicksal darf nicht den Händen des zuerst Angekommenen oder der Logik des Stärkeren überlassen werden. Es handelt sich um beachtliche Probleme, die, wenn sie in entsprechender Weise angegangen werden sollen, von seiten aller die verantwortungsvolle Bewußtwerdung der Folgen verlangen, die über die neuen Generationen hereinbrechen werden, vor allem über die sehr vielen Jugendlichen in den armen Völkern, die »ihren Anteil am Aufbau einer besseren Welt fordern«.[119]

50. Diese Verantwortung ist global, weil sie nicht nur die Energie, sondern die ganze Schöpfung betrifft, die wir den neuen Generationen nicht ausgebeutet hinterlassen dürfen. Es ist dem Menschen gestattet, eine verantwortungsvolle Steuerung über die Natur auszuüben, um sie zu schützen, zu nutzen und auch in neuen Formen und mit fortschrittlichen Technologien zu kultivieren, so daß sie die Bevölkerung, die sie bewohnt, würdig aufnehmen und ernähren kann. Es gibt Platz für alle auf dieser unserer Erde: Auf ihr soll die ganze Menschheitsfamilie die notwendigen Ressourcen finden, um mit Hilfe der Natur selbst, dem Geschenk Gottes an seine Kinder, und mit dem Einsatz ihrer Arbeit und ihrer Erfindungsgabe würdig zu leben. Wir müssen jedoch auf die sehr ernste Verpflichtung hinweisen, die Erde den neuen Generationen in einem Zustand zu übergeben, so daß auch sie würdig auf ihr leben und sie weiter kultivieren können. Das schließt ein, »es sich zur Pflicht zu machen, nach verantwortungsbewußter Abwägung gemeinsam zu entscheiden, welcher Weg einzuschlagen ist, mit dem Ziel, jenen Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der ein Spiegel der Schöpferliebe Gottes sein soll – des Gottes, in dem wir unseren Ursprung haben und zu dem wir unterwegs sind«.[120] Man kann nur wünschen, daß die internationale Gemeinschaft und die einzelnen Regierungen es wirksam verhindern können, daß die Umwelt zu ihrem Schaden ausgenutzt wird. Es ist ebenso erforderlich, daß die zuständigen Autoritäten alle nötigen Anstrengungen unternehmen, damit die wirtschaftlichen und sozialen Kosten für die Benutzung der allgemeinen Umweltressourcen offen dargelegt sowie von den Nutznießern voll getragen werden und nicht von anderen Völkern oder zukünftigen Generationen: Der Schutz der Umwelt, der Ressourcen und des Klimas erfordert, daß alle auf internationaler Ebene Verantwortlichen gemeinsam handeln und bereit sind, in gutem Glauben, dem Gesetz entsprechend und in Solidarität mit den schwächsten Regionen unseres Planeten zu arbeiten.[121] Eine der größten Aufgaben der Ökonomie ist gerade der äußerst effiziente Gebrauch der Ressourcen, nicht die Verschwendung, wobei man sich bewußt sein muß, daß der Begriff der Effizienz nicht wertneutral ist.

51. Die Verhaltensmuster, nach denen der Mensch die Umwelt behandelt, beeinflussen die Verhaltensmuster, nach denen er sich selbst behandelt, und umgekehrt. Das fordert die heutige Gesellschaft dazu heraus, ernsthaft ihren Lebensstil zu überprüfen, der in vielen Teilen der Welt zum Hedonismus und Konsumismus neigt und gegenüber den daraus entstehenden Schäden gleichgültig bleibt.[122] Notwendig ist ein tatsächlicher Gesinnungswandel, der uns dazu anhält, neue Lebensweisen anzunehmen, »in denen die Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten und die Gemeinschaft mit den anderen Menschen für ein gemeinsames Wachstum die Elemente sein sollen, die die Entscheidungen für Konsum, Sparen und Investitionen bestimmen«.[123] Jede Verletzung der bürgerlichen Solidarität und Freundschaft ruft Umweltschäden hervor, so wie die Umweltschäden ihrerseits Unzufriedenheit in den sozialen Beziehungen auslösen. Die Natur ist besonders in unserer Zeit so sehr in die Dynamik der sozialen und kulturellen Abläufe integriert, daß sie fast keine unabhängige Variable mehr darstellt. Die fortschreitende Wüstenbildung und die Verelendung mancher Agrargebiete sind auch Ergebnis der Verarmung der dort wohnenden Bevölkerungen und der Rückständigkeit. Durch die Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung jener Bevölkerungen schützt man auch die Natur. Wie viele natürliche Ressourcen werden zudem durch Kriege zerstört! Der Friede der Völker und zwischen den Völkern würde auch einen größeren Schutz der Natur erlauben. Das Aufkaufen der Ressourcen, besonders des Wassers, kann schwere Konflikte unter der betroffenen Bevölkerung hervorrufen. Ein friedliches Einvernehmen über die Nutzung der Ressourcen kann die Natur und zugleich das Wohlergehen der betroffenen Gesellschaften schützen.

Die Kirche hat eine Verantwortung für die Schöpfung und muß diese Verantwortung auch öffentlich geltend machen. Und wenn sie das tut, muß sie nicht nur die Erde, das Wasser und die Luft als Gaben der Schöpfung verteidigen, die allen gehören. Sie muß vor allem den Menschen gegen seine Selbstzerstörung schützen. Es muß so etwas wie eine richtig verstandene Ökologie des Menschen geben. Die Beschädigung der Natur hängt nämlich eng mit der Kultur zusammen, die das menschliche Zusammenleben gestaltet. Wenn in der Gesellschaft die »Humanökologie«[124] respektiert wird, profitiert davon auch die Umweltökologie. Wie die menschlichen Tugenden miteinander verbunden sind, so daß die Schwächung einer Tugend auch die anderen gefährdet, so stützt sich das ökologische System auf die Einhaltung eines Planes, der sowohl das gesunde Zusammenleben in der Gesellschaft wie das gute Verhältnis zur Natur betrifft.

Um die Natur zu schützen, genügt es nicht, mit anspornenden oder einschränkenden Maßnahmen einzugreifen, und auch eine entsprechende Anleitung reicht nicht aus. Das sind wichtige Hilfsmittel, aber das entscheidende Problem ist das moralische Verhalten der Gesellschaft. Wenn das Recht auf Leben und auf einen natürlichen Tod nicht respektiert wird, wenn Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt des Menschen auf künstlichem Weg erfolgen, wenn Embryonen für die Forschung geopfert werden, verschwindet schließlich der Begriff Humanökologie und mit ihm der Begriff der Umweltökologie aus dem allgemeinen Bewußtsein. Es ist ein Widerspruch, von den neuen Generationen die Achtung der natürlichen Umwelt zu verlangen, wenn Erziehung und Gesetze ihnen nicht helfen, sich selbst zu achten. Das Buch der Natur ist eines und unteilbar sowohl bezüglich der Umwelt wie des Lebens und der Bereiche Sexualität, Ehe, Familie, soziale Beziehungen, kurz der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen. Unsere Pflichten gegenüber der Umwelt verbinden sich mit den Pflichten, die wir gegenüber dem Menschen an sich und in Beziehung zu den anderen haben. Man kann nicht die einen Pflichten fordern und die anderen unterdrücken. Das ist ein schwerwiegender Widerspruch der heutigen Mentalität und Praxis, der den Menschen demütigt, die Umwelt erschüttert und die Gesellschaft beschädigt.

52. Die Wahrheit und die Liebe, die sie erschließt, lassen sich nicht produzieren, man kann sie nur empfangen. Ihre letzte Quelle ist nicht und kann nicht der Mensch sein, sondern Gott, das heißt Er, der Wahrheit und Liebe ist. Dieses Prinzip ist sehr wichtig für die Gesellschaft und für die Entwicklung, da weder die eine noch die andere lediglich menschliche Produkte sein können; ebenso gründet sich die Berufung zur Entwicklung der Menschen und der Völker nicht auf eine lediglich menschliche Entscheidung, sondern sie ist in einen Plan eingeschrieben, der uns vorausgeht und für uns alle eine Pflicht darstellt, die freiwillig angenommen werden muß. Das, was uns vorausgeht, und das, was uns konstituiert – die Liebe und die Wahrheit –, zeigt uns, was das Gute ist und worin unser Glück besteht. Es zeigt uns somit den Weg zur wahren Entwicklung.

 

FÜNFTES KAPITEL

DIE ZUSAMMENARBEIT DER MENSCHHEITSFAMILIE

53. Eine der schlimmsten Arten von Armut, die der Mensch erfahren kann, ist die Einsamkeit. Genau betrachtet haben auch die anderen Arten von Armut, einschließlich der materiellen Armut, ihren Ursprung in der Isolation, im Nicht-geliebt-Sein oder in der Schwierigkeit zu lieben. Oft entstehen die Arten der Armut aus der Zurückweisung der Liebe Gottes, aus einem ursprünglichen tragischen Verschließen des Menschen in sich selbst, der meint, sich selbst genügen zu können oder nur eine unbedeutende und vorübergehende Erscheinung, ein »Fremder« in einem zufällig gebildeten Universum zu sein. Der Mensch ist entfremdet, wenn er allein ist oder sich von der Wirklichkeit ablöst, wenn er darauf verzichtet, an ein Fundament zu denken und zu glauben.[125] Die Menschheit insgesamt ist entfremdet, wenn sie sich bloß menschlichen Plänen, Ideologien und falschen Utopien verschreibt.[126] Heute erscheint die Menschheit interaktiver als gestern: Diese größere Nähe muß zu echter Gemeinschaft werden. Die Entwicklung der Völker hängt vor allem davon ab, sich als eine einzige Familie zu erkennen, die in einer echten Gemeinschaft zusammenarbeitet und von Subjekten gebildet wird, die nicht einfach nebeneinander leben.[127]

Papst Paul VI. bemerkte, daß »die Welt krank ist, weil ihr Gedanken fehlen«.[128] Diese Aussage enthält eine Feststellung, vor allem aber einen Wunsch: Es bedarf eines neuen Schwungs des Denkens, um die Implikationen unseres Familieseins besser zu verstehen; die wechselseitigen Unternehmungen der Völker dieser Erde fordern uns zu diesem Schwung auf, damit die Integration im Zeichen der Solidarität[129] und nicht der Verdrängung vollzogen wird. Ein solches Denken verpflichtet auch zu einer kritischen und beurteilenden Vertiefung der Kategorie der Beziehung. Es handelt sich um eine Aufgabe, die nicht von den Sozialwissenschaften allein durchgeführt werden kann, insofern sie den Beitrag von Wissen wie Metaphysik und Theologie verlangt, um die transzendente Würde des Menschen klar zu begreifen.

Der Mensch als Geschöpf von geistiger Natur verwirklicht sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Je echter er diese lebt, desto mehr reift auch seine eigene persönliche Identität. Nicht durch Absonderung bringt sich der Mensch selber zur Geltung, sondern wenn er sich in Beziehung zu den anderen und zu Gott setzt. Die Bedeutung solcher Beziehungen wird also grundlegend. Dies gilt auch für die Völker. Ihrer Entwicklung ist daher eine metaphysische Sicht der Beziehung zwischen den Personen sehr zuträglich. Diesbezüglich findet die Vernunft Anregung und Orientierung in der christlichen Offenbarung. Gemäß dieser wird die Person nicht durch die Gemeinschaft der Menschen absorbiert, beziehungsweise ihre Autonomie zunichte gemacht, wie es in den verschiedenen Formen des Totalitarismus geschieht. Vielmehr bringt die Gemeinschaft im christlichen Denken die Person weiter zur Geltung, da die Beziehung zwischen Person und Gemeinschaft der eines Ganzen gegenüber einem anderen Ganzen entspricht.[130] Wie die Gemeinschaft der Familie in sich die Personen, die sie bilden, nicht auflöst und wie die Kirche selbst die »neue Schöpfung« (vgl. Gal 6, 15; 2 Kor 5, 17), die durch die Taufe ihrem Leib eingegliedert wird, voll hervorhebt, so löst auch die Einheit der Menschheitsfamilie in sich die Personen, Völker und Kulturen nicht auf, sondern macht sie füreinander transparenter und vereint sie stärker in ihrer legitimen Vielfalt.

54. Das Thema der Entwicklung der Völker fällt mit dem der Einbeziehung aller Personen und Völker in die eine Gemeinschaft der Menschheitsfamilie zusammen, die auf der Basis der Grundwerte der Gerechtigkeit und des Friedens in Solidarität gebildet wird. Diese Sicht findet von der Beziehung der Personen der Dreifaltigkeit in dem einen Göttlichen Wesen her eine klare Erhellung. Die Dreifaltigkeit ist völlige Einheit, insofern die drei Göttlichen Personen reine Beziehung sind. Die gegenseitige Transparenz zwischen den Göttlichen Personen ist völlig und die Verbindung untereinander vollkommen, denn sie bilden eine absolute Einheit und Einzigkeit. Gott will auch uns in diese Wirklichkeit der Gemeinschaft aufnehmen: »denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind« (Joh 17, 22). Die Kirche ist Zeichen und Werkzeug dieser Einheit.[131] Auch die Beziehungen zwischen Menschen in der Geschichte können nur Nutzen aus dem Bezug auf dieses göttliche Modell ziehen. Insbesondere im Licht des offenbarten Geheimnisses der Dreifaltigkeit versteht man, daß eine echte Öffnung nicht zentrifugale Zerstreuung bedeutet, sondern tiefe Durchdringung. Dies ergibt sich auch aus der gemeinsamen menschlichen Erfahrung der Liebe und der Wahrheit. Wie die sakramentale Liebe die Eheleute geistig als »ein Fleisch« (Gen 2, 24; Mt 19, 5; Eph 5, 31) verbindet und aus den zweien eine echte Einheit in der Beziehung macht, verbindet auf analoge Weise die Wahrheit die Vernunftwesen untereinander und läßt sie im Einklang denken, indem sie sie anzieht und in sich vereint.

55. Die christliche Offenbarung über die Einheit des Menschengeschlechts setzt eine metaphysische Interpretation des humanum voraus, in dem die Fähigkeit zur Beziehung ein wesentliches Element darstellt. Auch andere Kulturen und Religionen lehren Brüderlichkeit und Frieden und sind daher für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen von großer Bedeutung. Es fehlen aber nicht religiöse und kulturelle Haltungen, in denen das Prinzip der Liebe und der Wahrheit nicht vollständig angenommen und am Ende so die echte menschliche Entwicklung gebremst oder sogar behindert wird. Die Welt von heute ist von einigen Kulturen mit religiösem Hintergrund durchzogen, die den Menschen nicht zur Gemeinschaft verpflichten, sondern ihn auf der Suche nach dem individuellen Wohl isolieren, indem sie sich darauf beschränken, psychologische Erwartungen zu befriedigen. Auch eine gewisse Verbreitung von religiösen Wegen kleiner Gruppen oder sogar einzelner Personen und der religiöse Synkretismus können Faktoren einer Zerstreuung und eines Mangels an Engagement sein. Ein möglicher negativer Effekt des Globalisierungsprozesses ist die Tendenz, solchen Synkretismus zu begünstigen[132] und dabei Formen von „Religionen“ zu nähren, die die Menschen einander entfremden, anstatt sie einander begegnen zu lassen, und sie von der Wirklichkeit entfernen. Gleichzeitig bleiben mitunter kulturelle und religiöse Vermächtnisse weiter bestehen, die die Gesellschaft in feste soziale Kasten eingrenzen, in Formen von magischem Glauben, die die Würde der Person mißachten, und in Haltungen der Unterwerfung unter okkulte Mächte. Auf dieser Ebene ist es für die Liebe und die Wahrheit schwierig, sich zu behaupten, was Schaden für die echte Entwicklung mit sich bringt.

Wenn es einerseits wahr ist, daß die Entwicklung die Religionen und Kulturen der verschiedenen Völker braucht, ist es aus diesem Grund andererseits ebenso wahr, daß eine angemessene Unterscheidung vonnöten ist. Religionsfreiheit bedeutet nicht religiöse Gleichgültigkeit und bringt nicht mit sich, daß alle Religionen gleich sind.[133] Die Unterscheidung hinsichtlich des Beitrags der Kulturen und Religionen zum Aufbau der sozialen Gemeinschaft in der Achtung des Gemeinwohls ist vor allem für den, der politische Gewalt ausübt, erforderlich. Solche Unterscheidung muß sich auf das Kriterium der Liebe und der Wahrheit stützen. Da die Entwicklung der Menschen und der Völker auf dem Spiel steht, wird sie die Möglichkeit der Emanzipation und der Einbeziehung im Hinblick auf eine wirklich universale Gemeinschaft der Menschen berücksichtigen. »Der ganze Mensch und alle Menschen« sind das Kriterium, um auch die Kulturen und die Religionen zu beurteilen. Das Christentum, die Religion des »Gottes, der ein menschliches Angesicht hat«,[134] trägt in sich selbst ein solches Kriterium.

56. Die christliche Religion und die anderen Religionen können ihren Beitrag zur Entwicklung nur leisten, wenn Gott auch im öffentlichen Bereich mit spezifischem Bezug auf die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und insbesondere politischen Aspekte Platz findet. Die Soziallehre der Kirche ist entstanden, um dieses »Statut des Bürgerrechts«[135] der christlichen Religion geltend zu machen. Die Verweigerung des Rechts, öffentlich die eigene Religion zu bekennen und dafür tätig zu sein, daß auch das öffentliche Leben über die Wahrheiten des Glaubens unterrichtet wird, bringt negative Folgen für die wahre Entwicklung mit sich. Der Ausschluß der Religion vom öffentlichen Bereich wie andererseits der religiöse Fundamentalismus behindern die Begegnung zwischen den Menschen und ihre Zusammenarbeit für den Fortschritt der Menschheit. Das öffentliche Leben verarmt an Motivationen, und die Politik nimmt ein unerträgliches und aggressives Gesicht an. Die Menschenrechte laufen Gefahr, nicht geachtet zu werden, weil sie entweder ihres transzendenten Fundaments beraubt werden oder weil die persönliche Freiheit nicht anerkannt wird. Im Laizismus und im Fundamentalismus verliert man die Möglichkeit eines fruchtbaren Dialogs und einer gewinnbringenden Zusammenarbeit zwischen Vernunft und religiösem Glauben. Die Vernunft bedarf stets der Reinigung durch den Glauben, und dies gilt auch für die politische Vernunft, die sich nicht für allmächtig halten darf. Die Religion bedarf ihrerseits stets der Reinigung durch die Vernunft, um ihr echtes menschliches Antlitz zu zeigen. Der Abbruch dieses Dialogs ist mit einem schwer lastenden Preis für die Entwicklung der Menschheit verbunden.

57. Der fruchtbare Dialog zwischen Glaube und Vernunft kann nur das Werk der sozialen Nächstenliebe wirksamer machen und bildet den sachgemäßen Rahmen, um die brüderliche Zusammenarbeit zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen in der gemeinsamen Sicht, für die Gerechtigkeit und den Frieden der Menschheit zu arbeiten, zu fördern. In der Pastoralkonstitution Gaudium et spes sagten die Konzilsväter: »Es ist fast einmütige Auffassung der Gläubigen und Nichtgläubigen, daß alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen ist«.[136] Für die Gläubigen ist die Welt nicht das Produkt des Zufalls noch der Notwendigkeit, sondern eines Planes Gottes. Von daher kommt die Pflicht der Gläubigen, ihre Bemühungen mit allen Menschen guten Willens – Angehörige anderer Religionen oder Nichtgläubige – zu vereinen, damit unsere Welt wirklich dem göttlichen Plan entspricht: als eine Familie unter dem Blick des Schöpfers zu leben. Besonderes Zeichen der Liebe und Leitkriterium für die brüderliche Zusammenarbeit von Gläubigen und Nichtgläubigen ist ganz sicher das Prinzip der Subsidiarität,[137] Ausdruck der unveräußerlichen Freiheit des Menschen. Die Subsidiarität ist vor allem eine Hilfe für die Person durch die Autonomie der mittleren Gruppen und Verbände. Solche Hilfe wird geboten, wenn die Person und die sozialen Subjekte es nicht aus eigener Kraft schaffen, und schließt immer emanzipatorische Zielsetzungen ein, da sie die Freiheit und die Partizipation, insofern sie Übernahme von Verantwortung ist, fördert. Die Subsidiarität achtet die Würde der Person, in der sie ein Subjekt sieht, das immer imstande ist, anderen etwas zu geben. Indem sie in der Gegenseitigkeit die innerste Verfassung des Menschen anerkennt, ist die Subsidiarität das wirksamste Gegenmittel zu jeder Form eines bevormundenden Sozialsystems. Sie kann sowohl die vielfache Gliederung der Ebenen und daher der Vielfalt der Subjekte erklären als auch ihre Koordinierung. Es handelt sich demnach um ein besonders geeignetes Prinzip, um die Globalisierung zu lenken und sie auf eine echte menschliche Entwicklung auszurichten. Um nicht eine gefährliche universale Macht monokratischer Art ins Leben zu rufen, muß die Steuerung der Globalisierung von subsidiärer Art sein, und zwar in mehrere Stufen und verschiedene Ebenen gegliedert, da sie die Frage nach einem globalen Gemeingut aufwirft, das zu verfolgen ist; eine solche Autorität muß aber auf subsidiäre und polyarchische Art und Weise organisiert sein,[138] um die Freiheit nicht zu verletzen und sich konkret wirksam zu erweisen.

58. Das Prinzip der Subsidiarität muß in enger Verbindung mit dem Prinzip der Solidarität gewahrt werden und umgekehrt. Denn wenn die Subsidiarität ohne die Solidarität in einen sozialen Partikularismus abrutscht, so ist ebenfalls wahr, daß die Solidarität ohne die Subsidiarität in ein Sozialsystem abrutscht, das den Bedürftigen erniedrigt. Diese Regel allgemeiner Art muß ebenso sehr beachtet werden, wenn Fragen bezüglich internationaler Entwicklungshilfen angegangen werden. Diese können jenseits der Absichten der Geber mitunter ein Volk in einer Lage der Abhängigkeit halten oder sogar Situationen von lokaler Herrschaft und Ausbeutung innerhalb des Hilfeempfängerlandes begünstigen. Damit die Wirtschaftshilfen auch wirklich solche sind, dürfen sie keine Hintergedanken verfolgen. Sie müssen unter Miteinbeziehung nicht nur der Regierungen der betroffenen Länder geleistet werden, sondern auch der örtlichen Wirtschaftstreibenden und der Kulturträger der Zivilgesellschaft, einschließlich der örtlichen Kirchen. Die Hilfsprogramme müssen in immer größerem Ausmaß die Merkmale von Programmen annehmen, die Ergänzung und Partizipation von unten einbeziehen. Es ist nämlich wahr, daß in den Ländern, die Entwicklungshilfe empfangen, die größte hervorzuhebende Ressource der Reichtum an Menschen ist: Das ist das echte Kapital, das wachsen muß, um den ärmsten Ländern eine wahre autonome Zukunft zu sichern. Es ist auch daran zu erinnern, daß auf wirtschaftlichem Gebiet die Haupthilfe, derer die Entwicklungsländer bedürfen, darin besteht, die schrittweise Eingliederung ihrer Produkte auf den Weltmärkten zu erlauben und zu fördern und so ihre volle Teilnahme am internationalen Wirtschaftsleben zu ermöglichen. Zu oft haben in der Vergangenheit die Hilfen dazu genützt, nur Nebenmärkte für die Produkte dieser Länder zu schaffen. Dies ist oft vom Fehlen einer echten Nachfrage nach diesen Produkten bedingt: Daher ist es notwendig, diesen Ländern zu helfen, ihre Produkte zu verbessern und sie besser der Nachfrage anzupassen. Überdies haben einige oft die Konkurrenz der Einfuhr von – normalerweise landwirtschaftlichen – Produkten aus den wirtschaftlich ärmeren Ländern gefürchtet. Dennoch muß daran erinnert werden, daß für diese Länder die Möglichkeit zur Vermarktung solcher Produkte sehr oft bedeutet, ihr Überleben auf kurze und lange Zeit zu sichern. Ein gerechter und ausgeglichener Welthandel im Agrarbereich kann für alle Vorteile bringen, sowohl auf Seiten des Angebots wie der Nachfrage. Aus diesem Grund ist es nicht nur notwendig, diese Produktionen kommerziell auszurichten, sondern Welthandelsregeln festzulegen, die sie unterstützen, und die Finanzierungen für die Entwicklung zu verstärken, um diese Wirtschaften produktiver zu machen.

59. Die Entwicklungszusammenarbeit darf nicht die wirtschaftliche Dimension allein betreffen; sie muß eine gute Gelegenheit zur kulturellen und menschlichen Begegnung werden. Wenn die Träger der Kooperation in den wirtschaftlich entwickelten Ländern nicht der eigenen und der fremden kulturellen und auf menschlichen Werten gründenden Identität Rechnung tragen, wie es mitunter geschieht, können sie keinen tiefen Dialog mit den Bürgern der armen Ländern aufnehmen. Wenn letztere ihrerseits sich gleichgültig und unterschiedslos jedem kulturellen Angebot öffnen, sind sie nicht in der Lage, die Verantwortung für ihre echte Entwicklung zu übernehmen.[139] Die technologisch fortgeschrittenen Gesellschaften dürfen die eigene technologische Entwicklung nicht mit einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit verwechseln, sondern müssen bei sich selber zuweilen vergessene Tugenden wiederentdecken, die ihnen eine Blüte in der Geschichte gebracht haben. Die aufstrebenden Gesellschaften müssen dem treu bleiben, was in ihren Traditionen an echt Menschlichem vorhanden ist, indem sie eine automatische Überlagerung mit den Mechanismen der globalisierten technologischen Zivilisation vermeiden. In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt wird.[140] Ein solches universales Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen. Die Zustimmung zu diesem in die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede konstruktive soziale Zusammenarbeit. In allen Kulturen gibt es Beschwerliches, von dem man sich befreien, und Schatten, denen man sich entziehen muß. Der christliche Glaube, der in den Kulturen Gestalt annimmt und sie dabei transzendiert, kann ihnen helfen, in universaler Gemeinschaft und Solidarität zum Vorteil der gemeinsamen weltweiten Entwicklung zu wachsen.

60. Bei der Suche nach Lösungen in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise muß die Entwicklungshilfe für die armen Länder als ein echtes Mittel zur Vermögensschaffung für alle angesehen werden. Welches andere Hilfsprojekt kann eine selbst für die Weltwirtschaft so bedeutende Wertsteigerung in Aussicht stellen wie die Unterstützung von Völkern, die sich noch in einer Anfangsphase oder wenig fortgeschrittenen Phase ihres wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses befinden? Aus diesem Blickwinkel werden die wirtschaftlich mehr entwickelten Länder das Mögliche tun, um höhere Sätze ihres Bruttoinlandprodukts für die Entwicklungshilfe bereitzustellen, wobei natürlich die auf der Ebene der internationalen Gemeinschaft übernommenen Verpflichtungen einzuhalten sind. Sie können dies unter anderem durch eine Revision der Politik der Fürsorge und sozialen Solidarität in ihrem Inneren tun, indem sie das Prinzip der Subsidiarität anwenden und besser integrierte Systeme sozialer Vorsorge mit aktiver Teilnahme der Privatpersonen und der Zivilgesellschaft schaffen. Auf diese Weise ist es sogar möglich, die Sozial- und Fürsorgeleistungen zu verbessern und gleichzeitig Geldmittel zu sparen – auch unter Beseitigung von Verschwendungen und mißbräuchlichen Bezügen –, die für die internationale Solidarität zu bestimmen sind. Ein System sozialer Solidarität, das eine größere Beteiligung kennt und organischer aufgebaut ist, das weniger bürokratisch, aber nicht weniger koordiniert ist, würde es erlauben, viele heute schlummernde Energien auch zum Nutzen der Solidarität unter den Völkern zur Geltung zu bringen.

Eine Möglichkeit der Entwicklungshilfe könnte auf der wirksamen Anwendung der sogenannten steuerlichen Subsidiarität beruhen, die es den Bürgern gestatten würde, über den Bestimmungszweck von Anteilen ihrer dem Staat erbrachten Steuern zu entscheiden. Wenn partikularistische Ausartungen vermieden werden, kann dies dazu verhelfen, Formen sozialer Solidarität von unten zu fördern, wobei offensichtliche Vorteile auch auf Seiten der Solidarität für die Entwicklung bestehen.

61. Eine auf internationaler Ebene breitere Solidarität drückt sich vor allem in der weiteren Förderung – selbst unter den Verhältnissen einer Wirtschaftskrise – eines größeren Zugangs zur Bildung aus, die andererseits eine wesentliche Bedingung für die Wirksamkeit der internationalen Zusammenarbeit selber ist. Der Begriff „Bildung“ bezieht sich nicht allein auf Unterricht und Ausbildung zum Beruf, die beide wichtige Gründe für die Entwicklung sind, sondern auf die umfassende Formung der Person. Diesbezüglich ist ein problematischer Aspekt hervorzuheben: Bei der Erziehung muß man wissen, was die menschliche Person ist, und ihre Natur kennen. Die Behauptung einer relativistischen Sicht dieser Natur stellt die Erziehung, vor allem die moralische Erziehung, vor ernste Probleme, indem sie ihre erweiterte Bedeutung auf universaler Ebene beeinträchtigt. Wenn man einem solchen Relativismus nachgibt, werden alle ärmer, was negative Auswirkungen auch auf die Wirksamkeit der Hilfe für die notleidenden Völker hat, die nicht nur der wirtschaftlichen und technischen Mittel bedürfen, sondern auch pädagogische Möglichkeiten und Mittel brauchen, die die Personen in ihrer vollen menschlichen Verwirklichung unterstützen.

Ein Beispiel für die Bedeutung dieses Problems bietet uns das Phänomen des internationalen Tourismus,[141] der einen beträchtlichen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung und das kulturelle Wachstum darstellen kann, sich aber auch in eine Gelegenheit zu Ausbeutung und moralischem Verfall verwandeln kann. Die gegenwärtige Situation bietet außergewöhnliche Möglichkeiten, denn die wirtschaftlichen Aspekte der Entwicklung, das heißt die Geldflüsse und der Anfang bedeutender unternehmerischer Erfahrungen vor Ort, können sich mit den kulturellen Aspekten, in erster Linie mit jenem der Bildung, verbinden. In vielen Fällen geschieht dies, aber in vielen anderen ist der internationale Tourismus ein in erzieherischer Hinsicht verderbliches Ereignis sowohl für den Touristen als auch für die örtliche Bevölkerung. Letztere wird oft mit unmoralischem oder sogar perversem Verhalten konfrontiert, wie es beim sogenannten Sextourismus der Fall ist, dem viele Menschen, selbst in jugendlichem Alter, zum Opfer fallen. Es ist schmerzlich festzustellen, daß dies sich oft mit Zustimmung der örtlichen Regierungen, mit dem Schweigen der Regierungen der Herkunftsländer der Touristen und in Komplizenschaft vieler, die in der Branche tätig sind, abspielt. Auch wenn es nicht zu solchen Auswüchsen kommt, wird der internationale Tourismus nicht selten als Konsum und in hedonistischer Form gelebt, als Flucht und unter den für die Herkunftsländer typischen Bedingungen organisiert, so daß eine echte Begegnung mit den Menschen und der Kultur nicht begünstigt wird. Man muß daher an einen anderen Tourismus denken, der in der Lage ist, ein echtes gegenseitiges Kennenlernen zu fördern, ohne der Erholung und dem gesunden Vergnügen Raum wegzunehmen: Ein Tourismus dieser Art muß – auch dank einer engeren Verbindung der Erfahrung von internationaler Zusammenarbeit und zugunsten der Entwicklung – gefördert werden.

62. Ein anderer Aspekt, der in bezug auf die ganzheitliche menschliche Entwicklung Beachtung verdient, ist das Phänomen der Migrationen. Dieses Phänomen erschüttert einen wegen der Menge der betroffenen Personen, wegen der sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und religiösen Probleme, die es aufwirft, wegen der dramatischen Herausforderungen, vor die es die Nationen und die internationale Gemeinschaft stellt. Wir können sagen, daß wir vor einem sozialen Phänomen epochaler Art stehen, das eine starke und weitblickende Politik der internationalen Kooperation verlangt, um es in angemessener Weise anzugehen. Eine solche Politik muß ausgehend von einer engen Zusammenarbeit zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern der Migranten entwickelt werden; sie muß mit angemessenen internationalen Bestimmungen einhergehen, die imstande sind, die verschiedenen gesetzgeberischen Ordnungen in Einklang zu bringen in der Aussicht, die Bedürfnisse und Rechte der ausgewanderten Personen und Familien sowie zugleich der Zielgesellschaften der Emigranten selbst zu schützen. Kein Land kann sich allein dazu imstande sehen, den Migrationsproblemen unserer Zeit zu begegnen. Wir alle sind Zeugen der Last an Leid, Entbehrung und Hoffnung, die mit den Migrationsströmen einhergeht. Das Phänomen zu steuern ist bekanntermaßen komplex; dennoch steht fest, daß die Fremdarbeiter trotz der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit ihrer Integration durch ihre Arbeit einen bedeutenden Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung des Gastlandes leisten und darüber hinaus dank der Geldsendungen auch einen Beitrag zur Entwicklung ihrer Herkunftsländer erbringen. Offensichtlich können diese Arbeitnehmer nicht als Ware oder reine Arbeitskraft angesehen werden. Sie dürfen folglich nicht wie irgendein anderer Produktionsfaktor behandelt werden. Jeder Migrant ist eine menschliche Person, die als solche unveräußerliche Grundrechte besitzt, die von allen und in jeder Situation respektiert werden müssen.[142]

63. Bei der Betrachtung der Probleme der Entwicklung kann man nicht anders, als den direkten Zusammenhang zwischen Armut und Arbeitslosigkeit hervorzuheben. In vielen Fällen sind die Armen das Ergebnis der Verletzung der Würde der menschlichen Arbeit, da sowohl ihre Möglichkeiten beschränkt werden (Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung) als auch »die Rechte, die sich aus ihr ergeben, vor allem das Recht auf angemessene Entlohnung und auf die Sicherheit der Person des Arbeitnehmers und seiner Familie, entleert werden«.[143] Deswegen hat mein Vorgänger seligen Angedenkens Johannes Paul II. schon am 1. Mai 2000 anläßlich des Jubiläums der Arbeiter zu einer »weltweiten Koalition für würdige Arbeit«[144] aufgerufen und dabei die Strategie der Internationalen Arbeitsorganisation gefördert. Auf diese Weise hat er diesem Ziel als Bestrebung der Familien in allen Ländern der Welt eine starke moralische Bestätigung verliehen. Was bedeutet das Wort „Würde“ auf die Arbeit angewandt? Es bedeutet eine Arbeit, die in jeder Gesellschaft Ausdruck der wesenseigenen Würde jedes Mannes und jeder Frau ist: eine frei gewählte Arbeit, die die Arbeitnehmer, Männer und Frauen, wirksam an der Entwicklung ihrer Gemeinschaft teilhaben läßt; eine Arbeit, die auf diese Weise den Arbeitern erlaubt, ohne jede Diskriminierung geachtet zu werden; eine Arbeit, die es gestattet, die Bedürfnisse der Familie zu befriedigen und die Kinder zur Schule zu schicken, ohne daß diese selber gezwungen sind zu arbeiten; eine Arbeit, die den Arbeitnehmern erlaubt, sich frei zu organisieren und ihre Stimme zu Gehör zu bringen; eine Arbeit, die genügend Raum läßt, um die eigenen persönlichen, familiären und spirituellen Wurzeln wiederzufinden; eine Arbeit, die den in die Rente eingetretenen Arbeitnehmern würdige Verhältnisse sichert.

64. Beim Nachdenken über das Thema Arbeit ist auch ein Hinweis auf den dringenden Bedarf angebracht, daß die Gewerkschaftsorganisationen der Arbeitnehmer, die von der Kirche stets gefördert und unterstützt wurden, sich den neuen Perspektiven öffnen, die im Bereich der Arbeit auftauchen. In Überwindung der eigenen Grenzen der kategorialen Gewerkschaften sind die Gewerkschaftsorganisationen dazu aufgerufen, sich um die neuen Probleme unserer Gesellschaft zu kümmern: Ich beziehe mich zum Beispiel auf die Gesamtheit der Fragen, die die Sozialwissenschaftler im Konflikt zwischen Arbeitnehmer und Konsument ermitteln. Ohne notwendigerweise die These eines erfolgten Übergangs von der zentralen Rolle des Arbeiters zu der des Konsumenten vertreten zu müssen, scheint es jedenfalls, daß auch das ein Gebiet für innovative Gewerkschaftserfahrungen ist. Der globale Rahmen, in dem die Arbeit ausgeübt wird, verlangt auch, daß die nationalen Gewerkschaftsorganisationen, die sich vorwiegend auf die Verteidigung der Interessen der eigenen Mitglieder beschränken, den Blick ebenso auf die Nichtmitglieder richten und insbesondere auf die Arbeitnehmer in den Entwicklungsländern, wo die Sozialrechte oft verletzt werden. Die Verteidigung dieser Erwerbstätigen, die auch durch geeignete Initiativen gegenüber ihren Herkunftsländern gefördert wird, erlaubt den Gewerkschaftsorganisationen, die echten ethischen und kulturellen Gründe hervorzuheben, die es ihnen unter anderen sozialen und Arbeitszusammenhängen gestattet haben, ein entscheidender Faktor für die Entwicklung zu sein. Stets bleibt die traditionelle Lehre der Kirche gültig, die eine Rollen- und Aufgabenunterscheidung von Gewerkschaft und Politik vorschlägt. Diese Unterscheidung erlaubt den Gewerkschaftsorganisationen, in der Zivilgesellschaft jenen Bereich herauszufinden, der am meisten ihrer Tätigkeit entspricht, für die notwendige Verteidigung und Förderung der Arbeitswelt vor allem zugunsten der ausgebeuteten und nicht vertretenen Arbeitnehmer Sorge zu tragen, deren bittere Lage dem zerstreuten Blick der Gesellschaft oft entgeht.

65. Ferner bedarf das Finanzwesen als solches einer notwendigen Erneuerung der Strukturen und Bestimmungen seiner Funktionsweisen, deren schlechte Anwendung die Realwirtschaft zuvor geschädigt hat. Auf diese Weise kann es dann wieder ein auf die bessere Vermögensschaffung und auf die Entwicklung zielgerichtetes Instrument werden. Die ganze Wirtschaft und das ganze Finanzwesen – nicht nur einige ihrer Bereiche – müssen nach ethischen Maßstäben als Werkzeuge gebraucht werden, so daß sie angemessene Bedingungen für die Entwicklung des Menschen und der Völker schaffen. Es ist gewiß nützlich und unter manchen Umständen unerläßlich, Finanzinitiativen ins Leben zu rufen, bei denen die humanitäre Dimension vorherrscht. Dies darf aber nicht vergessen lassen, daß das Finanzsystem insgesamt auf die Unterstützung einer echten Entwicklung zielgerichtet sein muß. Vor allem darf die Absicht, Gutes zu tun, nicht der Intention nach der tatsächlichen Güterproduktionskapazität gegenübergestellt werden. Die Finanzmakler müssen die eigentlich ethische Grundlage ihrer Tätigkeit wieder entdecken, um nicht jene hoch entwickelten Instrumente zu mißbrauchen, die dazu dienen können, die Sparer zu betrügen. Redliche Absicht, Transparenz und die Suche nach guten Ergebnissen sind miteinander vereinbar und dürfen nie voneinander gelöst werden. Wenn die Liebe klug ist, kann sie auch die Mittel finden, um gemäß einer weitblickenden und gerechten Wirtschaftlichkeit zu handeln, wie viele Erfahrungen auf dem Gebiet der Kreditgenossenschaften deutlich unterstreichen.

Sowohl eine Regulierung des Bereichs, welche die schwächeren Subjekte absichert und skandalöse Spekulationen verhindert, als auch der Versuch neuer Finanzformen, die zur Förderung von Entwicklungsprojekten bestimmt sind, bedeuten positive Erfahrungen, die vertieft und gefördert werden müssen und zugleich an die Eigenverantwortung des Sparers appellieren. Auch die Erfahrung des Mikrofinanzwesens, das seine eigenen Wurzeln in den Überlegungen und Werken der bürgerlichen Humanisten hat – ich denke vor allem an das Entstehen der Leihhäuser –, muß bestärkt und ausgearbeitet werden, besonders in diesen Momenten, in denen die Finanzprobleme für viele verwundbarere Teile der Bevölkerung, die vor den Risiken von Wucher oder vor der Hoffnungslosigkeit geschützt werden müssen, dramatisch werden können. Die schwächeren Subjekte müssen angeleitet werden, sich vor dem Wucher zu verteidigen. Ebenso sind die armen Völker darin zu schulen, realen Nutzen aus dem Mikrokredit zu ziehen. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten von Ausbeutung in diesen zwei Bereichen gebremst. Da es auch in den reichen Ländern neue Formen von Armut gibt, kann das Mikrofinanzwesen Hilfen geben, neue Initiativen und Bereiche zugunsten der schwachen Gesellschaftsschichten selbst in Phasen einer möglichen Verarmung der Gesellschaft zu schaffen.

66. Die weltweite Vernetzung hat eine neue politische Macht aufsteigen lassen, und zwar jene der Konsumenten und ihrer Verbände. Es handelt sich um ein Phänomen, das eingehend zu studieren ist, weil es positive Elemente enthält, die gefördert werden müssen, wie auch Übertreibungen, die zu vermeiden sind. Es ist gut, daß sich die Menschen bewußt werden, daß das Kaufen nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine moralische Handlung ist. Die Konsumenten haben daher eine klare soziale Verantwortung, die mit der sozialen Verantwortung des Unternehmens einhergeht. Sie müssen ständig zu der Rolle erzogen werden,[145] die sie täglich ausüben und die sie in der Achtung vor den moralischen Grundsätzen ausführen können, ohne die eigene wirtschaftliche Vernünftigkeit des Kaufakts herabzusetzen. Gerade in Zeiten wie denen, die wir erleben, in denen die Kaufkraft sich verringern könnte und man sich beim Konsum mäßigen sollte, ist es auch im Bereich des Erwerbs notwendig, andere Wege zu beschreiten, wie zum Beispiel die Formen von Einkaufskooperativen wie die Konsumgenossenschaften, die seit dem neunzehnten Jahrhundert auch dank der Initiative von Katholiken tätig sind. Ferner ist es nützlich, neue Formen der Vermarktung von Produkten, die aus unterdrückten Gebieten der Erde stammen, zu fördern, um den Erzeugern einen annehmbaren Lohn zu sichern unter der Bedingung, daß es sich wirklich um einen transparenten Markt handelt, daß die Erzeuger nicht nur eine höhere Gewinnspanne, sondern auch eine bessere Ausbildung, Professionalität und Technologie erhalten und daß sich schließlich mit solchen Wirtschaftserfahrungen für die Entwicklung nicht parteiideologische Ansichten verbinden. Eine wirksamere Rolle der Verbraucher, wenn diese selbst nicht von Verbänden manipuliert werden, die sie nicht wirklich vertreten, ist als Faktor einer wirtschaftlichen Demokratie wünschenswert.

67. Gegenüber der unaufhaltsamen Zunahme weltweiter gegenseitiger Abhängigkeit wird gerade auch bei einer ebenso weltweit anzutreffenden Rezession stark die Dringlichkeit einer Reform sowohl der Organisation der Vereinten Nationen als auch der internationalen Wirtschafts- und Finanzgestaltung empfunden, damit dem Konzept einer Familie der Nationen reale und konkrete Form gegeben werden kann. Desgleichen wird als dringlich gesehen, innovative Formen zu finden, um das Prinzip der Schutzverantwortung[146] anzuwenden und um auch den ärmeren Nationen eine wirksame Stimme in den gemeinschaftlichen Entscheidungen zuzuerkennen. Dies scheint gerade im Hinblick auf eine politische, rechtliche und wirtschaftliche Ordnung notwendig, die die internationale Zusammenarbeit auf die solidarische Entwicklung aller Völker hin fördert und ausrichtet. Um die Weltwirtschaft zu steuern, die von der Krise betroffenen Wirtschaften zu sanieren, einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten vorzubeugen, um eine geeignete vollständige Abrüstung zu verwirklichen, sowie Ernährungssicherheit und Frieden zu verwirklichen, den Umweltschutz zu gewährleisten und die Migrationsströme zu regulieren, ist das Vorhandensein einer echten politischen Weltautorität, wie sie schon von meinem Vorgänger, dem seligen Papst Johannes XXIII., angesprochen wurde, dringend nötig. Eine solche Autorität muß sich dem Recht unterordnen, sich auf konsequente Weise an die Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität halten, auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hingeordnet sein,[147] sich für die Verwirklichung einer echten ganzheitlichen menschlichen Entwicklung einsetzen, die sich von den Werten der Liebe in der Wahrheit inspirieren läßt. Darüber hinaus muß diese Autorität von allen anerkannt sein, über wirksame Macht verfügen, um für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten.[148] Offensichtlich muß sie die Befugnis besitzen, gegenüber den Parteien den eigenen Entscheidungen wie auch den in den verschiedenen internationalen Foren getroffenen abgestimmten Maßnahmen Beachtung zu verschaffen. In Ermangelung dessen würde nämlich das internationale Recht trotz der großen Fortschritte, die auf den verschiedenen Gebieten erzielt worden sind, Gefahr laufen, vom Kräftegleichgewicht der Stärkeren bestimmt zu werden. Die ganzheitliche Entwicklung der Völker und die internationale Zusammenarbeit erfordern, daß eine übergeordnete Stufe internationaler Ordnung von subsidiärer Art für die Steuerung der Globalisierung errichtet wird[149] und daß eine der moralischen Ordnung entsprechende Sozialordnung sowie jene Verbindung zwischen moralischem und sozialem Bereich, zwischen Politik und wirtschaftlichem und zivilem Bereich, die schon in den Statuten der Vereinten Nationen dargelegt wurde, endlich verwirklicht werden.

 

SECHSTES KAPITEL

DIE ENTWICKLUNG DER VÖLKER UND DIE TECHNIK

68. Das Thema der Entwicklung der Völker ist eng mit dem der Entwicklung jedes einzelnen Menschen verbunden. Der Mensch ist von seiner Natur aus in dynamischer Weise auf die eigene Entwicklung ausgerichtet. Dabei handelt es sich nicht um eine von natürlichen Mechanismen gewährleistete Entwicklung, denn jeder von uns weiß, daß er imstande ist, freie und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen. Es handelt sich auch nicht um eine Entwicklung, die unserer Willkür überlassen ist, da wir alle wissen, daß wir Geschenk sind und nicht Ergebnis einer Selbsterzeugung. Die Freiheit ist in uns ursprünglich von unserem Sein und dessen Grenzen bestimmt. Niemand formt eigenmächtig das eigene Bewußtsein, sondern alle bauen das eigene „Ich“ auf der Grundlage eines „Selbst“ auf, das uns gegeben ist. Wir können über andere Menschen und auch über uns selbst nicht verfügen. Die Entwicklung des Menschen verkommt, wenn er sich anmaßt, sein eigener und einziger Hervorbringer zu sein. Ähnlich gerät die Entwicklung der Völker aus den Bahnen, wenn die Menschheit meint, sich wiedererschaffen zu können, wenn sie sich der „Wunder“ der Technik bedient. So wie sich die wirtschaftliche Entwicklung als trügerisch und schädlich herausstellt, wenn sie sich den „Wundern“ der Finanzwelt anvertraut, um ein unnatürliches und konsumorientiertes Wachstum zu unterstützen. Gegenüber dieser prometheischen Anmaßung müssen wir die Liebe zu einer Freiheit stärken, die nicht willkürlich ist, sondern durch die Anerkennung des ihr vorausgehenden Guten menschlicher geworden ist. Dazu muß der Mensch wieder zu sich kommen, um die Grundnormen des natürlichen Sittengesetzes zu erkennen, das Gott ihm ins Herz geschrieben hat.

69. Das Problem der Entwicklung ist heute eng mit dem technologischen Fortschritt und mit dessen erstaunlichen Anwendungen im Bereich der Biologie verbunden. Die Technik – das sei hier unterstrichen – ist eine zutiefst menschliche Erscheinung, die an die Autonomie und Freiheit des Menschen geknüpft ist. In der Technik kommt zum Ausdruck und bestätigt sich die Herrschaft des Geistes über die Materie. »Der Geist des Menschen kann sich, von der Versklavung unter die Sachwelt befreit, ungehinderter zur Kontemplation und Anbetung des Schöpfers erheben«.[150] Die Technik gestattet es, die Materie zu beherrschen, die Risiken zu verringern, Mühe zu sparen, die Lebensbedingungen zu verbessern. Sie entspricht der eigentlichen Berufung der menschlichen Arbeit: In der Technik, die als Werk seines Geistes gesehen wird, erkennt der Mensch sich selbst und verwirklicht das eigene Menschsein. Die Technik ist der objektive Aspekt der menschlichen Arbeit,[151] deren Ursprung und Daseinsberechtigung im subjektiven Element liegt: dem arbeitenden Menschen. Darum ist die Technik niemals nur Technik. Sie zeigt den Menschen und sein Streben nach Entwicklung, sie ist Ausdruck der Spannung des menschlichen Geistes bei der schrittweisen Überwindung gewisser materieller Bedingtheiten. Die Technik fügt sich daher in den Auftrag ein, »die Erde zu bebauen und zu hüten« (vgl. Gen 2, 15), den Gott dem Menschen erteilt hat, und muß darauf ausgerichtet sein, jenen Bund zwischen Mensch und Umwelt zu stärken, der Spiegel der schöpferischen Liebe Gottes sein soll.

70. Die technologische Entwicklung kann zur Idee verleiten, daß sich die Technik selbst genügt, wenn der Mensch sich nur die Frage nach dem Wie stellt und die vielen Warum unbeachtet läßt, von denen er zum Handeln angespornt wird. Das ist der Grund dafür, daß die Technik ein zwiespältiges Gesicht annimmt. Da sie aus der menschlichen Kreativität als dem Werkzeug der Freiheit der Person hervorgegangen ist, kann die Technik als Element absoluter Freiheit verstanden werden, jener Freiheit, die von den Grenzen absehen will, die die Dinge in sich tragen. Der Globalisierungsprozeß könnte die Ideologien durch die Technik ersetzen,[152] die selbst zu einer ideologischen Macht geworden ist und die Menschheit der Gefahr aussetzt, sich in einem Apriori eingeschlossen zu finden, aus dem sie nicht ausbrechen kann, um dem Sein und der Wahrheit zu begegnen. In diesem Fall würden wir alle unsere Lebensumstände innerhalb eines technokratischen Kulturhorizonts, dem wir strukturell angehören würden, erkennen, einschätzen und bestimmen, ohne je einen Sinn finden zu können, den wir nicht selbst erzeugt haben. Diese Vorstellung macht heute die technizistische Mentalität so stark, daß sie das Wahre mit dem Machbaren zusammenfallen läßt. Wenn aber die Effizienz und der Nutzen das einzige Kriterium der Wahrheit sind, wird automatisch die Entwicklung geleugnet. Denn die echte Entwicklung besteht nicht in erster Linie im Tun. Schlüssel der Entwicklung ist ein Verstand, der in der Lage ist, die Technik zu durchdenken und den zutiefst menschlichen Sinn des Tuns des Menschen im Sinnhorizont der in der Gesamtheit ihres Seins genommenen Person zu erfassen. Auch wenn der Mensch durch einen Satelliten oder einen ferngesteuerten elektronischen Impuls tätig ist, bleibt sein Tun immer menschlich, Ausdruck verantwortlicher Freiheit. Die Technik wirkt auf den Menschen sehr anziehend, weil sie ihn den physischen Beschränkungen entreißt und seinen Horizont erweitert. Aber die menschliche Freiheit ist nur dann im eigentlichen Sinn sie selbst, wenn sie auf den Zauber der Technik mit Entscheidungen antwortet, die Frucht moralischer Verantwortung sind. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit einer Erziehung zur sittlichen Verantwortung im Umgang mit der Technik. Ausgehend von der Faszination, die die Technik auf den Menschen ausübt, muß man den wahren Sinn der Freiheit wiedergewinnen, die nicht in der Trunkenheit einer totalen Autonomie besteht, sondern in der Antwort auf den Aufruf des Seins, angefangen bei dem Sein, das wir selbst sind.

71. Dieses mögliche Abweichen der technischen Denkweise von ihrem ursprünglichen humanistischen Lauf ist heute in den Phänomenen der Technisierung sowohl der Entwicklung wie des Friedens offenkundig. Häufig wird die Entwicklung der Völker als eine Frage der Finanzierungstechnik, der Öffnung der Märkte, der Zollsenkung, der Produktionsinvestitionen, der institutionellen Reformen – letztlich als eine rein technische Frage gesehen. Alle diese Bereiche sind äußerst wichtig, aber man muß sich fragen, warum die Entscheidungen technischer Art bis jetzt nur einigermaßen funktioniert haben. Der Grund dafür muß tiefer gesucht werden. Die Entwicklung wird niemals von gleichsam automatischen und unpersönlichen Kräften – seien es jene des Marktes oder jene der internationalen Politik – vollkommen garantiert werden. Ohne rechtschaffene Menschen, ohne Wirtschaftsfachleute und Politiker, die in ihrem Gewissen den Aufruf zum Gemeinwohl nachdrücklich leben, ist die Entwicklung nicht möglich. Sowohl die berufliche Vorbereitung wie die moralische Konsequenz sind vonnöten. Wenn sich die Verabsolutierung der Technik durchsetzt, kommt es zu einer Verwechslung von Zielen und Mitteln; der Unternehmer wird als einziges Kriterium für sein Handeln den höchsten Gewinn der Produktion ansehen; der Politiker die Festigung der Macht; der Wissenschaftler das Ergebnis seiner Entdeckungen. So geschieht es, daß oft unter dem Netz der Wirtschafts-, Finanz- oder politischen Beziehungen Unverständnis, Unbehagen und Ungerechtigkeiten weiterbestehen; die Ströme technischen Fachwissens vervielfachen sich, allerdings zum Vorteil ihrer Eigentümer, während die tatsächliche Situation der Völker, die jenseits und fast immer im Schatten dieser Ströme leben, weiter unverändert und ohne reale Emanzipationsmöglichkeiten bleibt.

72. Auch der Friede läuft mitunter Gefahr, als ein technisches Produkt – lediglich als Ergebnis von Abkommen zwischen Regierungen oder von Initiativen zur Sicherstellung effizienter Wirtschaftshilfen – betrachtet zu werden. Es stimmt, daß der Aufbau des Friedens das ständige Knüpfen diplomatischer Kontakte, wirtschaftlichen und technologischen Austausch, kulturelle Begegnungen, Abkommen über gemeinsame Vorhaben ebenso erfordert wie die Übernahme gemeinsam geteilter Verpflichtungen, um kriegerische Bedrohungen einzudämmen und die regelmäßig wiederkehrenden terroristischen Versuchungen an der Wurzel freizulegen. Damit diese Bemühungen dauerhafte Wirkungen hervorbringen können, müssen sie sich allerdings auf Werte stützen können, die in der Wahrheit des Lebens verwurzelt sind. Das heißt, man muß die Stimme der betreffenden Bevölkerung hören und sich ihre Lage anschauen, um ihre Erwartungen entsprechend zu deuten. Hier muß man sich sozusagen ständig in eine Linie mit der anonym geleisteten Anstrengung so vieler Menschen stellen, die sich sehr dafür engagieren, die Begegnung zwischen den Völkern zu fördern und die Entwicklung ausgehend von Liebe und gegenseitigem Verständnis zu begünstigen. Unter diesen Personen sind auch gläubige Christen, die an der großen Aufgabe beteiligt sind, der Entwicklung und dem Frieden einen vollauf menschlichen Sinn zu geben.

73. Mit der technologischen Entwicklung verbunden ist die gestiegene Verbreitung der sozialen Kommunikationsmittel. Es ist bereits fast unmöglich, sich die Existenz der menschlichen Familie ohne sie vorzustellen. Im guten wie im bösen sind sie dermaßen im Leben der Welt präsent, daß die Einstellung derjenigen, die die Neutralität der sozialen Kommunikationsmittel behaupten und daher ihre Autonomie in bezug auf die die Menschen betreffende Moral fordern, wirklich absurd erscheint. Derartige Sichtweisen, die die strikt technische Natur der Medien nachdrücklich betonen, begünstigen tatsächlich oft ihre Unterordnung unter das wirtschaftliche Kalkül, unter die Absicht, die Märkte zu beherrschen, und nicht zuletzt unter das Verlangen, kulturelle Parameter aufzuerlegen, die Projekten ideologischer und politischer Macht dienen. Angesichts ihrer fundamentalen Bedeutung bei der Bestimmung von Veränderungen in der Art und Weise, wie die Wirklichkeit und die menschliche Person selbst wahrgenommen und kennengelernt wird, wird ein aufmerksames Nachdenken über ihren Einfluß besonders gegenüber der ethisch-kulturellen Dimension der Globalisierung und der solidarischen Entwicklung der Völker notwendig. Entsprechend dem, was von einem korrekten Umgang mit der Globalisierung und Entwicklung gefordert wird, müssen Sinn und Zielsetzung der Medien auf anthropologischer Grundlage gesucht werden. Das heißt, daß sie nicht nur dann Gelegenheit zur Humanisierung werden können, wenn sie dank der technologischen Entwicklung größere Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten bieten, sondern vor allem dann, wenn sie im Licht eines Bildes vom Menschen und vom Gemeinwohl, das deren universale Bedeutung widerspiegelt, organisiert und ausgerichtet werden. Die sozialen Kommunikationsmittel begünstigen weder die Freiheit noch globalisieren sie die Entwicklung und die Demokratie für alle einfach deshalb, weil sie die Möglichkeiten der Verbindung und Zirkulation von Ideen vervielfachen. Um solche Ziele zu erreichen, müssen sie auf die Förderung der Würde der Menschen und der Völker ausgerichtet sein, ausdrücklich von der Liebe beseelt sein und im Dienst der Wahrheit, des Guten sowie der natürlichen und übernatürlichen Brüderlichkeit stehen. In der Menschheit ist die Freiheit nämlich mit diesen höheren Werten innerlich verbunden. Die Medien können eine wertvolle Hilfe darstellen, um die Gemeinschaft der menschlichen Familie und das Ethos der Gesellschaften wachsen zu lassen, wenn sie Werkzeuge zur Förderung der allgemeinen Teilnahme an der gemeinsamen Suche nach dem, was gerecht ist, werden.

74. Der wichtigste und entscheidende Bereich der kulturellen Auseinandersetzung zwischen dem Absolutheitsanspruch der Technik und der moralischen Verantwortung des Menschen ist heute die Bioethik, wo auf radikale Weise die Möglichkeit einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung selbst auf dem Spiel steht. Es handelt sich um einen äußerst heiklen und entscheidenden Bereich, in dem mit dramatischer Kraft die fundamentale Frage auftaucht, ob sich der Mensch selbst hervorgebracht hat oder ob er von Gott abhängt. Die wissenschaftlichen Entdeckungen auf diesem Gebiet und die Möglichkeiten technischer Eingriffe scheinen so weit vorangekommen zu sein, daß sie uns vor die Wahl zwischen den zwei Arten der Rationalität stellen: die auf Transzendenz hin offene Vernunft oder die in der Immanenz eingeschlossene Vernunft. Man steht also vor einem entscheidenden Entweder-Oder. Die Rationalität des auf sich selbst zentrierten technischen Machens erweist sich jedoch als irrational, weil sie eine entschiedene Ablehnung von Sinn und Wert mit sich bringt. Nicht zufällig prallen das Sich-Verschließen gegenüber der Transzendenz und die Schwierigkeit zu denken, wie aus dem Nichts das Sein hervorgegangen und wie aus dem Zufall der Verstand entstanden sein soll, aufeinander.[153] Angesichts dieser dramatischen Probleme helfen sich Vernunft und Glaube gegenseitig. Nur gemeinsam werden sie den Menschen retten. Die vom reinen technischen Tun gefesselte Vernunft ist ohne den Glauben dazu verurteilt, sich in der Illusion der eigenen Allmacht zu verlieren. Der Glaube ist ohne die Vernunft der Gefahr der Entfremdung vom konkreten Leben der Menschen ausgesetzt.[154]

75. Schon Papst Paul VI. hatte den weltweiten Horizont der sozialen Frage erkannt und auf ihn hingewiesen.[155] Wenn man ihm auf diesem Weg folgt, muß man heute feststellen, daß die soziale Frage in radikaler Weise zu einer anthropologischen Frage geworden ist, insofern sie die Möglichkeit selbst beinhaltet, das Leben, das von den Biotechnologien immer mehr in die Hände des Menschen gelegt wird, nicht nur zu verstehen, sondern auch zu manipulieren. In der heutigen Kultur der totalen Ernüchterung, die glaubt, alle Geheimnisse aufgedeckt zu haben, weil man bereits an die Wurzel des Lebens gelangt ist, kommt es zur Entwicklung und Förderung von In-vitro-Fertilisation, Embryonenforschung, Möglichkeiten des Klonens und der Hybridisierung des Menschen. Hier findet der Absolutheitsanspruch der Technik seinen massivsten Ausdruck. In dieser Art von Kultur ist das Gewissen nur dazu berufen, eine rein technische Möglichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Man kann jedoch nicht die beunruhigenden Szenarien für die Zukunft des Menschen und die neuen mächtigen Instrumente, die der »Kultur des Todes« zur Verfügung stehen, bagatellisieren. Zur verbreiteten tragischen Plage der Abtreibung könnte in Zukunft – aber insgeheim bereits jetzt schon in nuce vorhanden – eine systematische eugenische Geburtenplanung hinzukommen. Auf der entgegengesetzten Seite wird einer mens euthanasica der Weg bereitet, einem nicht weniger mißbräuchlichen Ausdruck der Herrschaft über das Leben, das unter bestimmten Bedingungen als nicht mehr lebenswert betrachtet wird. Hinter diesen Szenarien stehen kulturelle Auffassungen, welche die menschliche Würde leugnen. Diese Praktiken sind ihrerseits dazu bestimmt, eine materielle und mechanistische Auffassung vom menschlichen Leben zu nähren. Wer wird die negativen Auswirkungen einer solchen Mentalität auf die Entwicklung ermessen können? Wie wird man sich noch über die Gleichgültigkeit gegenüber den Situationen menschlichen Verfalls wundern können, wenn die Gleichgültigkeit sogar unsere Haltung gegenüber dem, was menschlich ist oder nicht, kennzeichnet? Es verwundert einen die willkürliche Selektivität all dessen, was heute als achtenswert vorgeschlagen wird. Während viele gleich bereit sind, sich über Nebensächlichkeiten zu entrüsten, scheinen sie unerhörte Ungerechtigkeiten zu tolerieren. Während die Armen der Welt noch immer an die Türen der Üppigkeit klopfen, läuft die reiche Welt Gefahr, wegen eines Gewissens, das bereits unfähig ist, das Menschliche zu erkennen, jene Schläge an ihre Tür nicht mehr zu hören. Gott enthüllt dem Menschen den Menschen; die Vernunft und der Glaube arbeiten zusammen, ihm das Gute zu zeigen, wenn er es nur sehen wollte; das Naturrecht, in dem die schöpferische Vernunft aufscheint, zeigt die Größe des Menschen auf, aber auch sein Elend, wenn er den Ruf der moralischen Wahrheit nicht annimmt.

76. Einer der Aspekte des modernen technisierten Geistes besteht in der Neigung, die mit dem Innenleben verbundenen Fragen und Regungen nur unter einem psychologischen Gesichtspunkt bis hin zum neurologischen Reduktionismus zu betrachten. Die Innerlichkeit des Menschen wird so entleert, und das Bewußtsein von der ontologischen Beschaffenheit der menschlichen Seele mit ihren Tiefen, die die Heiligen auszuloten wußten, geht allmählich verloren. Die Frage der Entwicklung ist auch mit unserer Auffassung von der Seele des Menschen eng verbunden, da unser Ich oft auf die Psyche reduziert wird und die Gesundheit der Seele mit dem emotionalen Wohlbefinden verwechselt wird. Diesen Verkürzungen liegt ein tiefes Unverständnis des geistlichen Lebens zugrunde. Sie führen dazu, nicht anerkennen zu wollen, daß die Entwicklung des Menschen und der Völker jedoch auch von der Lösung von Problemen geistlicher Art abhängt. Die Entwicklung muß außer dem materiellen auch ein geistig-geistliches Wachstum umfassen, weil der Mensch eine »Einheit aus Seele und Leib«[156] ist, geboren von der schöpferischen Liebe Gottes und zum ewigen Leben bestimmt. Der Mensch entwickelt sich, wenn er im Geist wächst, wenn seine Seele sich selbst und die Wahrheiten erkennt, die Gott ihr keimhaft eingeprägt hat, wenn er mit sich selbst und mit seinem Schöpfer redet. Fern von Gott ist der Mensch unstet und krank. Die soziale und psychologische Entfremdung und die vielen Neurosen, die für die reichen Gesellschaften kennzeichnend sind, verweisen auch auf Ursachen geistlicher Natur. Eine materiell entwickelte, aber für die Seele bedrückende Wohlstandsgesellschaft ist an und für sich nicht auf echte Entwicklung ausgerichtet. Die neuen Formen der Knechtschaft der Droge und die Verzweiflung, in die viele Menschen geraten, finden nicht nur eine soziologische und psychologische, sondern eine im wesentlichen geistliche Erklärung. Die Leere, der sich die Seele trotz vieler Therapien für Leib und Psyche überlassen fühlt, ruft Leiden hervor. Es gibt keine vollständige Entwicklung und kein universales Gemeinwohl ohne das geistliche und moralische Wohl der in ihrer Gesamtheit von Seele und Leib gesehenen Personen.

77. Der Absolutheitsanspruch der Technik neigt dazu, eine Unfähigkeit entstehen zu lassen, das wahrzunehmen, was sich nicht mit der bloßen Materie erklären läßt. Und doch erfahren alle Menschen so viele immaterielle und geistige Aspekte ihres Lebens. Erkennen ist nicht ein nur materieller Akt, weil das Erkannte immer etwas verbirgt, was über die empirische Gegebenheit hinausgeht. Jede Erkenntnis, auch die einfachste, ist immer ein kleines Wunder, weil sie sich mit den materiellen Mitteln, die wir anwenden, nie vollständig erklären läßt. In jeder Wahrheit steckt mehr, als wir selbst es uns erwartet hätten, in der Liebe, die wir empfangen, ist immer etwas für uns Überraschendes. Wir sollten niemals aufhören, angesichts dieser Wunder zu staunen. In jeder Erkenntnis und in jeder Liebeshandlung erlebt die Seele des Menschen ein »Mehr«, das sehr einer empfangenen Gabe gleicht, einer Erhabenheit, zu der wir uns erhöht fühlen. Auch die Entwicklung des Menschen und der Völker steht auf einer ähnlichen Höhe, wenn wir die geistige Dimension betrachten, die diese Entwicklung notwendigerweise kennzeichnen muß, damit sie echt sein kann. Sie erfordert neue Augen und ein neues Herz, die imstande sind, die materialistische Sicht der menschlichen Geschehnisse zu überwinden und in der Entwicklung ein „darüber hinaus“ zu sehen, das die Technik nicht geben kann. Auf diesem Weg wird es möglich sein, jene ganzheitliche menschliche Entwicklung fortzusetzen, die ihr Orientierungskriterium in der Antriebskraft der Liebe in der Wahrheit hat.

 

SCHLUSS

78. Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist. Angesichts der enormen Probleme der Entwicklung der Völker, die uns fast zur Mutlosigkeit und zum Aufgeben drängen, kommt uns das Wort des Herrn Jesus Christus zu Hilfe, der uns wissen läßt: »Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen« (Joh 15, 5) und uns ermutigt: »Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt« (Mt 28, 20). Angesichts der Arbeitsfülle, die zu bewältigen ist, werden wir im Glauben an die Gegenwart Gottes aufrechterhalten an der Seite derer, die sich in seinem Namen zusammentun und für die Gerechtigkeit arbeiten. Papst Paul VI. hat uns in Populorum progressio daran erinnert, daß der Mensch nicht in der Lage ist, seinen Fortschritt allein zu betreiben, weil er nicht von sich aus einen echten Humanismus begründen kann. Nur wenn wir daran denken, daß wir als einzelne und als Gemeinschaft dazu berufen sind, als seine Kinder zur Familie Gottes zu gehören, werden wir auch dazu fähig sein, ein neues Denken hervorzubringen und neue Kräfte im Dienst eines echten ganzheitlichen Humanismus zu entfalten. Die große Kraft im Dienst der Entwicklung ist daher ein christlicher Humanismus,[157] der die Liebe belebt und sich von der Wahrheit leiten läßt, indem er die eine und die andere als bleibende Gabe Gottes empfängt. Die Verfügbarkeit gegenüber Gott öffnet uns zur Verfügbarkeit gegenüber den Brüdern und gegenüber einem Leben, das als solidarische und frohe Aufgabe verstanden wird. Umgekehrt stellen die ideologische Verschlossenheit gegenüber Gott und der Atheismus der Gleichgültigkeit, die den Schöpfer vergessen und Gefahr laufen, auch die menschlichen Werte zu vergessen, heute die größten Hindernisse für die Entwicklung dar. Der Humanismus, der Gott ausschließt, ist ein unmenschlicher Humanismus. Nur ein für das Absolute offener Humanismus kann uns bei der Förderung und Verwirklichung von sozialen und zivilen Lebensformen – im Bereich der Strukturen, der Einrichtungen, der Kultur, des Ethos – leiten, indem er uns vor der Gefahr bewahrt, zu Gefangenen von Moden des Augenblicks zu werden. Es ist das Wissen um die unzerstörbare Liebe Gottes, das uns in dem mühsamen und erhebenden Einsatz für die Gerechtigkeit und für die Entwicklung der Völker zwischen Erfolgen und Mißerfolgen in der unablässigen Verfolgung rechter Ordnungen für die menschlichen Angelegenheiten unterstützt. Die Liebe Gottes ruft uns zum Aussteigen aus allem, was begrenzt und nicht endgültig ist; sie macht uns Mut, weiter zu arbeiten in der Suche nach dem Wohl für alle, auch wenn es sich nicht sofort verwirklichen läßt, auch wenn das, was uns zu verwirklichen gelingt – uns und den politischen Autoritäten und Wirtschaftsfachleuten –, stets weniger ist als das, was wir anstreben.[158] Gott gibt uns die Kraft, zu kämpfen und aus Liebe für das gemeinsame Wohl zu leiden, weil er unser Alles, unsere größte Hoffnung ist.

79. Die Entwicklung braucht Christen, die die Arme zu Gott erheben in der Geste des Gebets, Christen, die von dem Bewußtsein getragen sind, daß die von Wahrheit erfüllte Liebe, caritas in veritate, von der die echte Entwicklung ausgeht, nicht unser Werk ist, sondern uns geschenkt wird. Darum müssen wir auch in den schwierigsten und kompliziertesten Angelegenheiten nicht nur bewußt reagieren, sondern uns vor allem auf seine Liebe beziehen. Die Entwicklung beinhaltet Aufmerksamkeit für das geistliche Leben, ernsthafte Beachtung der Erfahrungen des Gottvertrauens, der geistlichen Brüderlichkeit in Christus, des Sich-Anvertrauens an die göttliche Vorsehung und Barmherzigkeit, der Liebe und Vergebung, des Selbstverzichts, der Annahme des Nächsten, der Gerechtigkeit und des Friedens. Das alles ist unverzichtbar, um die »Herzen von Stein« in »Herzen von Fleisch« zu verwandeln (Ez 36, 26), um so das Leben auf der Erde „göttlich“ und damit menschenwürdiger zu machen. Das alles gehört dem Menschen, weil der Mensch Subjekt seiner Existenz ist; und zugleich gehört es Gott, weil Gott am Anfang und am Ende von all dem steht, was gilt und erlöst: »Welt, Leben, Tod, Gegenwart und Zukunft: alles gehört euch; ihr aber gehört Christus, und Christus gehört Gott« (1 Kor 3, 22-23). Das tiefe Verlangen des Christen ist, daß die ganze menschliche Familie Gott als »Vater unser!« anrufen kann. Zusammen mit dem Eingeborenen Sohn können alle Menschen lernen, zum Vater zu beten und ihn mit den Worten, die Jesus selbst uns gelehrt hat, zu bitten, ihn heiligen zu können, wenn sie nach seinem Willen leben, und dann das nötige tägliche Brot zu haben sowie Verständnis und Großzügigkeit gegenüber den Schuldigern, nicht zu sehr auf die Probe gestellt und vom Bösen befreit zu werden (vgl. Mt 6, 9-13).

Zum Abschluß des Paulusjahres möchte ich diesen Wunsch mit den Worten des Apostels aus dem Brief an die Römer zum Ausdruck bringen: »Eure Liebe sei ohne Heuchelei. Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung« (12, 9-10). Die Jungfrau Maria, die von Papst Paul VI. zur Mater Ecclesiae erklärt wurde und vom christlichen Volk als Speculum iustitiae und Regina pacis verehrt wird, beschütze uns und erhalte uns durch ihre himmlische Fürsprache die Kraft, die Hoffnung und die Freude, die wir brauchen, um uns weiterhin großzügig der Verpflichtung zu widmen, »die Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen«[159] zu verwirklichen.

Gegeben zu Rom, Sankt Peter, am 29. Juni, dem Fest der heiligen Apostel Petrus und Paulus, im Jahr 2009, dem fünften Jahr meines Pontifikats.

 

BENEDICTUS PP. XVI

 
 
[1] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio (26. März 1967), 22: AAS 59 (1967), 268; Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 69.

[2] Ansprache zum Tag der Entwicklung (23. August 1968): AAS 60 (1968), 626-627.

[3] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2002: AAS 94 (2002), 132-140.

[4] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 26.

[5] Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris (11. April 1963): AAS 55 (1963), 268-270.

[6] Vgl. Nr. 16: a.a.O., 265.

[7] Vgl. ebd., 82: a.a.O., 297.

[8] Ebd., 42: a.a.O., 278.

[9] Ebd., 20: a.a.O., 267.

[10] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 36; Paul VI., Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens (14. Mai 1971), 4: AAS 63 (1971), 403-404; Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus (1. Mai 1991), 43: AAS 83 (1991), 847.

[11] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 13: a.a.O., 263-264.

[12] Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 76.

[13] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache zur Eröffnung der V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik (13. Mai 2007): Insegnamenti III, 1 (2007), 854-870.

[14] Vgl. Nrn. 3-5: a.a.O., 258-260.

[15] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis (30. Dezember 1987), 6-7: AAS 80 (1988), 517-519.

[16] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 14: a.a.O., 264.

[17] Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est (25. Dezember 2005), 18: AAS 98 (2006), 232.

[18] Ebd., 6: a.a.O., 222.

[19] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang (22. Dezember 2005): Insegnamenti I (2005), 1023-1032.

[20] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 3: a.a.O., 515.

[21] Vgl. ebd., 1: a.a.O., 513-514.

[22] Vgl. ebd., 3: a.a.O., 515.

 

[23] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens (14. September 1981), 3: AAS 73 (1981), 583-584.

[24] Vgl. ders., Enzyklika Centesimus annus, 3: a.a.O., 794-796.

[25] Vgl. Enzyklika Populorum progressio, 3: a.a.O., 258.

[26] Vgl. ebd., 34: a.a.O., 274.

[27] Vgl. Nrn. 8-9: AAS 60 (1968), 485-487; Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer am Internationalen Kongreß der Päpstlichen Lateranuniversität anläßlich des 40. Jahrestags der Enzyklika »Humanae vitae« (10. Mai 2008): Insegnamenti, IV, 1 (2008), 753-756.

[28] Vgl. Enzyklika Evangelium vitae (25. März 1995), Nr. 93: AAS 87 (1995), 507-508.

[29] Ebd., 101: a.a.O., 516-518.

[30] Nr. 29: AAS 68 (1976), 25.

[31] Ebd., 31: a.a.O., 26.

[32] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 41: a.a.O., 570-572.

[33] Vgl. ebd.; ders., Enzyklika Centesimus annus, 5.54: a.a.O., 799.859-860.

[34] Nr. 15: a.a.O., 491.

[35] Vgl. ebd, 2: a.a.O., 258; Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum (15. Mai 1891): Leonis XIII P.M. Acta, XI, Romae 1892, 97-144; Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 8: a.a.O., 519-520; ders., Enzyklika Centesimus annus, 5: a.a.O., 799.

[36] Vgl. Enzyklika Populorum progressio, 2.13: a.a.O., 258. 263-264.

[37] Ebd., 42: a.a.O., 278.

[38] Ebd., 11: a.a.O., 262; Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 25: a.a.O., 822-824.

[39] Enzyklika Populorum progressio, 15: a.a.O., 265.

[40] Ebd., 3: a.a.O., 258.

[41] Ebd., 6: a.a.O., 260.

[42] Ebd., 14: a.a.O., 264.

[43] Ebd.; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 53-62: a.a.O., 859-867; ders., Enzyklika Redemptor hominis (4. März 1979), 13-14: AAS 71 (1979), 282-286.

[44] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 12: a.a.O., 262-263.

[45] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 22.

[46] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 13: a.a.O., 263-264.

[47] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006): Insegnamenti II, 2 (2006), 465-477.

[48] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 16: a.a.O., 265.

[49] Ebd.

[50] Benedikt XVI., Ansprache an die Jugendlichen am Barangaroo East Darling Harbour (Sydney, 17. Juli 2008): L’Osservatore Romano (dt.), 38. Jg., Nr. 30/31, S. 10.

[51] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 20: a.a.O., 267.

[52] Ebd., 66: a.a.O., 289-290.

[53] Ebd., 21: a.a.O., 267-268.

[54] Nrn. 3.29.32: a.a.O., 258.272.273.

[55] Vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 28: a.a.O., 548-550.

[56] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 9: a.a.O., 261-262.

[57] Vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 20: a.a.O., 536-537.

[58] Vgl. Enzyklika Centesimus annus, 22-29: a.a.O., 819-830.

[59] Vgl. Nrn. 23.33: a.a.O., 268-269.273-274.

[60] Vgl. a.a.O., 135.

[61] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 63.

[62] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 24: a.a.O., 821-822.

[63] Vgl. ders., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), 33.46.51: AAS 85 (1993), 1160.1169-1171.1174-1175; ders., Ansprache an die UN-Vollversammlung zum 50. Jahrestag ihrer Gründung (5. Oktober 1995), 3: Insegnamenti XVIII, 2 (1995), 732-733.

[64] Vgl. Enzyklika Populorum progressio, 47: a.a.O., 280-281; Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 42: a.a.O., 572-574.

[65] Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Welternährungstag 2007: AAS 99 (2007), 933-935.

[66] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 18.59.63.64: a.a.O., 419-421.467-468.472-475.

[67] Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 5: Insegnamenti II, 2 (2006), 778.

[68] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2002, 4-7.12-15: AAS 94 (2002), 134-136.138-140; ders., Botschaft zum Weltfriedenstag 2004, 8: AAS 96 (2004), 119; ders., Botschaft zum Weltfriedenstag 2005, 4: AAS 97 (2005), 177-178; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2006, 9-10: AAS 98 (2006), 60-61; ders., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 5.14: a.a.O., 778.782-783.

[69] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2002, 6: a.a.O., 135; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2006, 9-10: a.a.O., 60-61.

[70] Vgl. Benedikt XVI., Homilie bei der Meßfeier auf dem »Islinger Feld« in Regensburg (12. September 2006): Insegnamenti II, 2 (2006), 252-256.

[71] Vgl. ders., Enzyklika Deus caritas est, 1: a.a.O., 217-218.

[72] Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 28: a.a.O., 548-550.

[73] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 19: a.a.O., 266-267.

[74] Ebd., 39: a.a.O., 276-277.

[75] Ebd., 75: a.a.O., 293-294.

[76] Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 28: a.a.O., 238-240.

[77] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 59: a.a.O., 864.

[78] Vgl. Enzyklika Populorum progressio, 40.85: a.a.O., 277.298-299.

[79] Ebd., 13: a.a.O., 263-264.

[80] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 85: AAS 91 (1999), 72-73.

[81] Vgl. ebd., 83: a.a.O., 70-71.

[82] Benedikt XVI., Vorlesung in der Universität Regensburg (12. September 2006): Insegnamenti II, 2 (2006), 265.

[83] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 33: a.a.O., 273-274.

[84] Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2000, 15: AAS 92 (2000), 366.

[85] Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 407; vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 25: a.a.O., 822-824.

[86] Vgl. Nr. 17: AAS 99 (2007), 1000.

[87] Vgl. ebd., 23: a.a.O., 1004-1005.

[88] Der hl. Augustinus behandelt diese Lehre ausführlich im Dialog über den freien Willen (De libero arbitrio II 3,8ff). Er spricht von einem »inneren Sinn«, der in der menschlichen Seele existiert. Dieser Sinn besteht in einem Akt, der außerhalb der normalen Funktionen der Vernunft vollzogen wird, ein unreflektierter und gleichsam instinktiver Akt, durch den die Vernunft, indem sie sich ihrer vergänglichen und fehlbaren Verfaßtheit bewußt wird, über sich die Existenz von etwas Ewigem, absolut Wahrem und Gewissem annimmt. Der hl. Augustinus nennt diese innere Wahrheit manchmal Gott (Bekenntnisse X,24,35; XII,25,35; De libero arbitrio II 3,8) und häufiger Christus (De magistro 11,38; Bekenntnisse VII,18,24; XI,2,4).

[89] Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 3: a.a.O., 219.

[90] Vgl. Nr. 49: a.a.O., 281.

[91] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 28: a.a.O., 827-828.

[92] Vgl. Nr. 35: a.a.O., 836-838.

[93] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 38: a.a.O., 565-566.

[94] Nr. 44: a.a.O., 279.

[95] Vgl. ebd., 24: a.a.O., 269.

[96] Vgl. Enzyklika Centesimus annus, 36: a.a.O., 838-840.

[97] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 24: a.a.O., 269.

[98] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 32: a.a.O., 832-833; Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 25: a.a.O., 269-270.

[99] Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, 24: a.a.O., 637-638.

[100] Ebd., 15: a.a.O., 616-618.

[101] Enzyklika Populorum progressio, 27: a.a.O., 271.

[102] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis conscientia (22. März 1986), 74: AAS 79 (1987), 587.

[103] Vgl. Johannes Paul II., Interview mit der katholischen Tageszeitung »La Croix« vom 20. August 1997.

[104] Johannes Paul II., Ansprache an die Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften (27. April 2001): Insegnamenti, XXIV, 1 (2001), 800.

[105] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 17: a.a.O., 265-266.

[106] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 2003, 5: AAS 95 (2003), 343.

[107] Vgl. ebd.

[108] Vgl. Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 13: a.a.O., 781-782.

[109] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 65: a.a.O., 289.

[110] Ebd., 36-37: a.a.O., 275-276.

[111] Vgl. ebd., 37: a.a.O., 275-276.

[112] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem, 11.

[113] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 14: a.a.O., 264; Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 32: a.a.O., 832-833.

[114] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 77: a.a.O., 295.

[115] Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, 6: AAS 82 (1990), 150.

[116] Heraklit von Ephesus (ca. 535-475 v. Chr.), Fragment 22B124, in: H. Diehls – W. Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Weidmann, Berlin 19526.

[117] Vgl. Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nrn. 451-487.

[118] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, 10: AAS 82 (1990), 152-153.

[119] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 65: a.a.O., 289.

[120] Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2008, 7: AAS 100 (2008), 41.

[121] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der UN-Vollversammlung (18. April 2008): Insegnamenti IV, 1 (2008), 618-626.

[122] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1990, 13: a.a.O., 154-155.

[123] Ders., Enzyklika Centesimus annus, 36: a.a.O., 838-840.

[124] Ebd., 38: a.a.O., 840-841; Benedikt XVI., Botschaft zum Weltfriedenstag 2007, 8: a.a.O., 779.

[125] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 41: a.a.O., 843-845.

[126] Vgl. ebd.

[127] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, 20: a.a.O., 422-424.

[128] Enzyklika Populorum progressio, 85: a.a.O., 298-299.

[129] Vgl. Johannes Paul II., Botschaft zum Weltfriedenstag 1998, 3: AAS 90 (1998), 150; ders., Ansprache an die Mitglieder der Stiftung »Centesimus annus« (9. Mai 1998), 2: Insegnamenti XXI, 1 (1998), 873-874; ders., Ansprache bei der Begegnung mit den Autoritäten und dem Diplomatischen Corps in der Wiener Hofburg (20. Juni 1998), 8: Insegnamenti XXI, 1 (1998), 1435-1436; ders., Botschaft an den Rektor Magnificus der Katholischen Universität Sacro Cuore anläßlich des jährlichen Tags der Universität (5. Mai 2000), 6: Insegnamenti XXIII, 1 (2000), 759-760.

[130] Nach Thomas von Aquin: »ratio partis contrariatur rationi personae«, in: III Sent. d. 5,3,2; auch: »Homo non ordinatur ad communitatem politicam secundum se totum et secundum omnia sua«, in: Summa Theologiae I-II, q. 21, a. 4, ad 3.

[131] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution Lumen gentium, 1.

[132] Vgl. Johannes Paul II., Ansprache an die Öffentliche Sitzung der Päpstlichen Akademie für Theologie und der Päpstlichen Akademie des heiligen Thomas von Aquin (8. November 2001), 3: Insegnamenti XXIV, 2 (2001), 676-677.

[133] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche Dominus Jesus (6. August 2000), 22: AAS 92 (2000), 763-764; dies., Lehrmäßige Note zu einigen Fragen über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben (24. November 2002), 8: AAS 96 (2004), 369-370.

[134] Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 31: a.a.O., 1010; ders., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006), a.a.O., 465-477.

[135] Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 5: a.a.O., 798-800; vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006), a.a.O., 471.

[136] Nr. 12.

[137] Vgl. Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno (15. Mai 1931), AAS 23 (1931), 203; Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 48: a.a.O., 852-854; Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1883.

[138] Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: a.a.O., 274.

[139] Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 10.41; a.a.O., 262.277-278.

[140] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der Internationalen Theologenkommission (5. Oktober 2007): Insegnamenti, III, 2 (2007), 418-421; ders., Ansprache an die Teilnehmer am von der Päpstlichen Lateranuniversität veranstalteten Internationalen Kongreß über das »natürliche Sittengesetz« (12. Februar 2007): Insegnamenti, III, 1 (2007), 209-212.

[141] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Bischöfe der Thailändischen Bischofskonferenz beim Ad-limina-Besuch (16. Mai 2008): Insegnamenti , IV, 1 (2008), 798-801.

[142] Vgl. Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und die Menschen unterwegs, Instruktion Erga migrantes caritas Christi (3. Mai 2004): AAS 96 (2004), 762-822.

[143] Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, 8: a.a.O., 594-598.

[144] Ansprache am Ende der Eucharistiefeier anläßlich des Jubiläums der Arbeiter (1. Mai 2000): Insegamenti XXIII, 1 (2000), 720.

[145] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Centesimus annus, 36: a.a.O., 838-840.

[146] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Mitglieder der UN-Vollversammlung (18. April 2008): a.a.O., 618-626.

[147] Vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: a.a.O., 293; Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 441.

[148] Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 82.

[149] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Sollicitudo rei socialis, 43: a.a.O., 574-575.

[150] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 41: a.a.O., 277-278; vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 57.

[151] Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Laborem exercens, 5: a.a.O., 586-589.

[152] Vgl. Paul VI., Apostolisches Schreiben Octogesima adveniens, 29: a.a.O., 420.

[153] Vgl. Benedikt XVI., Ansprache an die Teilnehmer des IV. Nationalen Kongresses der Kirche in Italien (19. Oktober 2006): a.a.O., 465-477; ders., Homilie bei der Meßfeier auf dem »Islinger Feld« in Regensburg (12. September 2006): a.a.O., 252-256.

[154] Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über einige Fragen der Bioethik Dignitas personae (8. September 2008): AAS 100 (2008), 858-887.

[155] Vgl. Enzyklika Populorum progressio, 3: a.a.O., 258.

[156] Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 14.

[157] Vgl. Nr. 42: a.a.O., 278.

[158] Vgl. Benedikt XVI., Enzyklika Spe salvi, 35: a.a.O., 1013-1014.

[159] Paul VI., Enzyklika Populorum progressio, 42: a.a.O., 278. 




IOANNES PAULUS PP. II
 

SOLLICITUDO REI SOCIALIS
 

AN DIE BISCHÖFE UND PRIESTER,
 AN DIE ORDENSGEMEINSCHAFTEN,
 AN ALLE SÖHNE UND TÖCHTER DER KIRCHE,
 AN ALLE MENSCHEN GUTEN WILLENS
ZWANZIG JAHRE NACH DER ENZYKLIKA
POPULORUM PROGRESSIO

 

 

Segen

Verehrte Mitbrüder,
liebe Söhne und Töchter,
Gruß und Apostolischen Segen!

I. EINLEITUNG

1. Die soziale Sorge der Kirche mit dem Ziel einer wahren Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, welche die menschliche Person in allen ihren Dimensionen achten und fördern soll, hat sich stets in verschiedenster Weise bekundet. Eine der bevorzugten Formen, hierzu beizutragen, war in letzter Zeit das Lehramt der römischen Päpste. Ausgehend von der Enzyklika Rerum Novarum von Leo XIII. als bleibendem Bezugspunkt1 hat es diesen Problemkreis immer wieder behandelt, wobei es einige Male die Veröffentlichungen der verschiedenen sozialen Dokumente mit dem Jahresgedenken dieses ersten Dokumentes zusammenfallen ließ.2

Dabei haben es die Päpste nicht versäumt, in solchen Stellungnahmen auch neue Aspekte der Soziallehre der Kirche zu behandeln. So hat sich, angefangen mit dem hervorragenden Beitrag Leos XIII. und durch die folgenden Beiträge des Lehramtes bereichert, nunmehr ein zeitgemäßes Lehrgebäude gebildet, das sich in dem Maße entwickelt, wie die Kirche aus der Fülle der von Jesus Christus offenbarten Wahrheit3 und mit dem Beistand des Heiligen Geistes (vgl. Joh 14,16.26; 16,13-15) die Ereignisse deutet, die sich im Verlauf der Geschichte zutragen. Sie sucht auf diese Weise die Menschen dahinzuführen, daß sie auch mit Hilfe rationaler Reflexion und wissenschaftlicher Erkenntnis, ihrer Berufung als verantwortliche Gestalter des gesellschaftlichen Lebens auf dieser Erde entsprechen.

2. In diesem bedeutenden Gebäude der Soziallehre nimmt die Enzyklika Populorum Progressio4, die mein verehrter Vorgänger Paul VI. am 26. März 1967 veröffentlichte, einen besonderen Platz ein.

Die bleibende Aktualität dieser Enzyklika erkennt man leicht an der Vielfalt der Gedenkfeiern, die im Verlauf dieses Jahres in vielfältigen Formen und an zahlreichen Orten des kirchlichen wie zivilen Lebens stattgefunden haben. Aus demselben Anlaß hat die Päpstliche Kommission Justitia et Pax im vergangenen Jahr einen Rundbrief an die Synoden der katholischen Ostkirchen und an die Bischofskonferenzen gesandt, mit dem sie Meinungen und Vorschläge dazu erbat, wie das Jubiläum der Enzyklika am besten gefeiert, wie ihre Lehren vertieft und gegebenenfalls fortgeschrieben werden könnten. Dieselbe Kommission veranstaltete zum 20. Jahrestag eine Gedenkfeier, an der ich selbst teilgenommen und die Schlußansprache gehalten habe.5 Und nun erachte ich es, auch in Anbetracht der Antworten auf den erwähnten Rundbrief, für angebracht, zum Abschluß des Jahres 1987 der Thematik von Populorum Progressio eine eigene Enzyklika zu widmen.

3. Ich möchte damit hauptsächlich zwei Ziele von nicht geringer Bedeutung verfolgen: Einerseits will ich diesem historischen Dokument von Paul VI. und seinen Lehraussagen meine Wertschätzung bekunden; andererseits möchte ich in der Linie meiner verehrten Vorgänger auf dem Stuhl Petri die Kontinuität, aber zugleich die ständige Erneuerung der Soziallehre bekräftigen. Inder Tat, Kontinuität und Erneuerung bestätigen den bleibenden Wen der Lehre der Kirche.

Diese doppelte Eigenart ist ein charakteristisches Zeichen ihrer Lehre im sozialen Bereich. Sie ist einerseits konstant, weil sie sich gleichbleibt in ihrer Grundidee, in ihren "Leitprinzipien", in ihren "Urteilskriterien", in ihren wesentlichen "Richtlinien für das konkrete Handein"6 und vor allem in ihrer lebendigen Verbindung mit der Botschaft des Herrn; sie ist andererseits immer neu, weil sie die notwendigen und ratsamen Anpassungen erfährt, die vom Wandel der geschichtlichen Bedingungen und vom unaufhörlichen Fluß der Ereignisse nahegelegt werden, in dem das tägliche Leben der Menschen und Gesellschaften verläuft.

4. Ich bin der Überzeugung, daß die Lehraussagen der Enzyklika Populorum Progressio, die sich an die Menschen und die Gesellschaft der sechziger Jahre richteten, auch heute, am Ende der achtziger Jahre, ihre ganze Kraft eines Appells an das Gewissen beibehalten. Darum möchte ich im Bemühen, die wesentlichen Züge der heutigen Welt aufzuzeigen, und immer unter dem Leitgedanken der "Entwicklung der Völker", die ja bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, jenen Ruf weitertragen mit der Absicht, ihn mit jenen Verwirklichenden zu verbinden, die in der geschichtlichen Stunde von heute möglich sind, einer Stunde, die ja ebenso dramatisch ist wie jene vor zwanzig Jahren.

Die Zeit verläuft zwar, wie wir wissen, immer nach demselben Rhythmus; heute jedoch hat man den Eindruck, als unterliege sie einer stetigen Beschleunigung, vor allem wegen der Vielzahl und Verflochtenheit der Ereignisse, in deren Mitte wir leben. Infolgedessen hat die Gestalt der Welt im Laufe der letzten zwanzig Jahre, trotz einiger grundlegender Konstanten, bedeutsame Veränderungen erfahren und weist darum völlig neue Aspekte auf.

Die heutige Zeit, die kurz vor dem Beginn des dritten christlichen Jahrtausends von einer verbreiteten Erwartung, fast eines neuen "Advents"7, geprägt ist, die in irgendeiner Weise alle Menschen berührt, bietet die Gelegenheit, die Lehre jener Enzyklika zu vertiefen, um auch die Auswirkungen für die Zukunft zu erkennen.

Die vorliegenden Überlegungen verfolgen das Ziel, mit Hilfe einer theologischen Analyse der heutigen Wirklichkeit die Notwendigkeit eines umfassenderen und differenzierteren Begriffes von Entwicklung hervorzuheben, wie er von der Enzyklika vorgeschlagen wurde. Außerdem sollen einige Formen der Verwirklichung aufgezeigt werden.

II. DAS NEUE AN DER ENZYKLIKA POPULORUM PROGRESSIO

5. Schon bei seinem ersten Erscheinen erweckte das Dokument von Papst Paul VI. die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung gerade wegen seiner Neuheit Man konnte darin mit großer Klarheit die genannten Merkmale von Kontinuität und Erneuerung innerhalb der Soziallehre der Kirche konkret feststellen. Die Absicht, die zahlreichen Aspekte dieser Unterweisung durch ein aufmerksames erneutes Lesen der Enzyklika zu entdecken, soll darum die vorliegenden Überlegungen durchgebend bestimmen.

Zuvor aber möchte ich mich mit dem Datum jener Veröffentlichung befassen: dem Jahr 1967. Die Tatsache selbst, daß Papst Paul VI. in jenem Jahr den Entschluß faßte, eine eigene Sozialenzyklika herauszugeben, lädt dazu ein, das Dokument in seiner Beziehung zum II. Vatikanischen Konzil zu betrachten, das ja am 8. Dezember 1965 abgeschlossen worden war.

6. In dieser Folge müssen wir mehr als eine bloß zeitliche Nähe sehen. Die Enzyklika Populorum Progressio stellt sich in gewissem Sinne als ein Dokument dar; in dem die Lehren des Konzils Anwendung finden. Und das nicht so sehr, weil sie sich fortwährend auf die Konzilstexte bezieht,8 als vielmehr deshalb, weil sie der Sorge der Kirche entspringt, die die gesamte Konzilsarbeit - und in besonderer Weise die Pastoralkonstitution Gaudium er Spes - beseelt hat, als sie nicht wenige Themen der kirchlichen Soziallehre zusammenhängend behandelte.

Wir können darum sagen, daß die Enzyklika Populorum Progressio als Antwort auf den Konzilsappell gelten kann, mit dem die Konstitution Gaudium et Spes beginnt: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände".9 Diese Worte geben das Grundmotiv an, das jenes bedeutende Dokument des Konzils beseelt, wenn es zu Beginn die Situation des Elends und der Unterentwicklung feststellt, in der Millionen und Millionen von Menschen leben.

Elend und Unterentwicklung sind, mit anderen Worten, die "Trauer und Angst" von heute, "besonders der Armen"; vor diesem breiten Hintergrund von Leiden und Schmerz will das Konzil Horizonte von "Freude und Hoffnung" eröffnen. In dieselbe Richtung zielt die Enzyklika von Faul VI. in voller Treue zum Geist des Konzils.

7. Aber auch in der Themenfolge nimmt die Enzyklika im Anschluß an die große Tradition der Soziallehre der Kirche in direkter Weise jene neue Darstellung und reiche Synthese wieder auf, die das Konzil vor allem in der Konstitution Gaudium er Spes erarbeitet hat.

Was die Inhalte und Themen betrifft, welche die Enzyklika erneut aufgreift, sind vor allem folgende zu nennen: das Bewußtsein von der Pflicht, die die Kirche als "Expertin in Menschlichkeit" hat, "die Zeichen der Zeit zu erforschen und im Licht des Evangeliums zu deuten";10 das ebenso tiefe Bewußtsein ihrer Sendung zum "Dienen", die sich von der Aufgabe des Staates unterscheidet, auch wo sie sich um konkrete Anliegen der Menschen kümmert;11 der Hinweis auf die schreienden Unterschiede in den Lebensbedingungen dieser Personen;12 die Bestätigung der Lehre des Konzils, die in Treue zur jahrhundertealten Tradition der Kirche die "Bestimmung der irdischen Güter für alle" vertritt;13 die Würdigung von Kultur und technischer Zivilisation, die zur Befreiung des Menschen beitragen,14 ohne ihre Grenzen zu übersehen;15 schließlich, im Rahmen des Themas der Entwicklung, das der Enzyklika eigen ist, die Betonung der "schweren Verpflichtung" der stärker entwickelten Nationen, "den Ländern auf dem Wege der Entwicklung beizustehen.16 Der Begriff von Entwicklung selbst, wie ihn die Enzyklika vorlegt, entstammt unmittelbar der Sichtweise, unter der die Pastoralkonstitution dieses Problem angeht.17

Aus diesen und weiteren ausdrücklichen Bezügen zur Pastoralkonstitution folgt, daß sich die Enzyklika als Anwendung der Soziallehre des Konzils auf die spezifische Frage von Entwicklung und Unterentwicklung der Völker darstellt.

8. Die soeben vorgenommene kurze Analyse hilft uns, das Neue an der Enzyklika besser zu ermessen. Man kann es in drei Punkten zusammenfassen. Der erste Punkt besteht in der Tatsache selbst, daß von der höchsten Autorität der katholischen Kirche ein Dokument herausgegeben wird, das sich an die Kirche selbst und zugleich "an alle Menschen guten Willens" richtet18 und das eine Frage behandelt, die auf den ersten Blick rein ökonomischer und sozialer Natur ist: die Entwicklung der Völker. Der Begriff "Entwicklung" ist dem Wortschatz der 5ozial- und Wirtschaftswissenschaften entnommen. In dieser Hinsicht folgt die Enzyklika Populorum Progressio direkt der Enzyklika Rerum Novarum, die von der "Lage der Arbeiter" handelt.19 Oberflächlich betrachtet, könnten beide Themen als außerhalb der berechtigten Anliegen der Kirche als religiöser Institution erscheinen; dies gilt sogar noch mehr für den Begriff "Entwicklung" als für jenen der "Lage der Arbeiter".

Charakter der mit der Entwicklung verbundenen Problematik unterstrichen hat und ebenso die Berechtigung und Notwendigkeit eines Beitrages der Kirche auf diesem Gebiet.

Hiermit hat die Soziallehre der Kirche ein weiteres Mal bewiesen, daß es zu ihrem Wesen gehört, das Wort Gottes auf das Leben der Menschen und der Gesellschaft sowie auf die damit verbundenen irdischen Wirklichkeiten anzuwenden, indem sie "Leitprinzipien"' "Urteilskriterien" und "Richtlinien für das konkrete Handeln" vorlegt.20 Im Dokument Pauls VI. finden sich alle diese drei vorwiegend auf die Praxis, das heißt, auf das sittliche Verhalten, bezogenen Elemente. Wenn sich also die Kirche mit der "Entwicklung der Völker"4 befaßt, darf sie nicht angeklagt werden, den besonderen Bereich ihrer Kompetenz und erst recht ihre vom Herrn empfangene Sendung überschritten zu haben.

9. Das zweite Neue an Populorum Progressio ist die Weite des Horizontes. mit dem sie an das herangeht, was man gemeinhin als die "Soziale Frage" bezeichnet.

Die Enzyklika Mater et Magistra von Papst Johannes XXIII. war zwar schon in diesen erweiterten Horizont eingetreten,21 und das Konzil hat es ihr mit seiner Pastoralkonstitution Gaudium et Spes gleichgetan;22 trotzdem war die soziale Verkündigung der Kirche noch nicht dahin gelangt, mit voller Klarheit auszusagen, daß die Soziale Frage ein weltweites Ausmaß erlangt hat,23 noch hatte sie aus dieser Aussage und per zugehörigen Analyse eine "Richtlinie für das konkrete Handeln" geformt, wie es Papst Faul VI. in seiner Enzyklika tut.

Eine solche ausdrückliche Stellungnahme bietet einen großen Reichtum an Inhalten, die nun aufgezeigt werden sollen.

Zunächst muß ein mögliches Mißverständnis ausgeräumt werden. Die Feststellung, daß die "soziale Frage" eine weltweite Dimension angenommen hat, bedeutet in keiner Weise, daß ihre Wirkkraft erloschen sei oder sie ihre Bedeutung auf nationaler oder örtlicher Ebene eingebüßt habe. Es bedeutet im Gegenteil, daß die Probleme an den Arbeitsstätten oder in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung eines bestimmten Landes oder einer Region nicht als verstreute Inseln ohne Verbindung untereinander gesehen werden dürfen, sondern daß sie in wachsendem Maße von Faktoren abhängen, die jenseits der regionalen oder nationalen Grenzen liegen. Leider sind in wirtschaftlicher Hinsicht die Entwicklungsländer viel zahlreicher als die Industrieländer. Die Menschenmengen, die an den vom

Fortschritt bereitgestellten Gütern und Dienstleistungen nicht teilhaben können, sind sehr viel zahlreicher als jene, die darüber verfügen.

Wir stehen also vor dem schweren Problem ungleicher Verteilung der lebensnotwendigen Mittel, die ursprünglich für alle Menschen bestimmt waren, sowie auch der Vorteile, die sich daraus ergeben. Und das geschieht nicht etwa aufgrund der Verantwortung der benachteiligten Völker und schon gar nicht durch eine Art von Schicksalsergebenheit als Folge von Naturbedingungen oder der gesamten Umstände.

Wenn die Enzyklika Pauls VI. erklärt, daß die Soziale Frage eine weltweite Dimension erlangt habe, will sie damit vor allem auf ein moralisches Faktum hinweisen, das sein Fundament in der objektiven Analyse der Wirklichkeit hat. Nach den eigenen Worten der Enzyklika muß sich ein jeder dieses Faktums bewußt werden,24 weil es direkt das Gewissen, die Quelle der sittlichen Entscheidungen, berührt.

In diesem Zusammenhang besteht das Neue an der Enzyklika nicht sosehr in der historisch gesehenen Aussage von der weltweiten Bedeutung der Sozialen Frage als vielmehr in der moralischen Bewertung dieser Tatsache. So haben die politisch Verantwortlichen und auch die Bürger der reichen Länder ganz persönlich, vor allem wenn sie Christen sind, nach dem Grad ihrer jeweiligen Verantwortung die sittliche Verpflichtung, bei ihren persönlichen wie öffentlichen Entscheidungen diese weltweite Beziehung, diese gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihrem Verhalten und dem Elend und der Unterentwicklung so vieler Millionen von Männern und Frauen, in Betracht zu ziehen. Mit noch größerer Genauigkeit gibt die Enzyklika Pauls VI. diese moralische Verpflichtung "als Pflicht zur Solidarität" wieder;25 auch wenn sich in der Welt inzwischen vieles geändert hat, behält diese Aussage heute dieselbe Kraft und Gültigkeit wie damals, als sie niedergeschrieben wurde.

Ohne diesen moralischen Gesichtspunkt zu verlassen, besteht das Neue der Enzyklika andererseits auch in der grundsätzlichen Aussage, daß sich der Begriff der Entwicklung selbst deutlich ändert, wenn man sie im Hinblick auf die weltweite gegenseitige Abhängigkeit betrachtet. Wahre Entwicklung darf nicht in der bloßen Anhäufung von Reichtum und einem wachsenden Angebot von Gütern und Dienstleistungen bestehen, wenn dies nur auf Kosten der Unterentwicklung der Massen und ohne die geschuldete Rücksicht für die soziale, kulturelle und geistige Dimension des Menschen erreicht wird.26

10. Als dritter Punkt bereichert die Enzyklika die kirchliche Soziallehre im allgemeinen und den Begriff der Entwicklung im besonderen durch beachtliche neue Elemente, Diese Neuheit wird in einem Satz sichtbar, der im Schlußabschnitt des Dokumentes steht und als Zusammenfassung seines Inhaltes wie auch als sein geschichtliches Kennzeichen angesehen werden kann Entwicklung ist der neue Name für Friede".27

In der Tat, wenn die soziale Frage eine weltweite Dimension erlangt hat, dann darum, weil die Forderung nach Gerechtigkeit nur auf dieser Ebene erfüllt werden kann. Sich um eine solche Forderung nicht zu kümmern, könnte bewirken, daß auf seiten der Opfer der Ungerechtigkeit die Versuchung zu einer gewalttätigen Antwort aufbricht, wie es am Beginn vieler Kriege geschieht. Die Bevölkerungen, die von der gerechten Verteilung der Güter, welche ursprünglich für alle bestimmt sind, ausgeschlossen werden, könnten sich fragen: Warum sollten wir nicht all denen mit Gewalt antworten, die uns zuerst mit Gewalt begegnen? Und wenn man die Lage im Licht der Aufteilung der Welt in ideologische Blöcke betrachtet - wie sie bereits im Jahre 1967 bestand - und die daraus folgenden Auswirkungen und wirtschaftlichen wie politischen Abhängigkeiten bedenkt, wird diese Gefahr noch viel größer.

Dieser ersten Überlegung zum dramatischen Inhalt jener Formulierung der Enzyklika schließt sich eine weitere an, auf die das Dokument selbst bereits hinweist:28 Wie soll man die Tatsache rechtfertigen, daß ungeheure Geldsummen, die dazu bestimmt sein könnten und müßten, die Entwicklung der Völker voranzubringen, statt dessen für die Bereicherung von einzelnen und Gruppen oder für die Erweiterung der Waffenarsenale sowohl in den Industrieländern wie in den Entwicklungsländern verwendet werden und so die wahren Prioritäten auf den Kopf stellen? Das wiegt noch schwerer, wenn man die Schwierigkeiten berücksichtigt die nicht selten den direkten Weg der Gelder behindern, die dafür bestimmt sind, den not leidenden Ländern Hilfe zu bringen. Wenn Entwicklung der neue Name für Friede" ist, dann sind der Krieg und die militärischen Vorbereitungen dazu der größte Feind einer allseitigen Entwicklung der Völker.

Darum sind wir im Licht jenes Wortes von Papst Paul VI. aufgefordert, den Begriff der Entwicklung zu überprüfen, der gewiß nicht mit jenem übereinstimmt, der sich darauf beschränkt, die materiellen Bedürfnisse durch ein wachsendes Angebot von Gütern zu befriedigen, ohne auf die Leiden der Mehrheit der Menschen zu achten, und den Egoismus von einzelnen oder ganzer Nationen zum Hauptmotiv macht. Daran erinnert in scharfer Weise der Jakobusbrief: "Woher kommen die Kriege bei euch, woher die Streitigkeiten? Doch nur vom Kampf der Leidenschaften in eurem Innern. Ihr begehrt und erhaltet doch nichts" (Jak 4,1 f.).

Demgegenüber wäre in einer anderen Welt, die von der Sorge Gemeinwohl der ganzen Menschheit geleitet ist, das heißt, von der Sorge um die "geistige und menschliche Entwicklung aller" statt von der Sorge um den persönlichen Vorteil, der Friede möglich als Frucht einer "vollkommeneren Gerechtigkeit unter den Menschen".29

Auch dieses neue Element der Enzyklika hat einen bleibenden und aktuellen Wert, wenn man die heutige Mentalität bedenkt, die so sensibel ist für die enge Verbindung zwischen der Beachtung von Gerechtigkeit und der Errichtung eines wahren Friedens.

III. DAS BILD DER HEUTIGEN WELT

11. Die grundlegende Lehraussage der Enzyklika Populorum Progressio hatte wegen ihres neuartigen Charakters ein starkes Echo gefunden. Der soziale Kontext, in dem wir heute leben, ist freilich nicht mehr völlig identisch mit dem vor zwanzig Jahren. Darum möchte ich mich nun in einem kurzen Überblick mit einigen Merkmalen der heutigen Welt beschäftigen, um die Lehre der Enzyklika Pauls VI. zu vertiefen, und zwar immer unter dem Gesichtspunkt der "Entwicklung der Völker".

12. Die erste Tatsache, die hervorgehoben werden muß, besteht darin, daß die damals so lebhaften Hoffnungen auf Entwicklung heute weit entfernt von ihrer Verwirklichung erscheinen.

Die Enzyklika machte sich hierin keine Illusionen. Ihre starke und bisweilen dramatische Sprache beschränkte sich darauf, den Ernst der Lage zu betonen und die Gewissen aller dringend zu verpflichten, zu einer Lösung beizutragen. In jenen Jahren bestand ein gewisser Optimismus hinsichtlich der Möglichkeit, den wirtschaftlichen Rückstand der armen Völker ohne allzu große Anstrengungen aufzuholen, sie mit Infrastrukturen zu versehen und ihnen beim Prozeß der Industrialisierung zu helfen.

In jenem geschichtlichen Kontext proklamierte die Organisation der Vereinten Nationen über die Anstrengungen jedes einzelnen Landes hinaus zwei aufeinanderfolgende Entwicklungsdekaden.30 So wurden einige bilaterale und multilaterale Maßnahmen ergriffen, um zahlreichen Nationen beizustehen, von denen einige seit längerer Zeit unabhängig waren, andere aber - der größere Teil - eben erst als Staaten aus dem Prozeß der Entkolonisierung geboren waren. Die Kirche fühlte sich ihrerseits verpflichtet, die Probleme dieser neuen Situation tiefer zu bedenken, um diese Bemühungen mit ihrem religiösen und humanen Geist zu unterstützen und ihnen so eine "Seele" und einen wirksamen Impuls zu geben.

13. Man kann nicht sagen, daß diese verschiedenen religiösen, humanitären, wirtschaftlichen und technischen Initiativen vergebens gewesen seien; denn sie haben doch einige Ergebnisse erzielen können. Aber aufs Ganze gesehen und in Anbetracht der verschiedenen Faktoren kann man nicht leugnen, daß die gegenwärtige Weltsituation unter diesem Gesichtspunkt der Entwicklung eher einen negativen Eindruck bietet.

Hierfür möchte ich die Aufmerksamkeit zunächst auf einige allgemeine Indikatoren lenken, ohne einige andere mehr spezifischer Art zu übergehen. Ohne mich in eine Analyse von Zahlen oder Statistiken einzulassen, genügt es, die Wirklichkeit einer unzähligen Menge von Männern und Frauen, Kindern, Erwachsenen und alten Menschen, von konkreten und einmaligen menschlichen Personen also, zu sehen, die unter der unerträglichen Last des Elends leiden. Viele Millionen sind ohne Hoffnung, weil sich ihre Lage in vielen Teilen der Welt fühlbar verschlechtert hat. Angesichts dieser Dramen von völligem Elend und größter Not, in denen so viele unserer Brüder und Schwestern leben, ist es der Herr Jesus Christus selbst, der an uns appelliert (vgl. Mt 25, 31-46).

14. Die erste negative Feststellung, die es zu machen gilt, ist das Fortbestehen und oft sogar die Verbreiterung des Grabens zwischen dem sogenannten entwickelten Norden und dem unterentwickelten Süden. Diese geographische Sprechweise ist nur eine erste Orientierung; denn man darf nicht übersehen, daß die Grenzen zwischen Reichtum und Armut durch die verschiedenen Gesellschaften selber verlaufen. und dies sowohl in den Industrieländern als auch in den Entwicklungsländern. Wie es nämlich soziale Ungleichheiten bis zu den Stufen des Elends auch in reichen Ländern gibt, so beobachtet man entsprechend in den weniger entwickelten Ländern nicht selten Zeichen von Egoismus und Zurschaustellung von Reichtum, die ebenso empörend wie skandalös sind.

Dem Überfluß an Gütern und Dienstleistungen, die in einigen Teilen der Welt, vor allem im entwickelten Norden, zur Verfügung stehen, entspricht im Süden ein unannehmbarer Rückstand. Und gerade in dieser geopolitischen Zone lebt der größere Teil der Menschheit.

Wenn man die ganze Reihe der verschiedenen Sektoren - Erzeugung und Verteilung von Lebensmitteln, Hygiene, Gesundheitswesen und Wohnung, Trinkwasserversorgung, Arbeitsbedingungen, vor allem jene für Frauen, Lebenserwartung sowie andere wirtschaftliche und soziale Indikatoren - ins Auge faßt, ergibt sich ein enttäuschendes Gesamtbild, sei es in sich selbst betrachtet oder in bezug auf die entsprechenden Daten der stärker entwickelten Länder. Das Wort "Graben" kommt einem dabei spontan wieder auf die Lippen.

Vielleicht ist dies nicht der angemessene Ausdruck, um die wahre Realität wiederzugeben, insofern er den Eindruck eines statischen Phänomens vermitteln könnte. Dies aber ist nicht so. Im Fortschritt der Industrieländer und der Entwicklungsländer hat es in diesen Jahren eine unterschiedliche Beschleunigung gegeben, die zu noch breiteren Abständen führt. So gelangen die Entwicklungsländer, vor allem die ärmsten unter ihnen, allmählich in die Lage eines sehr schweren Rückstandes.

Hinzufügen muß man noch die Unterschiede in Kultur und Wertsystemen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die nicht immer mit dem jeweiligen Grad wirtschaftlicher Entwicklung übereinstimmen, aber dazu beitragen, weitere Abstände zu schaffen. Es sind diese Elemente und Aspekte, welche die Soziale Frage noch viel komplexer machen, eben weil sie eine weltweite Dimension erlangt hat.

Wenn man die verschiedenen Teile der Welt beobachtet, wie sie durch die wachsende Breite eines solchen Grabens voneinander getrennt sind, und dabei feststellt, daß jeder von ihnen einer eigenen Richtung mit eigenen Initiativen zu folgen scheint, versteht man, warum man im allgemeinen Sprachgebrauch von verschiedenen Welten innerhalb unserer einen Welt spricht: Erste Welt, Zweite Welt, Dritte Welt und manchmal sogar Vierte Welt.31 Solche Ausdrücke, die gewiß nicht beanspruchen, alle Länder erschöpfend zu klassifizieren, erscheinen doch bezeichnend: Sie sind Zeichen eines verbreiteten Gefühls, daß die Einheit der Welt, mit anderen Worten, die Einheit des Menschengeschlechtes, ernstlich bedroht ist. Jenseits seiner mehr oder weniger objektiven Bedeutung verbirgt dieser Wortgebrauch zweifellos einen moralischen Inhalt, dem gegenüber die Kirche als "Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug... für die Einheit der ganzen Menschheit",32 nicht gleichgültig bleiben kann.

15. Das hier beschriebene Bild wäre allerdings unvollständig, fügte man den wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren der Unterentwicklung nicht weitere ebenso negative und sogar noch besorgniserregendere Faktoren, angefangen im kulturellen Bereich, hinzu. Es sind folgende: der Analphabetismus, die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, zu höheren Ausbildungsstufen zu gelangen, die Unfähigkeit, am Aufbau der eigenen Nation teilzunehmen, die verschiedenen Formen von Ausbeutung oder wirtschaftlicher, sozialer, politischer und auch religiöser Unterdrückung der menschlichen Person und ihrer Rechte, die Diskriminierungen jeder Art, insbesondere jene überaus bösartige, die sich auf den Rassenunterschied gründet. Wenn man manche dieser Mißstände auch in Gebieten des entwickelteren Nordens beklagt, so sind sie doch in den Entwicklungsländern ohne Zweifel häufiger, langfristiger und schwerer zu beseitigen.

Man muß außerdem hervorheben, daß in der heutigen Welt unter den anderen Rechten oft auch das Recht auf unternehmerische Initiative unterdrückt wird. Und doch handelt es sich um ein wichtiges Recht nicht nur für den einzelnen, sondern auch für das Gemeinwohl. Die Erfahrung lehrt uns, daß die Leugnung eines solchen Rechtes oder seine Einschränkung im Namen einer angeblichen "Gleichheit" aller in der Gesellschaft tatsächlich den Unternehmungsgeist, das heißt, die Kreativität des Bürgers als eines aktiven Subjektes, lähmt oder sogar zerstört. Als Folge entsteht auf diese Weise nicht so sehr eine echte Gleichheit als vielmehr eine "Nivellierung nach unten". Anstelle von schöpferischer Eigeninitiative kommt es zu Passivität, Abhängigkeit und Unterwerfung unter den bürokratischen Apparat, der als einziges "verfügendes" und "entscheidenes" - wenn nicht sogar "besitzendes" - Organ der gesamten Güter und Produktionsmittel alle in eine Stellung fast völliger Abhängigkeit bringt, die der traditionellen Abhängigkeit des Arbeiterproletariers vom Kapitalismus gleicht. Das ruft ein Gefühl von Frustration oder Resignation hervor und bringt die Menschen dazu, sich aus dem Leben der Nation zurückzuziehen, indem viele zur Auswanderung gedrängt werden und ebenso eine Form von "innerer" Emigration gefördert wird.

Eine solche Lage wirkt sich auch auf die "Rechte der Einzelnationen" aus. In der Tat geschieht es öfters, daß eine Nation ihres Subjektcharakters beraubt wird, das heißt, ihrer "Souveränität", die ihr in wirtschaftlicher, politisch-sozialer und in gewisser Weise auch kultureller Beziehung zukommt, weil in einer staatlichen Gemeinschaft alle diese Dimensionen des Lebens miteinander verbunden sind.

Man muß ferner betonen, daß keine gesellschaftliche Gruppe, wie zum Beispiel eine politische Partei, das Recht hat, das Führungsmonopol an sich zu reißen; denn das führt zur Zerstörung des wahren Subjektcharakters der Gesellschaft und der Bürger als Personen, wie es bei jedem Totalitarismus geschieht. In einer solchen Situation werden der Mensch und das Volk zu "Objekten", trotz aller gegenteiligen Erklärungen und verbaler Beteuerungen.

An diesem Punkt sollte man hinzufügen, daß es in der heutigen Welt noch viele weitere Formen der Armut gibt. Verdienen nicht der Mangel oder der Entzug gewisser anderer Güter ebenfalls diesen Namen? Lassen nicht etwa die Leugnung oder die Einschränkung der Menschenrechte - ich nenne zum Beispiel das Recht auf Religionsfreiheit, das Recht, am Aufbau der Gesellschaft teilzunehmen, die Freiheit, Vereinigungen zu bilden, Gewerkschaften zu gründen oder Initiativen im wirtschaftlichen Bereich zu ergreifen - die menschliche Person ebenso, wenn nicht sogar noch mehr, verarmen als durch die Entbehrung materieller Güter? Und ist eine Entwicklung, die nicht diese Rechte voll bejaht, wirklich eine Entwicklung in menschlicher Dimension?

So ist, kurz gesagt, die Unterentwicklung unserer Tage nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern erstreckt sieh auch auf den kulturellen, politischen und einfach menschlichen Bereich, wie die Enzyklika Populorum Progressio schon vor zwanzig Jahren betont hat. Darum müssen wir uns an dieser Stelle fragen, ob die so traurige Wirklichkeit von heute nicht wenigstens zum Teil das Resultat einer zu engen, das heißt, überwiegend wirtschaftlichen Auffassung von Entwicklung ist.

16. Man muß klar aussprechen, daß sich die Gesamtlage trotz der lobenswerten Anstrengungen, die in den letzten zwanzig Jahren von den Industrieländern, von den Entwicklungsländern sowie von den internationalen Organisationen unternommen worden sind, um einen Ausweg aus dieser Situation oder wenigstens ein Heilmittel gegen einige ihrer Symptome zu finden, erheblich verschlimmert hat.

Die Verantwortung für eine solche Verschlechterung ist bei verschiedenen Ursachen zu suchen. Man muß hinweisen auf die zweifellos schwerwiegenden Unterlassungen der Entwicklungsländer selber und insbesondere jener Personen, die dort die wirtschaftliche und politische Macht in Händen halten. Das darf uns aber nicht dazu verleiten, die Verantwortung der Industrieländer zu übersehen, die nicht immer, wenigstens nicht in erforderlichem Maße, die Verpflichtung erkannt haben, den Ländern, die von der Welt des Wohlstandes ausgeschlossen sind, zu der sie selber gehören, Hilfe zu leisten.

Auf jeden Fall muß man das Bestehen wirtschaftlicher, finanzieller und sozialer Mechanismen anprangern, die, obgleich vom Willen des Menschen gelenkt, doch fast automatisch wirken, wobei sie die Situation des Reichtums der einen und der Armut der anderen verfestigen. Solche Mechanismen, von den stärker entwickelten Ländern in direkter oder indirekter Weise gesteuert, begünstigen durch die ihnen eigene Wirkweise die Interessen derer, die über sie verfügen, erdrücken oder lenken aber schließlich vollständig die Wirtschaftsordnungen der weniger entwickelten Länder. Es wird notwendig sein, diese Mechanismen später einer sorgfältigen Analyse in ethisch-moralischer Hinsicht zu unterziehen.

Die Enzyklika Populorum Progressio sah bereits voraus, daß mit solchen Systemen der Reichtum der Reichen zunehmen und das Elend der Armen verfestigt werden konnte.33 Eine Bestätigung dieser Voraussage war das Auftreten der Vierten Welt.

17. Sosehr sich die Weltgesellschaft in mancher Beziehung gespalten zeigt, wie jene bekannten Ausdrücke einer Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten Welt es dartun, bleibt doch die wechselseitige Abhängigkeit dieser Welten stets sehr eng. Klammert man von dieser Abhängigkeit die ethischen Forderungen aus, so führt das gerade für die Schwächsten zu traurigen Konsequenzen. Die gegenseitige Abhängigkeit ruft durch eine Art von innerer Dynamik und unter dem Druck von Mechanismen, die man geradezu als entartet bezeichnen muß, sogar in den reichen Ländern negative Wirkungen hervor. Im Innern dieser Länder findet man, wenn auch in geringerem Umfang, sehr ausgeprägte Formen von Unterentwicklung Darum sollte es unbestritten sein, daß die Entwicklung entweder allen Teilen der Welt gemeinsam zugute kommt oder einen Prozeß der Rezession auch in jenen Gegenden erleidet, die bisher einen ständigen Fortschritt zu verzeichnen hatten Diese Tatsache ist besonders aufschlußreich für das Wesen echter Entwicklung: Entweder nehmen alle Nationen der Welt daran teil, oder sie ist tatsächlich nicht echt.

Unter den typischen Kennzeichen von Unterentwicklung, die in wachsendem Maße auch die entwickelten Völker betreffen, gibt es zwei, die in besonderer Weise eine dramatische Situation offenbaren. An erster Stelle steht die Wohnungskrise. In diesem Internationalen Jahr der Menschen ohne Wohnung, das die Organisation der Vereinten Nationen beschlossen hat, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Millionen von Menschen ohne angemessene oder sogar ohne jegliche Wohnung, um die Gewissen aller aufzurütteln und eine Lösung für dieses schwere Problem zu finden, das eine Reihe von negativen Folgen im individuellen, familiären und gesellschaftlichen Bereich hat.34

Wohnungen fehlen überall; dies ist größtenteils eine Folge der stets zunehmenden Verstädterung.35 Sogar die stärker entwickelten Völker bieten den traurigen Anblick von einzelnen und Familien, die im wahrsten Sinne des Wortes um das Überleben kämpfen und dabei ohne Wohnung sind oder in einer derart elenden Behausung leben müssen, daß sie den Namen einer Wohnung nicht verdient.

Die Wohnungsnot, die in sich selbst schon ein ziemlich schweres Problem darstellt, muß als Zeichen und Synthese einer ganzen Reihe von wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder einfach menschlichen Unzulänglichkeiten angesehen werden. In Anbetracht der Ausdehnung des Phänomens kann man sich leicht davon überzeugen, wie weit wir noch vom wirklichen Fortschritt der Völker entfernt sind.

18. Ein weiteres Kennzeichen, das die große Mehrheit der Nationen betrifft, ist das Phänomen der Arbeitslosigkeit und der Unterbeschäftigung.

Niemandem entgeht, wie aktuell und stets schwieriger sich dieses Problem in den industrialisierten Ländern darstellt.36 Wenn es in den Entwicklungsländern wegen ihres hohen Bevölkerungszuwachses und der Menge junger Menschen bereits alarmierend wirkt, scheinen in den Ländern starker wirtschaftlicher Entwicklung die Quellen der Arbeit selbst abzunehmen und, statt zuzunehmen, verringern sich so die Möglichkeiten für eine Beschäftigung.

Auch diese Erscheinung mit ihrer Reihe von negativen Folgen auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene, von der Abwertung der Person bis zum Verlust der Selbstachtung, die sich jeder Mann und jede Frau schuldet, drängt uns dazu, die Art der im Laufe der letzten zwanzig Jahre angestrebten Entwicklung ernsthaft in Frage zu stellen. Hierbei erweist sich als höchst angebracht die folgende Überlegung der Enzyklika Laborem Exercens: "Dabei ist hervorzuheben, daß das entscheidende Element und gleichzeitig der beste Prüfstein eines solchen Fortschritts im Geist der Gerechtigkeit und des Friedens, wie ihn die Kirche verkündet und unaufhörlich vom Vater aller Menschen und Völker erbittet, gerade die ständige Aufwertung der menschlichen Arbeit ist, sei es unter dem Gesichtspunkt ihrer objektiven Zielsetzung, sei es im Hinblick auf die Würde des Subjekts jeder Arbeit, die der Mensch ist". Demgegenüber "werden wir unvermeidlich von einer erschütternden Tatsache ungeheuren Ausmaßes schmerzlich berührt", daß es nämlich "Scharen von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten... gibt, eine Tatsache, die zweifelsfrei bezeugt, daß im Innern der einzelnen politischen Gemeinschaften wie auch in den Beziehungen zwischen ihnen auf kontinentaler und globaler Ebene hinsichtlich der Organisation der Arbeit und der Beschäftigung irgend etwas nicht funktioniert, und zwar gerade in den entscheidenden und sozial wichtigen Punkten".37

Wie das erstgenannte, so bedeutet auch dieses zweite Phänomen wegen seines universalen Charakters und seiner sich gleichsam fortpflanzenden Tendenz ein in seiner negativen Auswirkung höchst aufschlußreiches Zeichen für den Zustand und die Qualität jener Entwicklung der Völker, vor der wir heute stehen.

19. Ein weiteres Phänomen, ebenfalls typisch für die letzten Jahre - auch wenn es nicht überall auftritt -,ist zweifellos genauso bezeichnend für die wechselseitige Abhängigkeit zwischen entwickelten und unterentwickelten Ländern. Es ist das Problem der internationalen Verschuldung dem die Päpstliche Kommission Iustitia et Pax dieses Jahr ein eigenes Dokument38 gewidmet hat.

Man muß an dieser Stelle die enge Verbindung eines solchen Problems, dessen wachsendes Gewicht die Enzyklika Populorum Progressio bereits vorausgesehen hatte,39 mit der Frage nach der Entwicklung der Völker deutlich aussprechen.

Der Grund, der die Entwicklungsländer veranlaßte, das Angebot einer Fülle von bereitstehenden Kapitalien anzunehmen, war die Hoffnung, sie in Entwicklungsprojekte investieren zu können. Darum kann man die Bereitstellung von Kapitalien und ihre Annahme in Form von Darlehen durchaus als einen Beitrag zur Entwicklung selbst ansehen. Das ist an sich ein wünschenswerter und berechtigter Vorgang, wenn er vielleicht auch unvorsichtig und manchmal überstürzt in die Wege geleitet worden ist. Seitdem sich aber die Lage in den Schuldnerländern ebenso wie auf dem internationalen Finanzmarkt geändert hat, hat sich das Instrument, das bestimmt war, die Entwicklung voranzutreiben, in einen Mechanismus verwandelt, der das Gegenteil bewirkt: sei es, weil die Schuldnerländer, um dem Schuldendienst nachzukommen, sich verpflichtet sehen, Kapitalien auszuführen, die notwendig wären, um ihren Lebensstandard zu heben oder wenigstens zu halten, sei es, weil sie aus demselben Grund keine neuen Kredite erhalten können, die sie dringend bräuchten.

Durch diesen Mechanismus ist das Mittel, das zur Entwicklung der Völker bestimmt war, zu einer Bremse geworden, in gewissen Fällen sogar zur Ursache einer verschärften Unterentwicklung.

Diese Feststellungen müssen dazu drängen - wie das kürzlich erschienene Dokument der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax sagt -,40 über den ethischen Charakter der wechselseitigen Abhängigkeiten der Völker nachzudenken und in der Linie der vorliegenden Betrachtung die ebenfalls von ethischen Prinzipien bestimmten Erfordernisse und Bedingungen der Zusammenarbeit zur Entwicklung zu bedenken.

20. Wenn wir an diesem Punkt die Ursachen eines solchen schweren Rückstandes im Prozeß der Entwicklung untersuchen, wie er im Gegensatz zu den Hinweisen der Enzyklika Populorum Progressio, die so viele Hoffnungen geweckt hatte, eingetreten ist, richtet sich unsere Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf die politischen Ursachen der heutigen Situation.

Weil wir uns dabei vor einem Bündel zweifellos komplexer Faktoren befinden, ist es nicht möglich, hier zu einer vollständigen Analyse zu gelangen. Wir dürfen jedoch ein besonders entscheidendes Faktum der politischen Situation, die den geschichtlichen Abschnitt prägt, der auf den Zweiten Weltkrieg folgt, und den Verlauf der Entwicklung der Völker stark beeinflußt, nicht verschweigen.

Wir meinen damit die Existenz zweier entgegengesetzter Blöcke, die allgemein mit den gebräuchlichen Namen von Ost und West, oder auch Orient und Okzident, bezeichnet werden. Der Grund für diese Namengebung ist nicht einfach nur politischer, sondern, wie man sagt, auch weltpolitischer Art. Denn jeder dieser beiden Blöcke neigt dazu, rings um sich her weitere Länder oder Ländergruppen sich anzugleichen oder anzuschließen.

Dieser Gegensatz ist zuallererst politischer Art insofern jeder der beiden Blöcke seine eigene Identität in einem System gesellschaftlicher Organisation und Machtausübung findet das dazu neigt das jeweils andere auszuschließen. Seinerseits hat der politische Gegensatz seine Wurzeln in einem tieferen ideologischer Art.

Im Westen besteht nämlich ein System, das sich historisch an den Prinzipien des liberalistischen Kapitalismus orientiert, wie er sich im vergangenen Jahrhundert mit der Industrialisierung entwickelt hat; im Osten dagegen besteht ein System, das sich am marxistischen Kollektivismus orientiert, der entstanden ist aus einer Interpretation der Lage der proletarischen Klassen, wie sie im Licht einer besonderen Geschichtsdeutung vorgenommen wurde. Indem sich jede der beiden Ideologien auf zwei so unterschiedliche Auffassungen vom Menschen, von seiner Freiheit und seiner gesellschaftlichen Rolle bezieht, vertreten sie in Vergangenheit und Gegenwart auf wirtschaftlicher Ebene entgegengesetzte Formen der Arbeitsorganisation und der Eigentumsstrukturen, insbesondere was die sogenannten Produktionsmittel betrifft.

Es war unvermeidlich, daß der ideologische Gegensatz durch die Entwicklung von miteinander ringenden Systemen und Machtzentren und mit je eigenen Formen von Propaganda und Indoktrination zu einem wachsenden militärischen Gegensatz führte und so zwei Blöcke bewaffneter Macht entstehen ließ, von denen jeder die Vorherrschaft des anderen mißtrauisch fürchtet.

Die internationalen Beziehungen mußten ihrerseits die Auswirkungen dieser "Logik der Blöcke" und der jeweiligen "Einflußsphären" notwendigerweise zu spüren bekommen. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden, hat die Spannung zwischen den beiden Blöcken die ganzen folgenden vierzig Jahre beherrscht, indem sie bald den Charakter eines "kalten Krieges"; bald den eines "Stellvertreterkrieges" durch die Ausnutzung örtlicher Konflikte annahm oder mit der Drohung eines offenen und totalen Krieges die Herzen in Unruhe und Angst hielt

Wenn sich auch eine solche Gefahr gegenwärtig weiter entfernt zu haben scheint, ohne freilich völlig verschwunden zu sein, und wenn man auch zu einem ersten Abkommen über die Zerstörung einer Kategorie von Atomwaffen gekommen ist, so bleiben doch die Existenz und der Gegensatz der Blöcke immer noch eine reale und beunruhigende Wirklichkeit, die weiterhin die Weltlage bestimmt.

21. Das zeigt sich mit besonders negativer Auswirkung in den internationalen Beziehungen, die die Entwicklungsländer betreffen. Die Spannung zwischen Ost und West ist ja eigentlich, wie bekannt, nicht ein Gegensatz zwischen zwei unterschiedlichen Graden von Entwicklung, sondern eher zwischen zwei Auffassungen von der Entwicklung der Menschen und Völker, die beide unvollkommen sind und als solche eine tiefgreifende Korrektur erfordern. Dieser Gegensatz wird dann in jene Länder eingeführt und trägt so zur Verbreiterung des Grabens bei, der bereits auf wirtschaftlicher Ebene zwischen Nord und Süd besteht und die Folge des Abstandes der entwickelten von der weniger entwickelten Welt darstellt.

Das ist einer der Gründe, warum die Soziallehre der Kirche eine kritische Haltung gegenüber dem liberalistischen Kapitalismus wie dem kollektivistischen Marxismus einnimmt. Und in der Tat, von der Entwicklung her gesehen, stellt sich die spontane Frage: Auf welche Weise oder in welchem Maße lassen diese beiden Systeme Veränderungen oder Anpassungen zu, so daß eine echte und umfassende Entwicklung des Menschen und der Völker in der heutigen Gesellschaft begünstigt oder gefördert würde? Solche Veränderungen und Anpassungen sind für die Sache einer gemeinsamen Entwicklung aller dringend und unerläßlich.

Die eben erst unabhängig gewordenen Länder, die für ihre Anstrengungen, eine eigene kulturelle und politische Identität zu erlangen, den wirksamen und selbstlosen Beitrag der reicheren und entwickelteren Länder nötig hätten, sehen sich in ideologische Konflikte hineingezogen - und manchmal sogar von ihnen überwältigt -, die im Innern des Landes unvermeidliche Spaltungen erzeugen und in gewissen Fällen sogar wahre Bürgerkriege entfesseln. Dies auch deswegen, weil die Investitionen und Entwicklungshilfen oft ihrem eigentlichen Zweck entzogen und dazu mißbraucht werden, Gegensätze zu vertiefen, außerhalb und sogar gegen die Interessen der Länder, die dadurch gefördert werden sollten. Viele von ihnen werden sich immer mehr der Gefahr bewußt, zu Opfern eines Neokolonialismus zu werden, und versuchen, sich herauszuhalten. Ein solches Bewußtsein hat, wenn auch unter Schwierigkeiten, Schwankungen und gelegentlichen Widersprüchen, die internationale Bewegung der blockfreien Länder hervorgebracht, die, was ihre positive Ausrichtung betrifft, das Recht jedes Volkes auf seine Identität, auf seine Unabhängigkeit und Sicherheit sowie, auf der Grundlage von Gleichheit und Solidarität, das Recht zur Nutzung der Güter, die für alte Menschen bestimmt sind, in wirksamer Weise vertreten möchte.

22. Nach diesen Erwägungen gelingt es leicht, einen klareren Überblick über das Bild der letzten zwanzig Jahre zu bekommen und besser zu verstehen, daß die Kontraste im Norden der Welt, das heißt, zwischen Ost und West, wahrlich nicht die geringste Ursache für den Rückstand oder den Stillstand des Südens sind.

Anstatt sich zu selbständigen Nationen zu entwickeln, die sich um den eigenen Weg zur gerechten Teilhabe an den für alle bestimmten Gutem und Dienstleistungen bemühen, werden die Länder auf dem Wege der Entwicklung zu Rädern eines Mechanismus zu Teilen einer gewaltigen Maschinerie. Das geschieht oft auch auf dem Gebiet der sozialen Kommunikationsmittel: Weil diese meistens von Zentren im Norden der Welt aus geleitet werden, berücksichtigen sie nicht immer in gebührender Weise die eigenen vorrangigen Anliegen und Probleme dieser Länder, noch achten sie ihr kulturelles Antlitz, sondern drängen ihnen nicht selten ein entstelltes Bild vom Leben und vom Menschen auf und entsprechen so nicht den Anforderungen einer echten Entwicklung.

Jeder der beiden Blöcke birgt auf seine Weise in sich die Tendenz zum Imperialismus, wie man dies allgemein nennt, oder zu Formen eines Neokolonialismus, eine naheliegende Versuchung, in die man nicht selten fällt, wie selbst die jüngste Geschichte noch lehrt.

Diese anormale Situation, die Folge eines Krieges und einer Besorgnis, die von Motiven der eigenen Sicherheit über das berechtigte Maß hinaus ins Unermeßliche gesteigert ist, ertötet den Aufschwung zu solidarischer Zusammenarbeit aller für das Gemeinwohl des Menschengeschlechtes, zum Schaden vor allem der friedensbereiten Völker, die dadurch in ihrem Recht, Zugang zu den für alle Menschen bestimmten Gütern zu erlangen, blockiert sind.

So gesehen, ist die gegenwärtige Spaltung der Welt ein direktes Hindernis für eine wirkliche Veränderung der Bedingungen der Unterentwicklung in den Ländern auf dem Wege der Entwicklung oder in jenen weniger entwickelten. Die Völker finden sieh allerdings nicht immer mit ihrem Los ab. Ferner scheinen nunmehr die Bedürfnisse einer Wirtschaft selber, die von den Militärausgaben sowie von Bürokratismus und innerer Leistungsschwäche erstickt wird, Prozesse zu begünstigen, die jenen Gegensatz der Blöcke mildern und den Beginn eines fruchtbaren Dialogs und einer echten Zusammenarbeit für den Frieden erleichtern.

23. Die Feststellung der Enzyklika Populorum Progressio, daß die zur Verfügung stehenden Mittel und Investitionen1 die für die Waffenproduktion vorgesehen sind, verwendet werden müßten, um das Elend der darbenden Bevölkerungen zu mildern,41 macht den Appell, den Gegensatz zwischen den beiden Blöcken zu überwinden, noch dringender.

Praktisch dienen heute solche Mittel dazu jedem der beiden Blöcke zu ermöglichen, Vorteile gegenüber dem anderen zu erringen und so die eigene Sicherheit zu garantieren. Diese Einstellung, ein Fehler von Anfang an, erschwert es den Nationen, die in historischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht die Möglichkeit besitzen, eine Führungsrolle zu übernehmen, ihrer Verpflichtung, sich den Völkern solidarisch zu erweisen, die ihre volle Entwicklung anstreben, hinreichend nachzukommen.

Es ist angebracht, an diesem Punkt darauf hinzuweisen - und es sollte nicht als Übertretung erscheinen -, daß eine Führungsrolle unter den Nationen nur von der Möglichkeit und Bereitschaft gerechtfertigt werden kann, umfassend und großzügig zum Gemeinwohl beizutragen.

Eine Nation, die mehr oder weniger bewußt der Versuchung nachgäbe, sich in sich selbst zu verschließen und der Verantwortung nicht nachzukommen, die sich aus ihrer Überlegenheit im Verbund der Nationen ergibt, würde in schwerwiegender Weise ihre eindeutige ethische ,wicht verletzen. Das ist leicht zu erkennen in einer geschichtlichen Situation, in der der gläubige Mensch die Fügungen der göttlichen Vorsehung wahrnimmt, die gewillt ist, sich der Nationen für die Verwirklichung ihrer Pläne zu bedienen wie auch ,,die Pläne der Völker zunichte zumachen" (vgl. PS 33,10). Wenn der Westen den Eindruck macht, sich in Formen einer wachsenden egoistischen Isolierung zurückzuziehen, und der Osten seinerseits aus fragwürdigen Gründen die eigene Verpflichtung zu ignorieren scheint, den Einsatz für die Erleichterung des Elends der Völker mitzutragen, handelt es sich nicht nur um einen Verrat an den berechtigten Erwartungen der Menschheit, der unvorhersehbare Folgen ahnen läßt, sondern um ein echtes Versagen vor einer moralischen Verpflichtung.

24. Wenn bereits die Produktion von Waffen in Anbetracht der wahren Notwendigkeiten der Menschen und des erforderlichen Einsatzes von geeigneten Mitteln, um ihnen zu genügen, ein schwerer Mißstand in der heutigen Welt ist, so ist dies ebenso der Handel mit solchen Waffen. Was diesen angeht, so muß man hinzufügen, so ist das moralische Urteil sogar noch strenger. Bekanntlich handelt es sich um ein Geschäft ohne Grenzen und dazu fähig, sogar die Mauern der Blöcke zu überwinden. Es versteht sich darauf, die Trennungslinie zwischen Ost und West und vor allem jene zwischen Nord und Süd zu überschreiten und sogar, was noch schwerwiegender ist, in die verschiedenen Strukturen der südlichen Zone der Erde einzudringen. So befinden wir uns vor einem seltsamen Phänomen: Während Wirtschaftshilfen und Entwicklungspläne auf das Hindernis unüberwindlicher Barrieren von Ideologien sowie von Steuer- und Handelsgesetzen stoßen, fließen Waffen jeglicher Herkunft fast ungehindert in alle Teile der Welt. Und jedermann weiß - wie das kürzlich erschienene Dokument der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax über die internationale Verschuldung hervorhebt42 -, daß in gewissen Fällen die Gelder, die von der entwickelten Welt als Darlehen gegeben werden, in der unterentwickelten Welt zum Erwerb von Waffen benutzt werden.

Wenn man all dem die weithin bewußte furchtbare Gefahr hinzufügt, die von den unglaublich angewachsenen Vorräten an Atomwaffen ausgeht, scheint dies die logische Konsequenz zu sein: Statt sich um eine echte Entwicklung zu sorgen, die alle zu einem ,,humaneren" Leben führen könnte - wie es sich die Enzyklika Populorum Progressio erhofft hatte43 -, scheint sich das Bild der heutigen Welt, einschließlich der Wirtschaft, schneller und schneller auf eine tödliche Vernichtung hinzubewegen.

Die Folgen dieser Lage der Dinge zeigen sich in der Zunahme einer Plage, die typisch und bezeichnend ist für die Ungleichgewichte und Konflikte der heutigen Welt: die Millionen von Flüchtlingen, denen Kriege, Naturkatastrophen, Verfolgungen und Diskriminierungen aller Art Heim, Arbeit Familie und Vaterland geraubt haben. Die Tragödie dieser Menschenmengen spiegelt sich im niedergeschlagenen Antlitz der Männer, Frauen und Kinder wider, die in einer geteilten und ungastlich gewordenen Welt keine Heimstatt mehr finden können.

Man darf auch nicht die Augen schließen vor einer weiteren schmerzhaften Plage der heutigen Welt: vor dem Phänomen des Terrorismus, verstanden als Vorsatz, unterschiedslos Menschen zu töten Güter zu zerstören und gerade so ein Klima des Schreckens und der Unsicherheit zu schaffen, oft auch verbunden mit Geiselnahme. Auch wenn man als Motivation dieser unmenschlichen Praxis irgendeine Ideologie oder die Errichtung einer besseren Gesellschaft anführt, sind terroristische Akte niemals zu rechtfertigen. Das sind sie noch weniger, wenn solche Beschlüsse und Täten, durch die es manchmal zu wahren Blutbädern kommt, sowie manche Entführungen unschuldiger Menschen außerhalb der Konflikte einem propagandistischen Zweck zum Vorteil der eigenen Sache dienen sollen oder wenn sie, was noch schlimmer ist, als Ziel an sich gewollt sind, so daß man allein darum tötet, um zu töten. Angesichts von soviel Entsetzen und Leid behalten jene Worte stets ihren Wert, die ich vor einigen Jahren ausgesprochen habe und hier noch einmal wiederholen möchte: "Das Christentum verbietet ..., die Wege des Hasses einzuschlagen sowie das Mittel des Mordes an wehrlosen Personen und die Methode des Terrorismus zu benutzen".44

25. An dieser Stelle muß auch an das Problem der Bevölkerungsentwicklung erinnert werden und an die Weise, darüber heute nach den Maßstäben zu reden, die Paul VI. in seiner Enzyklika45 aufgezeigt und die ich selbst im Apostolischen Schreiben Familiaris Consortio46 ausführlich dargelegt habe.

Unleugbar gibt es, vor allem im Süden unseres Planeten, ein derartiges demographisches Problem, daß es Schwierigkeiten für die Entwicklung bereitet. Es ist aber angebracht, gleich hinzufügen daß sich dieses Problem im Norden mit umgekehrten Vorzeichen darstellt Was hier Sorgen macht, ist der Abfall der Geburtenziffer mit Auswirkungen auf die Altersstruktur der Bevölkerung, die sogar unfähig wird, sich biologisch zu erneuern. Auch dieses Phänomen ist von sich aus geeignet, die Entwicklung zu behindern. Wie es ungenau ist, zu behaupten, solche Schwierigkeiten kämen nur vom Bevölkerungswachstum her, so ist es auch nicht erwiesen, daß jegliches Bevölkerungswachstum unvereinbar sei mit einer geordneten Entwicklung. Andererseits erscheint es sehr alarmierend, in vielen Ländern auf Initiative ihrer Regierungen die Propagierung von systematischen Kampagnen zur Geburtenkontrolle festzustellen, und das im Gegensatz nicht nur zur kulturellen und religiösen Identität der Länder selbst, sondern auch zum Wesen einer echten Entwicklung. Oft geschieht es, daß diese Kampagnen unter Druck zustande kommen und durch Kapital aus dem Ausland finanziert werden, ja, daß wirtschaftliche und finanzielle Hilfe und Unterstützung ihnen manchmal sogar untergeordnet werden. In jedem Fall handelt es sich um einen absoluten Mangel an Respekt vor der Entscheidungsfreiheit der betroffenen Personen, Männer und Frauen, die nicht selten unerträglichem Druck, auch wirtschaftlicher Art, ausgesetzt sind, um sie für diese neue Form der Unterdrückung gefügig zu machen. Gerade die ärmsten Völker erleiden diese Mißhandlungen; und es endet mitunter damit, daß die Tendenz zu einem gewissen Rassismus geweckt oder die Anwendungen gewisser Formen von Eugenetik gefördert werden, die gleichermaßen rassistisch sind.

Auch diese Vorgänge, die auf das energischste zu verurteilen sind, sind Zeichen eines irrigen und entarteten Begriffes: von echter menschlicher Entwicklung.

26. Ein solches vorwiegend negatives Bild der realen Situation der Entwicklung in der Welt von heute wäre nicht vollständig wenn nicht auch das gleichzeitige Vorhandensein von positiven Aspekten aufgezeigt würde.

Das erste positive Merkmal ist das wache Bewußtsein sehr vieler Männer und Frauen von der eigenen Würde und der eines jeden Menschen. Dieses Bewußtsein kommt zum Beispiel in der überall auflebenden Sorge um die Achtung der Menschenrechte und in einer entschiedeneren Zurückweisung ihrer Verletzungen zum Ausdruck. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Zahl der privaten Vereinigungen, einige von weltweiter Bedeutung, die in jüngster Zeit dafür entstanden sind; fast alle bemühen sich darum, mit großer Sorgfalt und lobenswerter Objektivität das internationale Geschehen in diesem so delikaten Bereich zu verfolgen.

Auf dieser Ebene muß man den Einfluß anerkennen den die Erklärung der Menschenrechte ausübt, die vor ungefähr vierzig Jahren von der Organisation der Vereinten Nationen verkündet worden ist. Ihr Vorhandensein als solches und ihre fortschreitende Annahme von seiten der internationalen Gemeinschaft sind ein Zeichen für ein Bewußtsein das sich immer mehr durchsetzt. Dasselbe muß man, immer im Bereich der Menschenrechte auch von den anderen Rechtsmitteln derselben Organisation der Vereinten Nationen oder anderer internationaler Organe sagen.47

Das Bewußtsein, von dem wir hier sprechen meint nicht nur die einzelnen Personen, sondern auch die Nationen und Völker die als Körperschaften mit bestimmter kultureller Identität für die Wahrung freie Handhabung und Förderung dieses kostbaren Erbes besonders aufgeschlossen sind.

Gleichzeitig breitet sich in der durch alle Art von Konflikten entzweiten und verworrenen Welt die Überzeugung von einer tiefen wechselseitigen Abhängigkeit aus und folglich auch die Forderung nach einer Solidarität, die diese aufgreift und auf die moralische Ebene überträgt. Mehr als in der Vergangenheit werden sich die Menschen heute dessen bewußt, durch ein gemeinsames Schicksal verbunden zu sein, das man vereint gestalten muß, wenn die Katastrophe für alle vermieden werden soll. Aus der tiefen Erfahrung von Sorge und Angst sowie von Fluchtmitteln wie den Drogen, die für die Welt von heute charakteristisch sind, erhebt sich allmählich die Einsicht, daß das Gut, zu dem wir alle berufen sind, und das Glück, nach dem wir uns sehnen, ohne die Anstrengung und den Einsatz aller, niemanden ausgeschlossen, und ohne konsequenten Verzicht auf den eigenen Egoismus nicht erreicht werden können.

Hier fügt sich auch als Zeichen für die Achtung vor dem Leben trotz aller Versuchungen, es zu zerstören, von der Abtreibung bis zur Euthanasie - die gleichzeitige Sorge um den Frieden ein und wiederum das Bewußtsein davon, daß dieser unteilbar ist: Fr gehört entweder allen oder niemandem; ein Friede, der immer mehr die strenge Beachtung der Gerechtigkeit und folglich die gerechte Verteilung der Früchte wahrer Entwicklung fordert.48 Unter die positiven Zeichen der Gegenwart muß man auch das wachere Bewußtsein von der Begrenztheit der verfügbaren Grundstoffe zählen; ferner die Notwendigkeit, die Unversehrtheit und die Rhythmen der Natur zu achten und bei der Planung der Entwicklung zu berücksichtigen, ohne diese bestimmten demagogischen Auffassungen von ihr zu opfern. Wir bezeichnen dies heute als Sorge für die Umwelt.

Es ziemt sich, auch den Einsatz von Personen in Regierung, Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften, in der Wissenschaft und im internationalen Leben anzuerkennen, die sich - oft von religiösem Glauben inspiriert - darum bemühen, mit nicht geringen persönlichen Opfern und mit Hochherzigkeit die Übel der Welt zu überwinden, und alles daran setzen, daß immer mehr Männer und Frauen sich der Wohltaten des Friedens und einer Lebensqualität erfreuen können, die diesen Namen verdient.

Dazu tragen in nicht geringem Maße die großen internationalen und einige regionale Organisationen bei, deren vereinte Anstrengungen Initiativen von größerer Wirksamkeit ermöglichen.

Auch durch diese Beiträge ist es einigen Entwicklungsländern trotz der Last zahlreicher negativer Voraussetzungen gelungen, eine gewisse Selbstversorgung in der Ernährung oder eine Stufe der Industrialisierung zu erreichen, die es ihnen gestattet, in Würde zu überleben und der aktiven Bevölkerung Arbeitsplätze zu beschaffen.

Darum ist nicht alles negativ in der Welt von heute, und es könnte auch nicht anders sein, weil doch die Vorsehung des himmlischen Vaters sogar über unseren täglichen Sorgen mit Liebe wacht (vgl. Mt 6, 25-32; 10, 23-31; Lk 12, 6-7.22-30); die positiven Werte, die wir aufgezeigt haben, bezeugen sogar eine neue moralische Besorgtheit, vor allem hinsichtlich der großen Menschheitsprobleme wie der Entwicklung und des Friedens.

Diese Tatsache veranlaßt mich, die Überlegungen nun auf die wahre Natur der Entwicklung der Völker zu lenken, im Einklang mit der Enzyklika, deren Jubiläum wir feiern, und als Würdigung ihrer Lehre.

IV. DIE WAHRE MENSCHLICHE ENTWICKLUNG

27. Der Blick, den wir auf Einladung der Enzyklika auf die Welt von heute richten, läßt uns vor allem erkennen, daß die Entwicklung kein gradliniger, fast automatischer und von sich aus grenzenloser Prozeß ist, als ob das Menschengeschlecht unter gewissen Bedingungen auf eine Art unbegrenzter Vollkommenheit zueilen könnte.49

Eine solche Auffassung, die eher mit einem Begriff von "Fortschritt" verbunden ist, der von philosophischen Überlegungen aufklärerischer Natur geprägt ist, als mit einem Begriff von "Entwicklung",50 wie er in spezifisch wirtschaftlich-sozialem Sinn gebraucht wird erscheint heute ernsthaft in Frage gestellt, und das besonders nach der tragischen Erfahrung der bei den letzten Weltkriege, der geplanten und teilweise durchgeführten Vernichtung ganzer Völker sowie der drohenden atomaren Gefahr. An die Stelle eines einfältigen Optimismus mechanistischer Art ist eine begründete Sorge um das Schicksal der Menschheit getreten.

28. Gleichzeitig ist aber auch die "ökonomische" oder "ökonomistische" Auffassung selbst, die mit dem Wort "Entwicklung" verbunden ist, in eine Krise geraten. Tatsächlich erkennt man heute besser, daß die reine Anhäufung von Gütern und Dienstleistungen, auch wenn sie zum Nutzen der Mehrheit erfolgt, nicht genügt, um das menschliche Glück zu verwirklichen. Folglich bringen auch nicht die zur Verfügung stehenden vielfältigen echten Errungenschaften, die in jüngster Zeit durch Wissenschaft und Technik hervorgebracht worden sind, einschließlich der Informatik, die Befreiung von jeglicher Form von Knechtschaft Im Gegenteil die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, daß die gesamte Menge der Hilfsquellen und Möglichkeiten, die dem Menschen zur Verfügung gestellt worden ist, wenn sie nicht von einer sittlichen Grundeinstellung gelenkt und auf das wahre Wohl des Menschengeschlechts hingeordnet wird, sich leicht gegen den Menschen richtet, um ihn zu unterdrücken.

Eine betrübliche Feststellung aus der jüngsten Zeit sollte höchst lehrreich sein: Neben dem Elend der Unterentwicklung, das nicht geduldet werden kann, finden wir eine Art von Überentwicklung, die gleichermaßen unannehmbar ist, weil sie, wie die erste, im Gegensatz zum wahren Wohl und Glück steht. Denn diese Überentwicklung, die in einer übertriebenen Verfügbarkeit von jeder Art materieller Güter zugunsten einiger sozialer Schichten besteht, macht die Menschen leicht zu Sklaven des "Besitzens" und des unmittelbaren Genießens, ohne eine andere Perspektive als die Vermehrung oder den ständigen Austausch der Dinge, die man schon besitzt, gegen andere immer perfektere. Das ist die sogenannte Konsumgesellschaft oder der Konsumismus der so viele "Verschwendung" und "Abfälle" mit sich bringt. Ein Gegenstand, den man besitzt und der von einem anderen, noch perfekteren, übertroffen wird, wird beiseite geschoben, ohne seinen möglichen bleibenden Wert in sieh selbst oder zugunsten eines anderen, ärmeren Menschen zu berücksichtigen.

Wir alle greifen mit den Händen die traurigen Auswirkungen dieser blinden Unterwerfung unter den reinen Konsum: vor allem eine Form von krassem Materialismus und zugleich eine tiefgehende Unzufriedenheit, weil man sofort erkennt, daß man - wenn man nicht gegen die Flut der Reklame und das ständige verlockende Angebot von Produkten gefeit ist - um so mehr haben möchte, je mehr man besitzt, während die tieferen Wünsche unerfüllt bleiben oder vielleicht schon erstickt sind.

Die Enzyklika Papst Paul VI. hat auf den heute so oft betonten Unterschied zwischen "Raben" und "Sein"51 hingewiesen, den zuvor schon das II. Vatikanische Konzil mit treffenden Worten ausgedrückt hatte.52 Das "Haben" von Dingen und Gütern vervollkommnet von sich aus nicht die menschliche Person, wenn es nicht zur Reifung und zur Bereicherung ihres "Seins", das heißt, zur Verwirklichung der menschlichen Berufung als solcher, beiträgt.

Gewiß, der Unterschied zwischen "Sein" und "Haben" sowie die Gefahr, die einer reinen Vermehrung oder Auswechselung von Dingen, die man besitzt, im Hinblick auf den Wert des "Seins" innewohnt, muß nicht unbedingt zu einer Antinomie werden. Eine der größten Ungerechtigkeiten in der Welt von heute besteht gerade darin: Nur relativ wenige sind es, die viel besitzen, und viele jene, die fast nichts haben. Es ist die Ungerechtigkeit der schlechten Verteilung der Güter und Dienstleistungen, die ursprünglich für alle bestimmt sind.

So ergibt sich folgendes Bild: Da gibt es jene - die wenigen, die viel besitzen -, die nicht wirklich zu "sein" imstande sind, weil sie durch eine Umkehrung der Hierarchie der Werte vom Kult des "Habens" daran gehindert werden; und dann diejenigen - die vielen, die wenig oder nichts besitzen -, die wegen der Entbehrung der elementaren Güter ihre grundlegende menschliche Berufung nicht zu verwirklichen vermögen.

Das Übel liegt nicht im "Haben" als solchem, sondern in der Art und Weise des Habens, die auf die Qualität und die Rangordnung der besessenen Güter keine Rücksicht nimmt: Qualität und Rangordnung, wie sie sich aus der

Damit ist nachgewiesen, daß sich die Entwicklung, wenn sie auch eine notwendige wirtschaftliche Dimension besitzt, weil sie ja der größtmöglichen Zahl der Erdenbewohner die zum "Sein" unerläßlichen Güter zur Verfügung stellen muß, dennoch nicht in dieser Dimension erschöpft. Wenn sie auf diese beschränkt wird, wendet sie sich gegen diejenigen, die man damit fördern möchte.

Die Merkmale einer umfassenden, "menschlicheren" Entwicklung, die imstande ist - ohne die wirtschaftlichen Erfordernisse zu leugnen -, sich auf der Höhe der wahren Berufung von Mann und Frau zu halten, sind von Paul VI. beschrieben worden.53

29. Eine nicht nur wirtschaftliche Entwicklung mißt und orientiert sich an dieser Wirklichkeit und an dieser Berufung des Menschen in seiner gesamten Existenz, das heißt, an einer Art von Maßstab, der ihm selbst innewohnt. Er braucht ohne Zweifel die geschaffenen Güter und die Produkte der Industrie, die sich durch den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt ständig entfaltet. Und während die immer neue Verfügbarkeit von materiellen Gütern auf die notwendigen Bedürfnisse antwortet, eröffnet sie zugleich neue Horizonte. Die Gefahr des konsumistischen Mißbrauchs und das Auftreten von künstlichen Bedürfnissen dürfen keineswegs die Wertschätzung und den Gebrauch der neuen Güter und Hilfsquellen, die uns zur Verfügung gestellt werden, verhindern. Wir müssen darin vielmehr ein Geschenk Gottes und eine Antwort auf die Berufung des Menschen sehen, die sich in Christus voll verwirklicht.

Um aber die wahre Entwicklung zu erreichen, darf man den genannten Maßstab nicht aus den Augen verlieren: Er ist enthalten in der besonderen Natur des Menschen, der von Gott nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen worden ist (vgl. Gen 1, 26), in seiner körperlichen wie geistigen Natur, im zweiten Schöpfungsbericht symbolisiert durch die zwei Elemente der Erde, aus der Gott den Leib des Menschen formt, und des Lebensatems, der in seine Nase eingehaucht wird (vgl. Gen 2, 7).

Der Mensch erhält so eine gewisse Verwandtschaft mit den anderen Geschöpfen. Er ist berufen, sie zu gebrauchen, sich um sie zu kümmern, und ist - immer nach dem Genesisbericht (2,15)- in den Garten versetzt mit der Aufgabe, ihn zu bebauen und zu hüten, über allen anderen Geschöpfen, die von Gott seiner Herrschaft unterstellt sind (vgl. Gen 1, 25-26). Gleichzeitig aber muß der Mensch dem Willen Gottes ergeben bleiben, der Unterordnung der Güter und aus deren Verfügbarkeit für das "Sein" des j ihm die Grenzen für den Gebrauch und die Beherrschung der Dinge vorschreibt (vgl. Gen 2,16-17), sowie er ihm auch die Unsterblichkeit verheißt (vgl. Gen 2,9; Weish 2, 23). Darum hat der Mensch, da er Bild Gottes ist, auch eine echte Verwandtschaft mit Gott.

Auf der Grundlage dieser Lehre kann Entwicklung nicht nur im Gebrauch, in der Beherrschung und im wahllosen Besitz der geschaffenen Dinge und der Produkte des menschlichen Fleißes bestehen, sondern vielmehr in der Unterordnung des Besitzes, der Herrschaft und des Gebrauchs unter die göttliche Ebenbildlichkeit des Menschen und unter seine Berufung zur Unsterblichkeit. Dies ist die transzendente Wirklichkeit des menschlichen Seins, an der von Anfang an ein Menschenpaar, Mann und Frau (vgl. Gen 1, 27), teilhat und die somit grundsätzlich sozial ausgerichtet ist.

30. Der Begriff der Entwicklung ist also nach der Heiligen Schrift nicht rein "weltlich" oder "profan", sondern erscheint auch, obgleich mit einem sozio-ökonomischen Schwerpunkt, als der moderne Ausdruck einer wesentlichen Dimension der Berufung des Menschen.

Der Mensch ist ja nicht gleichsam unbeweglich und statisch geschaffen. Die erste Beschreibung, die die Bibel von ihm gibt, zeigt ihn gewiß als Geschöpf und Abbild das in seiner inneren Wirklichkeit von seinem Ursprung und der den Menschen begründenden Ähnlichkeit bestimmt ist. Dies alles aber senkt in das menschliche Sein, in Mann und Frau, den Keim und die Anforderung einer grundlegenden Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, sei es von jedem einzeln oder als Paar. Die Aufgabe besteht darin, "über die anderen Geschöpfe zu herrschen", "den Garten zu bestellen"; eine Aufgabe, die im Rahmen des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Gesetz und somit in der Achtung vor dem empfangenen Abbild zu verwirklichen ist, dem offensichtlichen Fundament jener Herrschermacht, die ihm für seine Vervollkommnung zuerkannt ist (vgl. Gen 1,26-30; 2,15 ff.; Weish 9, 2-3). Wenn der Mensch Gott gegenüber ungehorsam ist und es ablehnt, sich seiner Macht zu unterwerfen, dann lehnt sich die Natur gegen ihn auf und erkennt ihn nicht mehr als ihren "Herrn" an, weil er das göttliche Abbild in sich verdunkelt hat. Der Aufruf zum Besitzen und Gebrauchen der geschaffenen Mittel bleibt immer gültig; aber nach dem Sündenfall wird der Vollzug schwierig und leidvoll (vgl. Gen 3,17-19).

Das folgende Kapitel der Genesis zeigt uns nämlich die Nachkommenschaft von Kam, die "eine Stadt" erbaut, den Hirtenberuf ausübt und sich mit den Künsten (der Musik) und der Technik (der Metallurgie) beschäftigt, während man zugleich beginnt, "den Namen des Herrn anzurufen" (vgl. Gen 4, 17-26).

Die Geschichte des Menschengeschlechts, wie sie von der Heiligen Schrift beschrieben wird, ist auch nach dem Sündenfall eine Geschichte ständiger konkreter Taten, die sich - durch die Sünde immer in Frage gestellt und gefährdet - wiederholen, sich vervollkommnen und ausbreiten als Antwort auf die göttliche Berufung, die von Anfang an dem Mann und der Frau zuerkannt (vgl. Gen 1, 26-28) und dem von ihnen empfangenen göttlichen Abbild eingeprägt ist.

Es ist wenigstens für diejenigen, die an das Wort Gottes glauben, naheliegend, daraus zu folgern, daß die "Entwicklung" von heute als ein Moment der Geschichte gesehen werden muß, die mit der Schöpfung begonnen hat und wegen der Untreue gegenüber dem Willen des Schöpfers ständig gefährdet ist, vor allem durch die Versuchung zum Götzendienst, die aber doch grundsätzlich dem Gesetz ihres Anfangs entspricht. Wer den schwierigen, aber auch beglückenden Auftrag zurückweisen wollte, das Los des ganzen Menschen und aller Menschen zu verbessern, und dies unter dem Vorwand der Last des Kampfes und der ständigen Anstrengung zur Überwindung der Schwierigkeiten oder sogar wegen der Erfahrung des Mißerfolges und des Rückfalls auf den Ausgangspunkt, der würde dem Willen des Schöpfers untreu. Unter dieser Hinsicht habe ich in der Enzyklika Laborem exercens auf die Berufung des Menschen zur Arbeit hingewiesen, um zu unterstreichen, daß immer der Mensch die Hauptperson der Entwicklung ist.54

Jesus Christus selbst hebt im Gleichnis von den Talenten die strenge Behandlung dessen hervor, der die empfangene Begabung zu verbergen wagte: "Du bist ein schlechter und fauler Diener! Du hast doch gewußt, daß ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe... Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat" (Mt 25, 26-28). Uns, die wir die Gaben Gottes empfangen, um sie Frucht bringen zu lassen, kommt es zu, zu "säen" und zu "sammeln". Wenn wir es nicht tun, wird uns auch das genommen, was wir haben.

Das tiefere Verständnis dieser strengen Worte kann uns veranlassen, mit mehr Entschlossenheit die heute für alte dringliche Verpflichtung auf uns zu nehmen, an der vollen Entwicklung der anderen mitzuwirken: an der "Entwicklung des ganzen Menschen und aller Menschen".55

31. Während der Glaube an Christus, den Erlöser, das Wesen der Entwicklung von innen her erhellt, weist er uns auch den Weg bei der Aufgabe der Zusammenarbeit. Im Brief des heiligen Paulus an die Kolosser lesen wir, daß Christus der "Erstgeborene der ganzen Schöpfung" ist und "alles durch ihn und auf ihn hin geschaffen ist" (1,15-16). Denn jedes Ding "hat in ihm Bestand", weil "Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen sollte, um durch ihn alles zu versöhnen (1, 20).

In diesen göttlichen Plan, der von Ewigkeit her in Christus, dem vollkommenen "Ebenbild" des Vaters, beginnt und in ihm als dem "Erstgeborenen der Toten" (Kol 1, 15.8) seinen Höhepunkt findet, fügt sich unsere Geschichte ein, die von unserem persönlichen wie gemeinschaftlichen Bemühen gekennzeichnet ist, die menschliche Lage zu bessern und die auf unserem Weg immer wieder entstehenden Widerstände zu überwinden, indem wir uns so auf die Teilnahme an jener Fülle vorbereiten, die "in ihm wohnt" und die er "seinem Leib, der die Kirche ist", mitgeteilt hat (ebd. 1,18; vgl. Eph 1, 22-23), während die Sünde, die uns stets bedrängt und unsere menschlichen Unternehmungen beeinträchtigt, durch die von Christus gewirkte "Versöhnung" besiegt und entgolten worden ist (vgl. Kol 1, 20).

Hier weitet sich der Blick. Der Traum von einem unbegrenzten "Fortschritt" kehrt wieder, doch radikal verwandelt durch eine neue Sicht, die der christliche Glaube eröffnet hat, indem er uns versichert, daß ein solcher Fortschritt nur möglich ist, weil Gott Vater von Anfang an beschlossen hat, den Menschen an seiner Herrlichkeit teilhaben zu lassen im auferstandenen Herrn Jesus Christus, in dem wir "durch sein Blut die Erlösung, die Vergebung der Sünden haben" (Eph 1,7). In ihm hat er die Sünde besiegen und für unser höheres Wohl dienstbar machen wollen,56 das unendlich übersteigt, was immer der Fortschritt verwirklichen könnte.

Während wir uns inmitten der Dunkelheiten und Mängel der Unterentwicklung und der Überentwicklung abmühen, können wir also sagen, daß eines Tages "dieses Vergängliche sich mit Unvergänglichkeit und dieses Sterbliche mit Unsterblichkeit bekleidet" (1 Kor 15, 54), wenn der Herr "seine Herrschaft Gott, dem Vater, übergibt" (ebd. 24) und alle Werke und Handlungen, die des Menschen würdig sind, eingelöst werden.

Diese Sicht des Glaubens zeigt ferner gut die Gründe auf, die die Kirche veranlassen, sich mit der Problematik der Entwicklung zu befassen, sie als eine Verpflichtung ihres pastoralen Dienstes zu betrachten und alle dazu anzuregen, über die Natur und die Merkmale der wahren menschlichen Entwicklung nachzudenken. Mit ihrem Einsatz möchte sie sieh einerseits in den Dienst des göttlichen Planes stellen, der darauf abzielt, alle Dinge auf die Fülle hinzuordnen, die "in Christus wohnt" (vgl. Kol 1,19) und die er seinem Leib mitgeteilt hat; andererseits möchte sie dadurch ihrer grundlegenden Berufung entsprechen, "Sakrament" oder "Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" zu sein.57

Einige Kirchenväter haben sich durch diese Sicht inspirieren lassen, um ihrerseits eine eigene Auffassung vom Sinn der Geschichte und der menschlichen Arbeit darzulegen, die auf ein Ziel ausgerichtet ist, das sie übersteigt, und stets durch ihre Beziehung zum Werk Christi bestimmt ist. Mit anderen Worten, man kann in der patristischen Lehre eine optimistische Sicht von der Geschichte und der Arbeit finden oder vom bleibenden Wert der echten menschlichen Werke, insofern sie von Christus erlöst und für das verheißene Reich bestimmt sind.58

So gehört zur ältesten Lehre und Praxis der Kirche die Überzeugung, daß sie selbst, ihre Amtsträger und jedes ihrer Glieder durch ihre Berufung dazu angehalten sind, das Elend der Leidenden, ob nah oder fern, nicht nur aus dem "Überfluß", sondern auch aus dem "Notwendigen" zu lindern. Angesichts von Notfällen kann man nicht einen Überfluß an Kirchenschmuck und kostbare Geräte für die Liturgie vorziehen; im Gegenteil, es könnte verpflichtend sein, solche Güter zu veräußern, um den Bedürftigen dafür Speise und Trank, Kleidung und Wohnung zu geben.59 Wie schon bemerkt wurde, wird uns hier - im Rahmen des Rechts auf Eigentum - eine "Rangfolge der Werte " zwischen "Haben" und "Sein" angegeben, besonders wenn sich das "Haben" einiger zum Schaden des "Seins" von so vielen anderen auswirken kann.

In seiner Enzyklika steht Papst Paul VI. auf der Linie dieser Lehre, wobei er sich von der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes anregen läßt.60 Meinerseits möchte ich ihre schwerwiegende Bedeutung und Dringlichkeit noch besonders unterstreichen. Vom Herrn erbitte ich für alle Christen die Kraft, diese Lehre treu in die Praxis übertragen zu können.

32. Die Verpflichtung, sich für die Entwicklung der Völker einzusetzen, ist nicht nur von individueller und noch weniger von individualistischer Art, als ob es möglich wäre, sie mit den isolierten Anstrengungen der einzelnen zu erreichen. Es ist eine Pflicht für alle und jeden, für Mann und Frau, für Gesellschaften und Nationen, im besonderen aber für die katholische Kirche und für die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften mit denen wir zur Zusammenarbeit auf diesem Gebiet voll bereit sind. Wie wir Katholiken die christlichen Brüder einladen sich an unseren Initiativen zu beteiligen, so erklären wir uns in diesem Sinne auch bereit, an den ihrigen mitzuarbeiten, indem wir die an uns gerichteten Einladungen annehmen. Bei diesem Bemühen um die ganzheitliche Entwicklung des Menschen können wir vieles auch zusammen mit den Gläubigen der anderen Religionen tun, wie es übrigens auch an vielen Orten geschieht.

Die Zusammenarbeit für die Entwicklung des ganzen Menschen und jedes Menschen ist ja eine Pflicht aller gegenüber allen und muß zugleich den vier Teilen der Welt, Ost und West, Nord und Süd, oder, um den heute üblichen Ausdruck zu verwenden, den verschiedenen "Welten" gemeinsam sein. Wenn man sie dagegen nur in einem Teil oder nur in einer "Welt" zu verwirklichen sucht, dann geschieht dies auf Kosten der anderen; und dort, wo Entwicklung beginnt, nimmt sie gerade deswegen, weil die anderen ignoriert werden, übertriebene Ausmaße an und entartet.

Auch die Völker oder Nationen selbst haben ein Recht auf ihre eigene volle Entwicklung, die natürlich, wie gesagt, die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte beinhaltet, aber auch die entsprechende kulturelle Identität und die Öffnung zum Transzendenten hin umfassen muß. Nicht einmal die Notwendigkeit der Entwicklung darf als Vorwand genommen werden, um anderen den eigenen Lebensstil oder den eigenen religiösen Glauben aufzuzwingen.

33. Ebenfalls wäre ein Entwicklungstyp nicht wirklich des Menschen würdig, der nicht auch die persönlichen und gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Menschenrechte, die Rechte der Nationen und Völker eingeschlossen, achten und fördern würde.

Heute erkennt man vielleicht mehr als früher und mit größerer Klarheit den inneren Widerspruch einer Entwicklung, die allein auf die wirtschaftliche Seite beschränkt bleibt. Eine solche ordnet die menschliche Person und ihre tieferen Bedürfnisse allzu leicht den Erfordernissen der wirtschaftlichen Planung oder des alleinigen Profits unter.

Die innere Verbindung zwischen wahrer Entwicklung und Achtung der Menschenrechte offenbart noch einmal deren moralischen Charakter. Die wahre Förderung des Menschen, die im Einklang mit der wesentlichen und geschichtlichen Berufung jedes einzelnen steht, erreicht man nicht, indem man nur ein Übermaß an Gütern und Dienstleistungen nutzt oder über perfekte Infrastrukturen verfügt.

Wenn Einzelmenschen und Gemeinschaften nicht die moralischen, kulturellen und geistigen Erfordernisse gewissenhaft respektiert sehen, die auf der Würde der Person und auf der eigenen Identität einer jeden Gemeinschaft, angefangen bei der Familie und den religiösen Gesellschaften, gründen, dann wird sich alles übrige - Verfügbarkeit von Gütern, Überfluß an technischen Hilfsmitteln für das tägliche Leben, ein gewisses Niveau materiellen Wohlstandes - als ungenügend und langfristig als verachtenswert erweisen. Das bestätigt der Herr eindeutig im Evangelium, wo er die Aufmerksamkeit aller auf die wahre Rangfolge der Werte lenkt: "Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert?" (Mt 16, 26).

Echte Entwicklung nach den eigenen Erfordernissen des menschlichen Wesens, ob Mann oder Frau, Kind, Erwachsener oder Betagter, schließt, in erster Linie bei allen, die sich an diesem Prozeß aktiv beteiligen und dafür verantwortlich sind, ein lebendiges Bewußtsein ein vom Wert der Rechte al1er und eines jeden sowie von der Notwendigkeit, das Recht eines jeden auf den vollen Gebrauch der Hilfen, die von Wissenschaft und Technik angeboten werden, zu achten.

Im inneren Bereich einer jeden Nation erhält die Achtung aller Menschenrechte eine große Bedeutung: besonders das Recht auf Leben in jedem Stadium seiner Existenz; die Rechte der Familie, insofern sie die soziale Grundgemeinschaft oder "Zelle der Gesellschaft" ist; die Gerechtigkeit in den Arbeitsverhältnissen; die Rechte, die dem Leben der politischen Gemeinschaft als solcher innewohnen; die Rechte aus der transzendenten Berufung des Menschen, angefangen beim Recht auf Freiheit, den eigenen religiösen Glauben zu bekennen und zu praktizieren.

Auf internationaler Ebene, in den Beziehungen zwischen den Staaten oder - nach dem geläufigen Sprachgebrauch - zwischen den verschiedenen "Welten", muß die Identität eines jeden Volkes mit seinen geschichtlichen und kulturellen Eigenschaften voll geachtet werden. Ebenso unerläßlich ist es, wie schon die Enzyklika Populorum Progressio gewünscht hat, jedem Volk das gleiche Recht zuzugestehen mit am Tisch des gemeinsamen Mahles zu sitzen",61 statt wie Lazarus draußen vor der Tür zu liegen während "die Hunde kommen, um seine Geschwüre zu lecken (vgl. Lk 16 20.21). Sowohl die Völker als auch die einzelnen Personen müssen sich der grundsätzlichen Gleichheit erfreuen,62 auf der zum Beispiel die Charta der Organisationen der Vereinten Nationen beruht: eine Gleichheit, die das Fundament des Rechtes aller auf Teilnahme am Prozeß einer vollen Entwicklung ist.

Um von solcher Art zu sein, muß sich die Entwicklung im Rahmen von Solidarität und Freiheit vollziehen, ohne jemals die eine oder die andere, unter welchem Vorwand auch immer zu opfern. Der moralische Charakter der Entwicklung und seine notwendige Förderung werden besonders herausgestellt, wenn alle Erfordernisse, die sich aus der dem menschlichen Geschöpf eigenen Ordnung von Wahr und Gut herleiten, auf das strengste beachtet werden. Der Christ, der dazu angeleitet worden ist, im Menschen das Abbild Gottes zu sehen, das zur Teilnahme an der Wahrheit und am Guten berufen ist, die Gott selbst darstellt, versteht ferner den Einsatz für die Entwicklung und ihre Verwirklichung nicht unabhängig von der Beachtung und dem Respekt vor der einzigartigen Würde dieses "Abbildes". Mit anderen Worten, die wahre Entwicklung muß sich auf die Liebe zu Gott und zum Nächsten gründen und dazu beitragen, die Beziehungen zwischen den einzelnen und der Gesellschaft zu fördern. Das ist die "Zivilisation der Liebe", von der Papst Paul VI. so oft gesprochen hat.

34. Der moralische Charakter der Entwicklung kann auch nicht von der Achtung vor den Geschöpfen absehen, welche die sichtbare Natur bilden, die die Griechen in Anspielung auf die Ordnung, von der sie geprägt ist, "Kosmos" nannten. Auch diese Wirklichkeiten verlangen Achtung, und zwar in einer dreifachen Hinsicht, über die aufmerksam nachzudenken sich lohnt.

Die erste besteht darin, daß es angemessen ist, sich zunehmend dessen bewußt zu werden, daß man nicht ungestraft von den verschiedenen lebenden oder leblosen Geschöpfen - Naturelemente, Pflanzen, Tiere - rein nach eigenem Gutdünken und entsprechend den eigenen wirtschaftlichen Erfordernissen Gebrauch machen kann. Im Gegenteil, man muß der Natur eines jeden Wesens und seiner Wechselbeziehung in einem geordneten System wie dem Kosmos Rechnung tragen.

Die zweite Überlegung gründet sich hingegen auf die noch eindringlichere Feststellung von der Begrenztheit der natürlichen Hilfsquellen, von denen sich einige, wie man sagt, nicht regenerieren. Diese Quellen mit absolutem Verfügungsanspruch zu benutzen, als ob sie unerschöpflich wären, bringt ihr Fortbestehen nicht nur für die gegenwärtige Generation, sondern vor al1cm für die künftigen in ernste Gefahr.

Die dritte Überlegung bezieht sich unmittelbar auf die Folgen, die eine gewisse Art von Entwicklung auf die Lebensqualität in den Industriegebieten hat. Wir wissen alle, daß ein direktes oder indirektes Ergebnis der Industrialisierung immer häufiger die Verschmutzung der Umwelt ist, mit schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung.

Ein weiteres Mal wird dadurch deutlich, daß sich die Entwicklung, der Wille zur Planung, der sie lenkt, der Gebrauch der Hilfsquellen und die Art und Weise, sie zu verwerten, nicht von der Beachtung der moralischen Forderungen lösen dürfen. Eine davon verlangt ohne Zweifel Grenzen für den Gebrauch der sichtbaren Natur Die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft ist keine absolute Macht noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu "gebrauchen oder zu mißbrauchen" oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt. Die Beschränkung, die der Schöpfer selber von Anfang an auferlegt hat, ist symbolisch in dem Verbot enthalten, "von der Frucht des Baumes zu essen" (vgl. Gen 2, 16-17); sie zeigt mit genügender Klarheit, daß wir im Hinblick auf die sichtbare Natur nicht nur biologischen, sondern auch moralischen Gesetzen unterworfen sind, die man nicht ungestraft übertreten darf.

Eine richtige Auffassung von Entwicklung kann nicht von solchen Überlegungen hinsichtlich des Gebrauchs der Naturdinge, der möglichen Erneuerung der Hilfsquellen und der Folgen einer ungeordneten Industrialisierung absehen, die unser Gewissen erneut auf die moralische Dimension der Entwicklung hinlenken.63

V. EINE THEOLOGISCHE ANALYSE DER MODERNEN PROBLEME

35. Im Lichte dieses wesentlichen moralischen Charakters der Entwicklung sind auch die Hindernisse zu betrachten, die sich ihr entgegenstellen. Wenn es während der Jahre seit der Veröffentlichung der Enzyklika Pauls VI. keine Entwicklung gegeben hat - oder sie nur in geringem, unregelmäßigem, wenn nicht geradezu widersprüchlichem Maße stattgefunden hat -, können die Gründe dafür nicht nur wirtschaftlicher Natur sein. Wie bereits angedeutet, sind dabei auch politische Motive im Spiel. Die Entscheidungen, die die Entwicklung der Völker vorantreiben oder hemmen, sind ja gewiß Faktoren von politischem Charakter. Um die oben genannten entarteten Mechanismen zu überwinden und sie durch neue, gerechtere zu ersetzen, die dem Gemeinwohl der Menschheit mehr entsprechen, bedarf es eines wirksamen politischen Willens. Leider muß man aber nach einer Analyse der Situation feststellen, daß dieser bisher unzureichend gewesen ist.

In einem pastoralen Dokument wie dem vorliegenden wäre aber eine Analyse, die sich ausschließlich auf wirtschaftliche und politische Ursachen der Unterentwicklung (und analog auch der sogenannten Überentwicklung) beschränken würde, unvollständig. Es ist deshalb erforderlich, die Ursachen moralischer Natur zu ermitteln, die auf der Ebene des Verhaltens der Menschen als verantwortliche Personen wirken, um den Fortgang der Entwicklung zu hemmen und ihre Vollendung zu verhindern.

Wenn wissenschaftliche und technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen, die zusammen mit den notwendigen und konkreten politischen Entscheidungen endlich dazu beitragen sollen, die Völker auf den Weg zu einer echten Entwicklung zu bringen, dann erfolgt die Überwindung der hauptsächlichen Hindernisse ebenfalls nur durch wesentlich moralische Entschlüsse, welche sich für die Glaubenden, besonders für Christen, mit Hilfe der göttlichen Gnade an den Prinzipien des Glaubens orientieren.

36. Deshalb ist zu betonen, daß eine in Blöcke geteilte Welt, die von starren Ideologien gestützt werden und wo statt gegenseitiger solidarischer Abhängigkeit verschiedene Formen von Imperialismus vorherrschen, nur eine Welt sein kann, die "Strukturen der Sünde" unterworfen ist. Die Summe der negativen Faktoren, die sieh in einem Sinne auswirken, der zu einem echten Bewußtsein vom umfassenden Gemeinwohl und von der Aufgabe, diese zu fördern, im Gegensatz steht, macht den Eindruck, in Personen und Institutionen eine Barriere zu schaffen, die nur schwer zu überwinden ist.64

Wenn die heutige Situation Schwierigkeiten unterschiedlicher Natur zuzuschreiben ist, so ist es nicht verfehlt, von "Strukturen der Sünde" zu sprechen, die, wie ich im Apostolischen Schreiben Reconciliato Paenitentia festgestellt habe, in persönlicher Sünde ihre Wurzeln haben und daher immer mit konkreten Taten von Personen zusammenhängen, die solche Strukturen herbeiführen, sie verfestigen und es erschweren, sie abzubauen.65

Und so verstärken und verbreiten sie sich und werden zur Quelle weiterer Sünden, indem sie das Verhalten der Menschen negativ beeinflussen.

"Sünde" und "Strukturen der Sünde" sind Kategorien, die nicht oft auf die Situation der Welt von heute angewandt werden. Man gelangt aber nicht leicht zu einem tieferen Verständnis der Wirklichkeit, wie sie sich unseren Augen darbietet, wenn man der Wurzel der Übel, die uns bedrängen, nicht auch einen Namen gibt.

Man kann gewiß von "Egoismus" und von "Kurzsichtigkeit" sprechen; man kann auf "falsche politische Einschätzungen", auf "unkluge wirtschaftliche Entscheidungen" hinweisen. In jeder dieser Wertungen bemerkt man jedoch ein Echo ethisch-moralischer Natur. Die Lage des Menschen ist derartig, daß eine tiefere Analyse von Taten und Unterlassungen der Personen erschwert wird, wenn man nicht in der einen oder anderen Weise Urteile oder Bezüge ethischer Natur miteinschließt.

Diese Wertung ist an sich positiv zu sehen, vor allem wenn sie daraus sämtliche Folgen zieht und sich auf den Glauben an Gott und auf sein Gesetz gründet, das das Gute vorschreibt und das Böse verbietet.

Darin besteht der Unterschied zwischen der Art von sozialpolitischer Analyse und dem ausdrücklichen Hinweis auf die "Sünde" und auf "Strukturen der Sünde". Bei dieser letzteren Sichtweise kommen der Wille des dreimal heiligen Gottes, sein Plan mit den Menschen, seine Gerechtigkeit und sein Erbarmen mit ins Spiel. Gott, der reich ist an Erbarmen, der Erlöser der Menschen, der Herr und Geber des Lebens, fordert von den Menschen bestimmte Verhaltensweisen, die sich auch in Handlungen oder Unterlassungen gegenüber dem Nächsten ausdrücken. Hierin liegt ein Bezug auf die "zweite Tafel" der Zehn Gebote (vgl. Ex 20,12-17; Dt 5,16-21); durch deren Nichtbeachtung beleidigt man Gott und schadet dem Nächsten, wobei man Abhängigkeiten und Hindernisse in die Welt einführt, die viel weiter reichen als die Taten selbst und die kurze Lebensspanne des einzelnen Menschen. Sie wirken sich auch auf den Prozeß der Entwicklung der Völker aus, dessen Verzögerung oder zu langsames Voranschreiten auch in diesem Licht zu beurteilen.

37. An diese allgemeine Analyse religiöser Natur können sich nun einige mehr ins einzelne gehende Überlegungen anschließen, um zu bemerken, daß die bezeichnendsten Handlungen und Verhaltensweisen, die im Gegensatz zum Willen Gottes und zum Wohl des Nächsten stehen, sowie die "Strukturen", die sie herbeiführen, heute vor allem zwei zu sein scheinen: auf der einen Seite die ausschließliche Gier nach Profit und auf der anderen Seite das Verlangen nach Macht mit dem Vorsatz, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen. Jeder dieser Verhaltensweisen kann man, um sie noch treffender zu kennzeichnen, die Qualifizierung hinzufügen: "um jeden Preis". Mit anderen Worten, wir stehen vor einer Absolutsetzung menschlicher Verhaltensweisen mit allen ihren möglichen Folgen.

Auch wenn beide Haltungen an sich voneinander getrennt werden können, weil die eine ja ohne die andere zu existieren vermag, finden sie sich doch in dem Bild, das sich unseren Augen darbietet, unauflöslich verbunden, mag auch die eine oder die andere vorherrschen.

Dieser doppelten sündhaften Haltung verfallen offensichtlich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Nationen und Blöcke. Das begünstigt noch mehr das Entstehen von "Strukturen der Sünde", von denen ich gesprochen habe. Wenn man gewisse Formen eines modernen "Imperialismus" im Licht dieser moralischen Kriterien betrachten würde, könnte man entdecken, daß sich hinter bestimmten Entscheidungen, die scheinbar nur von Wirtschaft oder Politik getragen sind, wahrhafte Formen von Götzendienst verbergen: gegenüber Geld, Ideologie, Klasse oder Technologie.

Mit dieser Analyse wollte ich vor allem die wahre Natur des Bösen aufzeigen, mit der wir es bei der Frage der Entwicklung der Völker zu tun haben: Es handelt sich um ein moralisches Übel, die Frucht vieler Sünden, die zu "Strukturen der Sünde" führen. Das Böse so zu erkennen bedeutet, auf der Ebene menschlichen Verhaltens den Weg genau anzugeben, den man gehen muß, um es zu überwinden.

38. Es ist ein langer und umständlicher Weg, weil er zudem noch unter ständiger Bedrohung steht, sei es durch die innere Zerbrechlichkeit menschlicher Vorsätze und Taten, sei es durch die Wandelbarkeit der äußeren, oft nicht vorhersehbaren Umstände. Auf jeden Fall muß man den Mut haben, diesen Weg aufzunehmen und, wenn einige Schritte getan sind oder ein Teil der Wegstrecke durchschritten ist, ihn bis zum Ende zu gehen.

Im Rahmen solcher Überlegungen enthält die Entscheidung, sich auf den Weg zu machen oder den Weg fortzusetzen, vor allem einen moralischen Wert, den gläubige Männer und Frauen als von Gottes Willen gefordert anerkennen, dem einzigen wahren Fundament einer Ethik mit absoluter Verpflichtung.

Es ist zu wünschen, daß auch die Männer und Frauen, die keinen ausdrücklichen Glauben haben, davon überzeugt sind, daß die Hindernisse, die einer vollen Entwicklung entgegenstehen, nicht nur wirtschaftlicher Natur sind, sondern von Grundhaltungen abhängen, die sich für den Menschen als absolute Werte darstellen. Deshalb ist zu hoffen, daß alle, die im einen oder anderen Maße für ein "menschlicheres Leben" gegenüber ihren Mitmenschen verantwortlich sind, seien sie von einem religiösen Glauben inspiriert oder nicht, sich vollkommen Rechenschaft geben über die dringende Notwendigkeit einer Änderung der geistigen Haltungen, welche die Beziehungen eines jeden Menschen mit sich selbst, mit dem Nächsten, mit den menschlichen Gemeinschaften, auch den entferntesten, sowie mit der Natur bestimmen, und zwar aus der Kraft höherer Werte wie des Gemeinwohls oder, um den glücklichen Ausdruck der Enzyklika Populorum Progressio aufzugreifen, der vollen Entwicklung "des ganzen Menschen und aller Menschen".66

Für die Christen wie für alle, die die genaue theologische Bedeutung des Wortes "Sünde" anerkennen, heißt die Änderung des Verhaltens oder der Mentalität oder der Lebensweise in biblischer Sprache "Umkehr" (vgl. Mk 1,15; Lk 13, 3.5; Jes 30, 15). Diese Umkehr betrifft im einzelnen die Beziehung zu Gott, zur zugezogenen Schuld, zu ihren Folgen und darum auch zum Nächsten als Individuum oder in Gemeinschaft. Gott, in "dessen Händen die Herzen der Mächtigen sind"67 und aller anderen, ist es, der die "Herzen aus Stein" nach seiner eigenen Verheißung und durch das Wirken seines Geistes "in Herzen aus Fleisch" umzuwandeln vermag (vgl. Ez 36, 26)

Auf dem Wege zur ersehnten Umkehr und zur Überwindung der moralischen Hindernisse für die Entwicklung kann man bereits das wachsende Bewußtsein der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den Menschen und den Nationen als positiven und moralischen Wert hervorheben. Daß Männer und Frauen in verschiedenen Teilen der Welt Ungerechtigkeiten und Verletzungen der Menschenrechte, begangen in fernen Ländern, die sie vielleicht niemals besuchen werden, als ihnen selbst zugefügt empfinden, ist ein weiteres Zeichen einer Wirklichkeit, die sich in Gewissen verwandelt hat und so eine moralische Qualität erhält.

Vor allem die Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit wird als entscheidendes System von Beziehungen in der heutigen Welt mit seinen wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Faktoren verstanden und als moralische Kategorie angenommen. Wenn die gegenseitige Abhängigkeit in diesem Sinne anerkannt wird, ist die ihr entsprechende Antwort als moralisches und soziales Verhalten, als "Tugend" also, die Solidarität Diese ist nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das "Gemeinwohl" einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind. Eine solche Entschlossenheit gründet in der festen Überzeugung, daß gerade jene Gier nach Profit und jener Durst nach Macht, von denen bereits gesprochen wurde, es sind, die den Weg zur vollen Entwicklung aufhalten. Diese Haltungen und "Strukturen der Sünde" überwindet man nur - neben der notwendigen Hilfe der göttlichen Gnade mit einer völlig entgegengesetzten Haltung mit dem Einsatz für das Wohl des Nächsten zusammen mit der Bereitschaft, sich im Sinne des Evangeliums für den anderen zu "verlieren", anstatt ihn auszubeuten, und ihm zu "dienen", anstatt ihn um des eigenen Vorteils willen zu unterdrücken (vgl. Mt 10, 40-42; 20, 25; Mk 10, 42-45; Lk 22, 25-27).

39. Die Übung von Solidarität im Innern einer jeden Gesellschaft hat ihren Wert, wenn sich ihre verschiedenen Mitglieder gegenseitig als Personen anerkennen. Diejenigen, die am meisten Einfluß haben weil sie über eine (größere Anzahl von Gütern und Dienstleistungen verfügen sollen sich verantwortlich für die Schwächsten fühlen und bereit sein, Anteil an ihrem Besitz zu geben. Auf derselben Linie von Solidarität sollten die Schwächsten ihrerseits keine rein passive oder gesellschaftsfeindliche Haltung einnehmen, sondern selbst tun, was ihnen zukommt wobei sie durchaus auch ihre legitimen Rechte einfordern. Die Gruppen der Mittelschicht ihrerseits sollten nicht in egoistischer Weise auf ihrem Eigenvorteil bestehen, sondern auch die Interessen der anderen beachten.

Positive Zeichen in der heutigen Welt sind das wachsende Bewußtsein für die Solidarität der Armen untereinander, ihre Initiativen gegenseitiger Hilfe, die öffentlichen Kundgebungen im gesellschaftlichen Leben, wobei sie nicht zu Gewalt greifen, sondern die eigenen Bedürfnisse und ihre Rechte angesichts von Unwirksamkeit oder Korruption staatlicher Stellen deutlich machen. Kraft ihres Auftrages aus dem Evangelium fühlt sich die Kirche an die Seite der Armen gerufen. um die ~ und zu deren Erfüllung beizutragen, ohne den Blick für das Wohl der einzelnen Gruppen im Rahmen des Gemeinwohls aller zu verlieren.

Derselbe Maßstab wird analogerweise auf die internationalen Beziehungen angewandt. Die wechselseitige Abhängigkeit muß sich in eine Solidarität verwandeln, die auf dem Prinzip gründet, daß die Güter der Schöpfung für alle bestimmt sind: Was menschlicher Fleiß durch Verarbeitung von Rohstoffen und Arbeitsleistung hervorbringt, muß dem Wohl aller in gleicher Weise dienen.

Indem die stärkeren und reicheren Nationen jeglichen Imperialismus und alle Absichten, die eigene Hegemonie zu bewahren, überwinden, müssen sie sich für die anderen moralisch verantwortlich fühlen, bis ein wirklich internationales System geschaffen ist, das sich auf die Grundlage der Gleichheit aller Völker und auf die notwendige Achtung ihrer legitimen Unterschiede stützt. Die wirtschaftlich schwächeren Länder oder jene, deren Menschen gerade noch überleben können, müssen mit Hilfe der anderen Völker und der internationalen Gemeinschaft in den Stand versetzt werden, mit ihren Schätzen an Menschlichkeit und Kultur; die sonst für immer verloren gehen würden, auch selbst einen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten.

Die Solidarität hilft uns, den "anderen" - Person, Volk oder Nation - nicht als irgendein Mittel zu sehen, dessen Arbeitsfähigkeit und Körperkraft man zu niedrigen Kosten ausbeutet und den man, wenn er nicht mehr dient, zurückläßt, sondern als ein uns "gleiches" Wesen, eine "Hilfe" für uns (vgl. Gen 2,18.20), als einen Mitmenschen also, der genauso wie wir am Festmahl des Lebens teilnehmen soll, zu dem alle Menschen von Gott in gleicher Weise eingeladen sind. Hieraus folgt, wie wichtig es ist, das religiöse Gewissen der Menschen und Völker zu wecken.

So sind Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung der anderen ausgeschlossen. Bei der gegenwärtigen Teilung der Welt in einander entgegengesetzte Blöcke ballen sich solche Tendenzen in der Gefahr von Krieg und der übertriebenen Sorge um die eigene Sicherheit zusammen, oft auf Kosten der Autonomie, der freien Entscheidung und sogar der territorialen Integrität der schwächeren Nationen, die in die sogenannten "Einflußzonen" oder "Sicherheitsgürtel" einbezogen sind.

Die "Strukturen der Sünde" und die Sünden, die dort einmünden, widersetzen sich mit gleicher Rationalität dem Frieden wie der Entwicklung, weil Entwicklung nach dem bekannten Ausdruck der Enzyklika Papst Paul VI. "der neue Name für den Frieden" ist.68

Auf solche Weise wird Solidarität, wie wir sie vorschlagen, der Weg zum Frieden und zugleich zur Entwicklung. Der Weltfriede ist in der Tat nicht denkbar ohne die Anerkennung von seiten der Verantwortlichen, daß die wechselseitige Abhängigkeit schon von sich aus die Überwindung der Politik der Blöcke, den Verzicht auf jede Form von wirtschaftlichem, militärischem oder politischem Imperialismus und die Verwandlung des gegenseitigen Mißtrauens in Zusammenarbeit fordert. Und diese ist gerade der ureigene Akt der Solidarität zwischen Einzelpersonen und Nationen.

Der Wahlspruch des Pontifikats meines verehrten Vorgängers Papst Pius XII. lautete: Opus iustitiae pax - der Friede, die Frucht der Gerechtigkeit. Heute könnte man mit derselben Genauigkeit und der gleichen Kraft biblischer Inspiration (vgl. Jes 32,17; Jak 3,18) sagen: Opus solidarietatis pax - Friede, die Frucht der Solidarität.

Das von allen so sehr ersehnte Ziel des Friedens wird gewiß mit der Verwirklichung der sozialen und internationalen Gerechtigkeit erreicht werden, aber auch mit der Übung jener Tugenden, die das Zusammenleben fördern und das Leben in Einheit lehren, um gemeinsam, im Geben und Nehmen, eine neue Gesellschaft und eine bessere Welt zu schaffen.

40. Die Solidarität ist zweifellos eine christliche Tugend. Bereits in der vorangegangenen Darlegung war es möglich, zahlreiche Berührungspunkte zwischen ihr und der Liebe auszumachen, dem Erkennungszeichen der Jünger Christi.

Im Licht des Glaubens strebt die Solidarität danach, sich selbst zu übersteigen, um die spezifisch christlichen Dimensionen des völligen Ungeschuldetseins, der Vergebung und der Versöhnung anzunehmen. Dann ist der Nächste nicht mehr nur ein menschliches Wesen mit seinen Rechten und seiner grundlegenden Gleichheit mit allen, sondern wird das lebendige Abbild Gottes, des Vaters, erlöst durch das Blut Jesu Christi und unter das ständige Wirken des Heiligen Geistes gestellt. Er muß also, auch als Feind, mit derselben Liebe geliebt werden, mit der ihn der Herr liebt, und man muß für ihn zum Opfer bereit sein, auch zum höchsten: "das Leben für die eigenen Brüder geben" (vgl. Joh 3,16).

Das Bewußtsein von der gemeinsamen Vaterschaft Gottes, von der Brüderlichkeit aller Menschen in Christus, der "Söhne im Sohn", von der Gegenwart und dem lebenschaffenden Wirken des Heiligen Geistes wird dann unserem Blick auf die Welt gleichsam einen neuen Maßstab zu ihrer Interpretation verleihen. Jenseits der menschlichen und naturgegebenen Bindungen, die schon so fest und eng sind, zeigt sich im Licht des Glaubens ein neues Modell der Einheit des Menschengeschlechtes, an dem sich die Solidarität in letzter Konsequenz inspirieren muß. Dieses höchste Modell der Einheit ein Abbild des innersten Lebens Gottes, des Einen in drei Personen, bezeichnen wir Christen mit dem Wort "Gemeinschaft" (communio). Eine solche ausgesprochen christliche Gemeinschaft, die mit der Hilfe des Herrn sorgfältig gepflegt, erweitert und vertieft wird, ist die Seele der Berufung der Kirche, um "Sakrament" im bereits angegebenen Sinne zu sein.

Die Solidarität muß deshalb zur Verwirklichung dieses göttlichen Planes sowohl auf individueller wie auch auf nationaler und internationaler Ebene beitragen. Die "entarteten Mechanismen" und die "Strukturen der Sünde", von denen wir bereits besprochen haben, können nur durch die Übung jener menschlichen und christlichen Solidarität überwunden werden, zu der die Kirche einlädt und die sie unermüdlich fördert. Nur auf diese Weise können sich viele positive Energien zum Vorteil für die Entwicklung und den Frieden voll entfalten.

Viele von der Kirche heiliggesprochene Menschen bieten wunderbare Zeugnisse einer solchen Solidarität und können uns als Beispiel in den gegenwärtigen schwierigen Umständen dienen. Unter allen möchte ich an den hl. Petrus Claver erinnern mit seinem Dienst an den Sklaven von Cartagena de Indias (Kolumbien) oder an den hl. Maximilian Kolbe, der sein Leben für einen ihm unbekannten Gefangenen im Konzentrationslager von Auschwitz-Oswiecim hingegeben hat.

VI. EINIGE BESONDERE ORIENTIERUNGEN

41. Die Kirche hat zum Problem der Unterentwicklung als solchem keine technischen Lösungen anzubieten, wie bereits Papst Paul VI. in seiner Enzyklika betont hat.69 Sie legt ja keine wirtschaftlichen und politischen Systeme oder Programme vor, noch zieht sie die einen den anderen vor, wenn nur die Würde des Menschen richtig geachtet und gefördert wird und ihr selbst der notwendige Raum gelassen wird, ihren Dienst in der Welt auszuüben.

Aber die Kirche ist auch "erfahren in den Fragen, die den Menschen betreffen",70 und diese Erfahrung veranlaßt sie, ihre religiöse Sendung notwendigerweise auf die verschiedenen Bereiche auszudehnen, in denen Männern und Frauen wirken, um im Einklang mit ihrer Würde als Person das stets begrenzte Glück zu suchen, das in dieser Welt möglich ist.

Nach dem Beispiel meiner Vorgänger muß ich wiederholen, daß nicht auf ein "technisches" Problem reduziert werden darf, was, wie die echte Entwicklung, die Würde des Menschen und der Völker berührt. Durch eine solche Reduzierung würde die Entwicklung ihres wahren Inhalts beraubt; man würde so die Menschen und Völker verraten, denen sie dienen soll.

Aus diesem Grunde hat die Kirche heute wie vor zwanzig Jahren und auch in Zukunft ein Wort zu sagen zur Natur, zu den Bedingungen, den Anforderungen, den Zielen einer echten Entwicklung und ebenso zu den Hindernissen, die sich dieser entgegenstellen. Indem sie das tut, erfüllt die Kirche ihren Verkündigungsauftrag, da sie ihren Hauptbeitrag zur Lösung des drängenden Problems der Entwicklung leistet, wenn sie die Wahrheit über Christus, über sich selbst und über den Menschen verkündet und auf eine konkrete Situation anwendet.71

Als Mittel zur Erreichung dieses Zieles benutzt die Kirche ihre Soziallehre. Um in der heutigen schwierigen Lage eine richtige Problemstellung wie auch die beste Lösung der Fragen zu fördern, kann es eine große Hilfe sein, die "Summe von Leitprinzipien, von Urteilskriterien und von Richtlinien für das konkrete Handeln", die die kirchliche Lehre vorlegt,72 genauer zu kennen und mehr zu verbreiten.

Man wird so unmittelbar bemerken, daß die Fragen, vor denen wir stehen, vor allem moralischer Natur sind und daß weder die Analyse des Entwicklungsproblems an sich noch die Mittel zur Überwindung der gegenwärtigen Schwierigkeiten von einer solchen wesentlichen Dimension absehen dürfen.

Die kirchliche Soziallehre ist kein "dritter Weg" zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus und auch keine mögliche Alternative zu anderen, weniger weit voneinander entfernten Lösungen: Sie ist vielmehr etwas Eigenständiges. Sie ist auch keine Ideologie, sondern die genaue Formulierung der Ergebnisse einer sorgfältigen Reflexion über die komplexen Wirklichkeiten menschlicher Existenz in der Gesellschaft und auf internationaler Ebene, und dies im Licht des Glaubens und der kirchlichen Überlieferung. Ihr Hauptziel ist es, solche Wirklichkeiten zu deuten, wobei sie prüft, ob diese mit den Grundlinien der Lehre des Evangeliums über den Menschen und seine irdische und zugleich transzendente Berufung übereinstimmen oder nicht, um daraufhin dem Verhalten der Christen eine Orientierung zu geben. Sie gehört daher nicht in den Bereich der Ideologie, sondern der Theologie insbesondere der Moraltheologie.

Ihre Soziallehre vorzutragen und zu verbreiten ist Teil des Verkündigungsauftrages der Kirche. Und weil es sich um eine Lehre handelt, die darauf abzielt, das Verhalten der Personen zu beeinflussen, ergibt sich daraus auch "der Einsatz für die Gerechtigkeit" je nach Auftrag, Berufung und Lage des einzelnen.

Die Durchführung des Verkündigungsauftrages im sozialen Bereich, der ein Aspekt der prophetischen Dimension der Kirche ist, umfaßt auch die Offenlegung der Übel und Ungerechtigkeiten. Doch ist die Klarstellung angebracht, daß Verkündigung wichtiger ist als Anklage, und daß diese nicht von jener absehen darf, da sie nur von dort ihre wahre Berechtigung und die Kraft einer höchsten Motivation erhält.

42. Die kirchliche Soziallehre muß sich heute mehr als früher einer internationalen Sicht in der Linie des II. Vatikanischen Konzils,73 der jüngsten Enzykliken74 und besonders derjenigen, an die wir hier gerade erinnern,75 öffnen. Es wird deshalb nicht überflüssig sein, deren Themen und charakteristische Weisungen, die das Lehramt in diesen Jahren aufgegriffen hat, in diesem Licht erneut zu überprüfen und zu vertiefen.

Ich möchte hier auf eines davon besonders hinweisen: auf die Option vorrangige Liebe für die Armen. Dies ist eine Option oder ein besonderer Vorrang in der Weise, wie die christliche Liebe ausgeübt wird; eine solche Option wird von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt. Sie bezieht sich auf das Leben eines jeden Christen, insofern er dem Leben Christi nachfolgt; sie gilt aber gleichermaßen für unsere sozialen Verpflichtungen und daher auch für unseren Lebensstil sowie für die entsprechenden Entscheidungen die hinsichtlich des Eigentums und des Gebrauchs der Güter zu treffen sind.

Heute muß angesichts der weltweiten Bedeutung, die die Soziale Frage erlangt hat,76 diese vorrangige Liebe mit den von ihr inspirierten Entscheidungen die unzähligen Scharen von Hungernden, Bettlern, Obdachlosen, Menschen ohne medizinische Hilfe und vor allem ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft umfassen: Es ist unmöglich, die Existenz dieser Menschengruppen nicht zur Kenntnis zu nehmen. An ihnen vorbeizusehen würde bedeuten, daß wir dem "reichen Prasser" gleichen, der so tat, als kenne er den Bettler Lazarus nicht, "der vor seiner Tür lag" (vgl. Lk 16, 19-31).77

Unser tägliches Leben wie auch unsere Entscheidungen in Politik und Wirtschaft müssen von diesen Gegebenheiten geprägt sein. In gleicher Weise dürfen die Verantwortlichen der Nationen und internationalen Einrichtungen, die ja verpflichtet sind, die wahre menschliche Dimension immer an die erste Stelle ihrer Programme zu setzen, nicht vergessen, dem Phänomen der wachsenden Armut Vorrang zu geben. Anstatt abzunehmen, vervielfacht sieh leider die Zahl der Armen, nicht nur in den weniger entwickelten, sondern auch, was ebenso skandalös erscheint, in den stärker entwickelten Ländern.

Man muß sich noch einmal das kennzeichnende Prinzip der christlichen Soziallehre vergegenwärtigen: Die Güter dieser Welt sind ursprünglich für alle bestimmt.78 Das Recht auf Privateigentum ist gültig und notwendig; es entwertet aber dieses Prinzip nicht: Auf ihm liegt in der Tat eine "soziale Hypothek",79 das heißt, darin erkennt man eine soziale Funktion als innere Qualität, die genau auf dem Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter gründet und von dorther gerechtfertigt ist. Auch darf man bei diesem Einsatz für die Armen jene besondere Form der Armut nicht vergessen, wie sie der Entzug der Grundrechte der Person, insbesondere des Rechtes auf Religionsfreiheit bis zum Recht auf freie wirtschaftliche Initiative, darstellt.

43. Die aufrüttelnde Sorge für die Armen - die nach einer aufschlußreichen Formulierung "die Armen des Herrn"80 sind - muß auf allen Ebenen in konkrete Taten einmünden, bis schließlich eine Reihe von notwendigen Reformen mit Entschlossenheit erreicht ist. Es hängt von den einzelnen örtlichen Situationen ab, die dringlichsten Reformen herauszufinden und die Art und Weise festzulegen, sie zu verwirklichen; man darf dabei aber nicht jene Reformen vergessen, die von der Situation des oben beschriebenen internationalen Ungleichgewichtes gefordert werden. Diesbezüglich möchte ich hier besonders erwähnen: die Reform des internationalen Handelssystems, das durch Protektionismus und einen wachsenden Hang zu zweiseitigen Vereinbarungen belastet ist; die Reform des Weltwährungs- und -finanzsystems, das heute als nicht ausreichend erkannt ist; die Frage des Transfers von Technologie und ihrer angemessenen Verwendung; die Notwendigkeit einer Überprüfung der Struktur der bestehenden internationalen Organisationen im Rahmen einer internationalen Rechtsordnung.

Das internationale Handelssystem diskriminiert heute oft die Produkte der in den Entwicklungsländern entstehenden Industrien, während es die Produzenten von Rohstoffen entmutigt. Es besteht unter anderem eine Art von internationaler Arbeitsteilung bei der die mit niedrigen Kosten hergestellten Produkte einiger Länder, in denen es keine wirksamen Arbeitsgesetze gibt oder die zu schwach sind, sie anzuwenden, in anderen Teilen der Welt mit beträchtlichen Gewinnen zugunsten der Firmen mit einem solchen Produktionssystem, das keine Grenzen kennt, verkauft werden.

Das Weltwährungs- und -finanzsystem ist heute gekennzeichnet durch eine übergroße Fluktuation der Wechselkurse und Zinssätze zum Schaden der Zahlungsbilanz und der Verschuldungssituation der armen Länder.

Der Technologietransfer bildet heute eines der Hauptprobleme des internationalen Austausches zusammen milden Schäden, die sich daraus ableiten. Nicht selten werden unterentwickelten Ländern notwendige Technologien verwehrt oder nutzlose angeboten.

Die internationalen Organisationen scheinen nach Meinung vieler an einem Punkt ihrer Existenz zu stehen, an dem ihre Funktionsabläufe, die laufenden Kosten und ihre Wirksamkeit eine aufmerksame Prüfung und eventuelle Korrekturen erfordern. Offensichtlich wird ein so heikler Prozeß nicht ohne die Mitarbeit aller verwirklicht werden können. Ersetzt die Überwindung der politischen Rivalitäten sowie den vollständigen Verzicht voraus, diese Organisationen, deren einzige Berechtigung das Gemeinwohl ist, mißbrauchen zu wollen.

Die bestehenden Institutionen und Organisationen haben gut für die Völker gewirkt. Die Menschheit braucht jedoch heute, angesichts einer neuen und schwierigeren Phase ihrer echten Entwicklung, für den Dienst an den Gesellschaften, den Wirtschaften und den Kulturen der ganzen Welt einen höheren Grad internationaler Ordnung.

44. Die Entwicklung erfordert auf seiten der betroffenen Länder selbst vor allem Untemehmungsgeist.81 Jedes Land muß nach seinen eigenen Verantwortlichkeiten handeln, ohne alles von den bessergestellten Ländern zu erhoffen, und in Zusammenarbeit mit den anderen, die in derselben Lage sind. Jedes Land muß den Raum der eigenen Freiheit, soweit wie möglich, entdecken und ausnutzen. Jedes sollte sich die Fähigkeit verschaffen zu Initiativen, die den eigenen sozialen Bedürfnissen entsprechen. Jedes sollte sich auch Rechenschaft geben über die wirklichen Bedürfnisse sowie über die Rechte und die Pflichten, durch die es gehalten ist, solche Bedürfnisse zu befriedigen. Die Entwicklung der Völker setzt ein und verwirklicht sich am besten, indem sich jedes einzelne Volk um die eigene Entwicklung in Zusammenarbeit mit den anderen bemüht.

Wichtig ist ferner, daß gerade auch die Entwicklungsländer die Selbstverwirklichung eines jeden Bürgers durch den Zugang zu einer höheren Kultur und zu einem freien Informationsfluß fördern. Alles, was der Alphabetisierung und der Grundausbildung, die jene vertieft und vervollständigt, nach den Vorschlägen der Enzyklika Populorum Progressio 82 dienen kann - Ziele, die in so vielen Teilen der Welt noch weit von ihrer Verwirklichung entfernt sind ist ein unmittelbarer Beitrag zu einer echten Entwicklung.

Um diesen Weg einzuschlagen, müssen diese Länder die eigenen Prioritäten ermitteln und die eigenen Bedürfnisse unter den besonderen Lebensbedingungen der Bevölkerung, in ihrer geographischen Umwelt und bei ihren kulturellen Traditionen erkennen.

Einige Nationen müßten die Nahrungsmittelproduktion steigern, um stets das Notwendige für die Ernährung und zum Leben zur Verfügung zu haben. Es gibt in der heutigen Welt - wo der Hunger so viele Opfer, besonders unter den Kindern, fordert - Beispiele von weniger stark entwickelten Nationen, denen es doch gelungen ist, das Ziel der Selbstversorgung in der Ernährung zu erreichen und sogar Exportländer von Nahrungsmitteln zu werden.

Andere Nationen brauchen die Reform einiger ungerechter Strukturen und insbesondere der eigenen politischen Institutionen, um korrupte, diktatorische und autoritäre Regime durch demokratische Ordnungen der Mitbeteiligung zu ersetzen. Das ist ein Prozeß, von dem wir wünschen, daß er sich ausbreite und verstärke; denn die "Gesundheit" einer politischen Gemeinschaft - insofern sie sich ausdrückt in der freien und verantwortlichen Teilnahme aller Bürger am öffentlichen Leben, in der Rechtssicherheit sowie in der Achtung und Förderung der Menschenrechte - ist die notwendige Bedingung und sichere Garantie der Entwicklung "jedes Menschen und aller Menschen".

45. Das hier Ausgeführte kann nicht verwirklicht werden ohne die Zusammenarbeit aller, besonders der internationalen Gemeinschaft, und im Rahmen einer Solidarität, die alle umfaßt, angefangen bei denen, die am äußersten Rande stehen. Aber gerade auch die Entwicklungsländer haben die Pflicht, Solidarität unter sich selbst und mit den am meisten betroffenen Ländern der Welt zu üben.

Wünschenswert ist zum Beispiel, daß Nationen derselben geographischen Zone Formen der Zusammenarbeit vereinbaren, die sie von mächtigeren Produzenten weniger abhängig machen; daß sie ihre Grenzen für die Produkte der eigenen Zone öffnen und die eventuelle Ergänzungsfähigkeit ihrer Produkte überprüfen; daß sie sich zusammenschließen, um sich Dienstleistungen zu schaffen, die der einzelne allein nicht bereitstellen kann; und daß sie die Zusammenarbeit auf den Währungs- und Finanzbereich ausdehnen.

Die wechselseitige Abhängigkeit ist in vielen dieser Länder bereits eine Wirklichkeit. Sie anzuerkennen, um sie noch wirkungsvoller zu machen, stellt eine Alternative zur übermäßigen Abhängigkeit von den reicheren und mächtigeren Ländern im Sinne der erwünschten Entwicklung dar, ohne sich gegen jemanden zu stellen, sondern nur, um die eigenen Möglichkeiten weitestgehend zu entdecken und auszuschöpfen. Die Entwicklungsländer derselben geographischen Zone können und müssen - wie bereits mit verheißungsvollen Ergebnissen begonnen - neue regionale Organisationen aufbauen, die sich an den Kriterien von Gleichheit, Freiheit und Mitbeteiligung im Verbund der Nationen ausrichten.

Die universale Solidarität erfordert als unerläßliche Voraussetzung die Autonomie und freie Verfügbarkeit über sich selbst, auch im Innern solcher Zusammenschlüsse, wie sie eben genannt wurden. Zugleich aber fordert sie die Bereitschaft, die notwendigen Opfer für das Wohl der ganzen Weltgemeinschaft aufsichzunehmen.

VII. SCHLUSS

46. Völker und Einzelpersonen trachten nach der eigenen Befreiung: Die Suche nach ihrer vollen Entwicklung ist Zeichen ihrer Sehnsucht, die vielfältigen Hindernisse zu überwinden, die sie daran hindern, ein "menschlicheres Leben" zu führen.

In den letzten Jahren, im Zeitraum nach der Veröffentlichung der Enzyklika Populorum Progressio, hat sich in einigen Bereichen der katholischen Kirche, besonders in Lateinamerika, eine neue Weise verbreitet, die Probleme des Elends und der Unterentwicklung anzugehen; sie erhebt die Befreiung zur Grundkategorie und zum ersten Handlungsprinzip. Die positiven Werte, aber auch die Fehlentwicklungen und die Gefahren, die mit dieser Form theologischer Reflexion und Arbeit verbunden sind, hat das kirchliche Lehramt in entsprechender Weise aufgezeigt.83

Es ist richtig hinzuzufügen, daß Streben nach Befreiung von jeder Form der Knechtschaft von Mensch und Gesellschaft ein edles und berechtigtes Anliegen ist. Darauf zielt gerade die Entwicklung hin oder, besser gesagt, die Befreiung und Entwicklung, wenn man die enge Verbindung zwischen diesen beiden Vorgängen berücksichtigt.

Eine rein wirtschaftliche Entwicklung vermag den Menschen nicht zu befreien; im Gegenteil, sie versklavt ihn schließlich nur noch mehr. Eine Entwicklung, die nicht die kulturelle, transzendente und religiöse Dimension der Menschen und der Gesellschaft umfaßt, trägt in dem Maße, wie sie die Existenz solcher Dimensionen nicht anerkennt und die eigenen Ziele und Prioritäten nicht an ihnen ausrichtet, noch weniger zu einer echten Befreiung bei. Die menschliche Person ist nur dann ganz frei, wenn sie zu sich selbst gekommen ist und in der Fülle ihrer Rechte und Pflichten lebt; dasselbe läßt sich von der Gesellschaft als Ganzer sagen.

Das Haupthindernis, das es für eine wahre Befreiung zu überwinden gilt, sind die Sünde und die Strukturen, die sie schrittweise hervorbringt, wenn sie sich vermehrt und ausbreitet.84

Die Freiheit, "zu der Christus uns befreit hat" (vgl. Gal 5,1), spornt an, uns zu Dienern aller zu bekehren. So konkretisiert sich der Weg der Entwicklung und der Befreiung in der Übung von Solidarität oder in Taten der Liebe und des Dienstes am Nächsten, besonders an den Ärmsten: "Denn wo die Wahrheit und die Liebe fehlen, endet der Befreiungsprozeß im Tod einer Freiheit, die jede Stütze verloren hat".85

47. Im Rahmen der traurigen Erfahrungen der letzten Jahre und des gegenwärtigen vorwiegend negativen Bildes muß die Kirche die Möglichkeit der Überwindung der Hindernisse, die sich der Entwicklung durch ein Zuviel oder ein Zuwenig entgegenstellen, sowie die Hoffnung auf eine echte Befreiung mit ganzer Kraft betonen. Diese Hoffnung und diese Möglichkeit gründen letztlich im Wissen um jene göttliche Verheißung, die dafür garantiert, daß die gegenwärtige Geschichte nicht in sich selbst geschlossen bleibt, sondern offen ist für das Reich Gottes.

Die Kirche hat Vertrauen auch zum Menschen, obwohl sie auch die Bosheit kennt, zu derer fähig ist; denn sie weiß, daß - trotz der Erbsünde und der Sünden, die ein jeder begehen kann - in der menschlichen Person ausreichende Qualitäten und Energien vorhanden sind und es in ihr ein fundamentales "Gutsein" (vgl. Gen 1,31) gibt, weil der Mensch Ebenbild des Schöpfers ist und im Einfluß des erlösenden Wirkens Christi steht, der ,jedem Menschen nahe ist",86 und weil das mächtige Wirken des Heiligen Geistes "die Erde erfüllt" (Weish 1,7).

Weder Verzweiflung noch Pessimismus oder Passivität sind deshalb zu rechtfertigen. Auch wenn es bitter klingt, muß man sagen, daß man, wie durch Egoismus und übersteigertes Verlangen nach Gewinn und Macht, angesichts der bedrängenden Nöte von ungezählten Menschen im Bereich der Unterentwicklung auch durch Angst, Unentschlossenheit und im Grunde durch Feigheit sündigen kann. Und wir sind alle aufgerufen und sogar verpflichtet, uns der furchtbaren Herausforderung des letzten Jahrzehntes des zweiten Jahrtausends zu stellen; und das auch weil die andrängenden Gefahren alle bedrohen: eine Weltwirtschaftskrise, ein Krieg ohne Grenzen, ohne Sieger und Besiegte. Angesichts einer solchen Bedrohung gilt die Unterscheidung zwischen reichen und armen Personen oder Ländern wenig wenn auch die größere Verantwortung bei dem liegt, der mehr hat und mehr kann.

Aber eine solche Motivation ist weder die einzige noch die hauptsächliche. Auf dem Spiel steht vielmehr die Würde der menschlichen Person, deren Verteidigung und Förderung uns vom Schöpfer anvertraut ist und deren verantwortliche Schuldner in strenger Weise alle Männer und Frauen in jeder Lage der Geschichte sind. Das heutige Weltbild scheint dieser Würde nicht zu entsprechen, wie bereits viele mehr oder weniger klar erkennen. Jeder ist aufgerufen, seinen Platz in diesem friedlichen Kampf einzunehmen, den es mit friedlichen Mitteln zu führen gilt, um die Entwicklung zusammen mit dem Frieden zu erreichen sowie auch die Natur selbst und unsere Umwelt zu retten. Auch die Kirche fühlt sich ganz und gar auf diesen Weg gesandt, auf dessen glücklichen Ausgang sie hofft.

Deshalb möchte ich mich nach dem Beispiel von Papst Paul VI. in seiner Enzyklika Populorum Progressio87 schlicht und demütig an alle wenden, an Männer und Frauen ohne Ausnahme, daß sie, überzeugt vom Ernst des gegenwärtigen Augenblickes und der jeweiligen Verantwortung eines jeden - mit ihrem persönlichen und familiären Lebensstil, durch die Art des Gebrauchs ihrer Güter, durch ihr Mitwirken als Bürger, mit ihrem Beitrag zu den wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen und mit ihrem Einsatz auf nationaler und internationaler Ebene - die von Solidarität und vorrangiger Liebe zu den Armen inspirierten Maßnahmen verwirklichen. So fordert es der Augenblick, und so fordert es vor allem die Würde der menschlichen Person, unzerstörbares Ebenbild des Schöpfers, identisch in einem jeden von uns.

In diesem Einsatz müssen die Söhne und Töchter der Kirche Beispiel und Leitbild sein, da sie nach dem Programm, das Jesus selbst in der Synagoge von Nazaret verkündet hat, dazu berufen sind, "den Armen eine gute Nachricht zu bringen, ... den Gefangenen die Entlassung zu verkünden und den Blinden das Augenlicht, ... die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen und auszurufen ein Gnadenjahr des Herrn" (Lk 4~849). Man muß hierbei die den Laien, Männern und Frauen, vorwiegend übertragene Rolle unterstreichen, wie es bei der kürzlich beendeten Synodenversammlung erneut ausgesprochen wurde. Ihnen kommt es zu, mit christlichem Engagement die irdischen Bereiche zu beleben und sich darin als Zeugen und Mitarbeiter des Friedens und der Gerechtigkeit zu erweisen.

Im besonderen möchte ich mich an alle wenden, die durch das Sakrament der Taufe und dasselbe Glaubensbekenntnis an einer wahren, wenn auch noch unvollkommenen, Gemeinschaft mit uns teilhaben. Ich bin sicher, daß die Sorge der dieses Schreiben Ausdruck gibt, wie auch die Motivationen, die es beseelen, ihnen vertraut sein werden, weil sie vom Evangelium Jesu Christi inspiriert sind. Wir können darin eine neue Einladung finden, einstimmig Zeugnis zu geben von unseren gemeinsamen Überzeugungen über die Würde des Menschen, der von Gott erschaffen, von Christus erlöst, vom Heiligen Geist geheiligt und in diese Welt gerufen ist, um hier ein Leben zu führen, das dieser Würde entspricht.

Ich richte diesen Aufruf in gleicher Weise an jene, die mit uns das Erbe Abrahams, "unseres Vaters im Glauben" (vgl. Röm 4,11 f.),88 und die Tradition des Alten Testamentes teilen, die Juden also, sowie an jene, die wie wir an den gerechten und barmherzigen Gott glauben, die Moslems, und richte ihn ebenso an alle Anhänger der großen Weltreligionen.

Die Begegnung vom 27. Oktober des vergangenen Jahres in Assisi, der Stadt des hl. Franziskus, um zu beten und sich für den Frieden zu engagieren - ein jeder in Treue zu seinem eigenen religiösen Bekenntnis -, hat allen gezeigt, wie sehr der Friede und, als seine notwendige Bedingung, die Entwicklung eines "jeden Menschen und aller Menschen" auch ein religiöse Frage sind und wie die volle Verwirklichung beider von der Treue zu unserer Berufung als gläubige Männer und Frauen abhängt, weil sie eben zuallererst von Gott abhängt.

48. Die Kirche weiß wohl, daß kein zeitliches Werk mit dem Reich Gottes gleichzusetzen ist, sondern alle Werke nur ein Spiegelbild und in einem gewissen Sinne eine Vorwegnahme der Herrlichkeit jenes Reiches darstellen, das wir am Ende der Geschichte erwarten, wenn der Herr wiederkommt. Aber diese Erwartung dürfte niemals eine Entschuldigung dafür sein, sich nicht für die Menschen in ihrer konkreten persönlichen Lage und ihrem gesellschaftlichen Leben zu interessieren, und dies auf nationaler wie auf internationaler Ebene; denn diese beeinflußt jene, vor allem heute.

Nichts von dem, was man durch die solidarische Anstrengung aller und mit Hilfe der Gnade Gottes in einem bestimmten Augenblick der Geschichte verwirklichen kann und muß - auch wenn es unvollkommen und nur vorläufig ist -, um das Leben der Menschen "menschlicher" zu gestalten, wird verloren oder vergeblich sein. Das lehrt uns das II. Vatikanische Konzil in einem wunderbaren Text der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes: "Alle guten Erträgnisse der Natur und unserer Bemühungen nämlich, die Güter menschlicher Würde, brüderlicher Gemeinschaft und der Freiheit müssen im Geist des Herrn und gemäß seinem Gebot auf Erden gemehrt werden; dann werden wir sie wiederfinden, gereinigt von jedem Makel, lichtvoll und verklärt, dann nämlich, wenn Christus dem Vater "ein ewiges, allumfassendes Reich übergeben wird ...". Hier auf Erden ist das Reich schon im Geheimnis da".89

Das Gottesreich wird heute besonders gegenwärtig in der Feier des Sakramentes der heiligen Eucharistie, des Opfers des Herrn. In dieser Feier werden die "Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit" - Brot und Wein - auf geheimnisvolle, aber reale und substantielle Weise durch das Wirken des Heiligen Geistes und die Worte des Priesters in den Leib und das Blut des Herrn Jesus Christus verwandelt, des Sohnes Gottes und des Sohnes Marias, durch den das Reich des Vaters mitten unter uns gegenwärtig geworden ist. Die Früchte dieser Welt und das Werk unserer Hände Brot und Wein dienen dem Kommen des endgültigen Reiches, da der Herr sie durch seinen Geist in seine Person aufnimmt, um sich selbst und uns mit ihm in der Erneuerung seines einzigen Opfers dem Vater darzubieten, welches das Gottesreich vorwegnimmt und sein endgültiges Kommen ankündigt.

Durch die Eucharistie als Sakrament und Opfer vereinigt uns so der Herr mit sich selbst und untereinander mit einem stärkeren Band als jede rein natürliche Einigung und, so geeint, sendet er uns in die ganze Welt, um mit Glauben und Werken von Gottes Liebe Zeugnis zu geben, wodurch er das Kommen seines Reiches vorbereitet und, wenn auch in den Schatten der Zeit, vorwegnimmt.

Wir alle, die an der hl. Eucharistie teilnehmen, sind dazu aufgerufen, durch dieses Sakrament den tieferen Sinn unseres Handelns in der Welt für Entwicklung und Frieden zu entdecken und hier die Kräfte zu empfangen, um uns immer großherziger nach dem Beispiel Christi, der in diesem Sakrament "stets das Leben für seine Freunde gibt" (vgl. Joh 15,13), einzusetzen. Unser persönliches Engagement wird wie dasjenige Christi und nach dem Maß seiner Einheit mit dem seinigen nicht nutzlos, sondern ganz gewiß fruchtbar sein.

49. In diesem Marianischen Jahr; das ich ausgerufen habe, damit die katholischen Gläubigen immer mehr auf Maria schauen, die uns auf der Pilgerschaft des Glaubens vorangeht90 und mit mütterlicher Sorge bei ihrem Sohn, unserem Erlöser, für uns eintritt, möchte ich ihr und ihrer Fürsprache den schwierigen Augenblick der heutigen Welt anvertrauen sowie die Anstrengungen, die man oft unter großen Opfern macht und noch machen wird, um zu einer wahren Entwicklung der Völker beizutragen, wie sie von meinem Vorgänger Papst Paul VI. vorgestellt und verkündet worden ist.

Wie die christliche Frömmigkeit es immer getan hat, empfehlen wir der Allerseligsten Jungfrau die schwierigen Situationen der einzelnen, damit sie diese ihrem Sohne vorlege und von ihm erreiche, daß sie erleichtert und verändert werden. Aber ebenso unterbreiten wir ihr auch die gesellschaftlichen Situationen und die internationale Krise selbst mit ihren beunruhigenden Aspekten von Elend, Arbeitslosigkeit, Ernährungsmangel, Rüstungswettlauf, Mißachtung der Menschenrechte, Situationen oder Gefahren von begrenzten oder totalen Konflikten. All dies wollen wir mit kindlichem Vertrauen vor ihre "barmherzigen Augen" stellen, wobei wir noch einmal in Glaube und Hoffnung die alte marianische Antiphon beten: "Heilige Gottesmutter, verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern errette uns jederzeit aus allen Gefahren, o du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau".

Die allerseligste Jungfrau Maria, unsere Mutter und Königin, ist jene, die sich an ihren Sohn wendet und sagt: "Sie haben keinen Wein mehr" (Joh 2, 3), und sie ist es auch, die Gott, den Vater, preist, weil "er die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhöht, die Hungernden mit seinen Gaben sättigt und die Reichen leer ausgehen läßt" (Lk 1,52-53). Ihre mütterliche Sorge gilt den persönlichen und sozialen Aspekten des menschlichen Lebens auf der Erde.91

Vor der Allerheiligsten Dreifaltigkeit vertraue ich Maria alles an, was ich in dieser Enzyklika dargelegt habe und lade alle ein, darüber nachzudenken und sich mit Taten für die Förderung der wahren Entwicklung der Völker einzusetzen, wie es auf so deutliche Weise das Tagesgebet der gleichnamigen Messe ausdrückt: "Allmächtiger Gott, du hast die vielen Völker durch gemeinsamen Ursprung miteinander verbunden und willst, daß sie eine Menschheitsfamilie bilden. Die Güter der Erde hast du für alle bereitgestellt. Gib, daß die Menschen einander achten und lieben und dem Verlangen ihrer Brüder nach Gerechtigkeit und Fortschritt entgegenkommen. Hilf jedem, seine Anlagen recht zu entfalten. Laß uns alle Trennung nach Rasse, Volk und Stand überwinden, damit in der menschlichen Gesellschaft Recht und Gerechtigkeit herrschen".92

Das erbitte ich zum Schluß im Namen aller Brüder und Schwestern, denen ich zum Zeichen des Grußes und Güter Wünsche meinen besonderen Segen erteile.

Gegeben zu Rom, bei St. Peter, am 30. Dezember 1987, im 10. Jahr meines Pontifikates.




 

1 LEO XIII., Enzyklika Rerum Novarum (15. Mai 1891): Leo XIII. PM. Acta, XI (Rom 1892) 97-144.

2 PIUS XI., Enzyklika Quadragesimo Anno (15. Mai 1931): AAS 23 (1931) 177-228; JOHANNES XXIII., Enzyklika Mater et Magistra (15. Mai 1961): AAS 53 (1961) 401-464; PAUL VI., Apost. Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 1971): AAS 63 (1971) 401-441; JOHANNES PAUL II., Enzyklika Laborem Exercens (14. September 1981): AAS 73 (1981) 577-647. Auch Pius XII. bat zum fünfzigsten Jahrestag der Enzyklika Leos XIII. eine Radiobotschaft (1. Juni 1941) verlesen: AAS 33 (1941) 195-205.

3 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 4.

4 Paul VI., Enzyklika Populorum Progressio (26. März 1967): AÄS 59 (1967) 257-299.

5 Vgl. L'Osservatore Romano, 25. März 1987.

6 Vgl. Kongr. für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis Conscientia (22. März 1986), 72: AAS 79 (1987)586; PAUL VI., Apost. Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 1971), 4: A/S 63 (1971) 403 f.

7 Vgl. Enzyklika Redemptoris Mater (25. März 1987), 3: AAS 79 (1987) 363 f.; Homilie in der Messe am 1. Januar 1987: L'Osservatore Romano, 2. Januar 1987.

8 Die Enzyklika Populorum Progressio zitiert 19mal die Dokumente des II. Vatikanischen Konzils; allein 16 Zitate beziehen sich auf die Pastoralkonst., über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium. et Spes.

9 Gaudium. et Spes, 1.

10 Ebd., 4: vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 13: a.a.O., S. 263-264.

11 Vgl. Gaudium et Spes. 3: Enzyklika Populorum Progressio, 13: a.a.O., S. 264.

12 Vgl. Gaudium et Spes, 63; Enzyklika Populorum Progressio, 9: a.a.O., S. 261 f.

13 Vgl. Gaudium et Spes, 69; Enzyklika Populorum Progressio, 41: a.a.O., S. 269.

14 Vgl. Gaudium et Spes, 57; Enzyklika Populorum Progressio, 41: a.a.O., S. 277.

15 Vgl. Gaudium et Spes, 19; Enzyklika Populorum Progressio, 41: a.a.O., S. 277 f.

16 Vgl. Gaudium et Spes, 86; Enzyklika Populorum Progressio, 48: a.a.O., S. 281.

17 Vgl. Gaudium et Spes, 69; Enzyklika Populorum Progressio, 14-21: a.a.O., S. 264-268.

18 Vgl. den Titel der Enzyklika Populorum Progressio: a.a.O., S. 257.

19 Die Enzyklika Rerum Novarum Leos XIII. hat als Hauptthema "Die Lage der Arbeiter": Leonis XIII. PM. Acta, XI (Rom 1892) 97.

20 Vgl. Kongr. für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung, Libertatis Conscientia (22. März 1986), 72:445 79 (1987), S. 586; PAUL VI., Apost. Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 971), 4: AAS 63 (1971) 403 f.

21 Vgl. Enzyklika Mater er Magistra (15. Mai 1961): AAS 53 (1961) 440.

22 Gaudium et Spes, 63.

23 Enzyklika Populorum Progressio, 3: a.a.O., S.258; vgl. auch ebd., 9: a.a.O., S. 261.

24 Vgl. ebd., 3: a.a.O., S. 258.

25 Ebd., 48: a.a.O., S. 281.

26 Vgl. ebd., 14: a.a.O., S.264: "Die Entwicklung beschränkt sieh nicht auf einfaches wirtschaftliches Wachstum. Wahre Entwicklung muß umfassend sein, muß sich auf die Förderung jedes Menschen und des ganzen Menschen beziehen".

27 Ebd., 87: a.a.O., S.299.

28 Vgl. ebd., 53: a.a.O., S.283.

29 Vgl. ebd., 76: a.a.O. S. 295.

30 Die Dekaden meinen die Jahre 1960-1970 und 1970-1980; wir befinden uns jetzt in der dritten Dekade (1980-1990).

31 Der Begriff "Vierte Welt" wird nicht nur gelegentlich für die sogenannten weniger fortgeschrittenen Länder, sondern auch und vor allem für die Gebiete großer und äußerster Armut der Länder mit mittlerem und hohem Einkommen verwandt.

32 II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogm. Konst. über die Kirche Lumen Gentium, 1.

33 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 33: a.a.O., S. 273.

34 Bekanntlich hat sich der Heilige Stuhl der Feier dieses Internationalen Jahres angeschlossen mit einem besonderen Dokument der Päpstlichen Kommission Justitia er Pax: Was hast du mir deinem obdachlosen Bruder gemacht? - Die Kirche zur Wohnungskrise (27. Dezember 1987).

35 Vgl. PAUL VI., Apost. Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 1971), 8-9: AAS 63 (1971) 406-408.

36 Die kürzliche Veröffentlichung der Vereinten Nationen Étude sur l'économie mondiale 1987 enthält die letzten diesbezüglichen Daten (vgl. S. 8-9). Der Prozentsatz der Arbeitslosen in den entwickelten Ländern mit Marktwirtschaft ist von 3% der Arbeitskräfte im Jahre 1970 auf 8% im Jahre 1986 gestiegen. Sie betragen jetzt 29 Millionen.

37 Enzyklika Laborem Exercens (14. September 1981), 18: AAS 73 (1981) 624-625.

38 Im Dienst der menschlichen Gemeinschaft: Ein ethischer Ansatz zur Überwindung der internationalen Schuldenkrise (27. Dezember 1986).

39 Enzyklika Populorum Progressio, 54. a.a.O., S. 283 f.: "Die Entwicklungsländer werden dann nicht mehr Gefahr laufen, von Schulden erdrückt zu werden, deren Abzahlung ihren ganzen Gewinn verschlingt. Zinsen und Laufzeit der Anleihen können so geregelt werden, daß es für die einen wie die anderen erträglich ist, indem man zwischen den verlorenen Darlehen, den nicht oder nur wenig verzinsten Anleihen und der Laufzeit der Amortisation einen Ausgleich schafft".

40 Vgl. die "Einführung" zum Dokument Im Dienst der menschlichen Gemeinschaft: Ein ethischer Ansatz zur Überwindung der internationalen Schuldenkrise (27. Dezember 1986).

41 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio 53: a.a.O., S. 283.

42 Im Dienst der menschlichen Gemeinschaft: Ein ethischer Ansatz zur Überwindung der internationalen Schuldenkrise (27. Dezember 1986), III.2.1.

43 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 20-21: a.a.O., S. 267 f.

44 Homilie bei Drogheda, Irland (29. September 1979), S: AAS 71 (1979), II, 1079.

45 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 37: a.a.O., S.275 f.

46 Vgl. Apost. Schreiben Familiaris Consortio (22. November1981), besonders 30: AAS 74 (1982) 115-117.

47 Vgl. Droits de l'homme. Recueil d'instruments internationaux, Nations Unies, New York 1983. JOHANNES PAUL II., Enzyklika Redemptor Hominis (4. März 1979), 17: AAS 71 (1979) 296.

48 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonst. über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 78: PAUL VI., Enzyklika Populorum Progressio 76: a.a.O., S. 294 f.: "Das Elend bekämpfen und gegen die Ungerechtigkeit angehen, heißt, zusammen mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse den menschlichen und geistigen Fortschritt aller und somit das Gemeinwohl der Menschheit zu fördern. Den Frieden schafft man Tag für Tag, in der Beobachtung einer von Gott gewollten Ordnung, die eine vollkommenere Gerechtigkeit unter den Menschen herbeiführt".

49 Vgl. Apost. Schreiben Familiaris Consortio (22. November 1981), 6: AAS 74 (1982) 88: "Die Geschichte ist nicht einfach ein notwendiger Fortschritt zum Besseren, sondern vielmehr ein Ereignis der Freiheit, ja ein Kampf zwischen Freiheiten".

50 Aus diesem Grunde wurde es vorgezogen, im Text dieser Enzyklika statt des Wortes "Fortschritt das Wort "Entwicklung" zu gebrauchen, wobei aber versucht wurde, dem Wort "Entwicklung" einen volleren Sinn zu geben.

51 Enzyklika Populorum Progressio, 19: a.a.O., S. 266: "Mehr haben ist also weder für die Völker noch für die einzelnen das letzte Ziel. Jedes Wachstum ist ambivalent. Das ausschließliche Streben nach Besitz wird so ein Hindernis für das Wachsen im Sein und steht im Gegensatz zu seiner wahren Größe: Für die Nationen wie für die einzelnen ist die Habsucht das deutlichste Zeichen für moralische Unterentwicklung": vgl. auch von PAUL VI., Apost. Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 1971), 8: AAS 63 (1971) 407 f.

52 Vgl. Pastoralkonst. über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 3.5; PAUL VI., Ansprache an das Diplomatische Korps (7. Januar 1965): AAS 57 (1965) 232.

53 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 20-21: a.a.O., S. 267 f.

54 Vgl. Enzyklika Laborem Exercens (14. September 1931), 4: AAS 73 (1981), 584 f.: PAUL VI., Enzyklika Populorum Progressio. 15: a.a.O., S. 265.

55 Enzyklika Populorum Progressio, 42: a.a.O., S. 278.

56 Vgl. Exsultet, Missale Romanum, ed. typ. altera 1975, S. 272: "O wahrhaft heilbringende Sünde des Adam, du wurdest uns zum Segen, da Christi Tod dich vernichtet hat. O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden!"

57 II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium 1.

58 Vgl. z.B. BASILIUS d. Gr., Regulae fusius tractatae, interrogatio XXXVII, 1-2. PG, 31, 1009-1012; THEODORET VON KYROS, De Providentia, Oratio VII: PG 665-686; AUGUSTINIUS, De Civitate Dei, XIX, 17: CCL 48, 683-685.

59 Vgl. z.B. JOHANNES CHRYSOSTOMUS. In Evang. S. Mathaei 50, 3-4: PG 58, 508-510; AMBROSIUS, De Officiis Ministrorum, lib. II, XXVIII, 136-140: PL 16, 139-141; POSIDIUS, Vita S. Augustini Episcopi, XXIV: PL 32, 53 a.

60 Enzyklika Populorum Progressio, 23: a.a.O.: S. 268: "Wer aber die Güter der Welt hat und seinen Bruder Not leiden sieht und sein Herz gegen ihn verschließt, wie kann da die Liebe Gottes in ihm bleiben?" (1 Joh 3, 17). Es ist bekannt, mit welcher Entschiedenheit die Kirchenväter gelehrt haben, welche Haltung die Besitzenden gegenüber den Notleidenden einzunehmen haben. In der vorausgehenden Nummer hatte der Papst die Nr.69 der Pastoralkonstitution Gaudium et Spes das II. Vatikanischen Konzil zitiert. 61 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 47: a.a.O., S. 280: "...eine Welt, wo die Freiheit nicht ein leeres Wort ist, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann".

62 Vgl. ebd., 47: a.a.O., S.28o: "Es geht darum, eine Welt zu bauen wo jeder Mensch ohne Unter schied der Rasse, der Religion, der Abstammung ein volles menschliches Leben fuhren kann frei von Versklavung von Seiten der Menschen..."; vgl. auch II. Vatikanisches Konzil Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 29. Diese fundamentale Gleichheit ist eines der Grundmotive, mit dem sich die Kirche immer jeder Form von Rassismus widersetzt hat.

63 Vgl. Homilie in Val Visdende, Norditalien (12. Juli 1987), 5: L'Osservatore Romano. 13-14. Juli 1987; PAUL VI., Apostolisches Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 1971) 21: AAS 63 (1971) 416 f.

64 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 25.

65 Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia (2. Dezember1984), 16: "Wenn die Kirche von Situationen der Sünde spricht oder bestimmte Verhältnisse und gewisse kollektive Verhaltensweisen von mehr oder weniger breiten sozialen Gruppen oder sogar von ganzen Nationen und Blöcken von Staaten als soziale Sünden anklagt, dann weiß sie und betont es auch, daß solche Fälle von sozialer Sünde die Frucht, die Anhäufung und die Zusammenballung vieler personaler Sünden sind. Es handelt sich dabei um sehr persönliche Sünden dessen, der Unrecht erzeugt, begünstigt oder ausnutzt; der, obgleich er etwas tun könnte, um gewisse soziale Übel zu vermeiden, zu beseitigen oder wenigstens zu begrenzen, es aus Trägheit oder Angst, aus komplizenhaften Schweigen oder geheimer Beteiligung oder aus Gleichgültigkeit doch unterläßt; der Zuflucht sucht in der behaupteten Unmöglichkeit, die Welt zu verändern, und der sich den Mühen und Opfern entziehen will, indem er vorgebliche Gründe höherer Ordnung anführt. Die wirkliche Verantwortung liegt also bei den Personen. Eine Situation ebenso wie eine Institution, eine Struktur, eine Gesellschaft, ist an sich kein Subjekt moralischer Akte; deshalb kann sie in sich selbst nicht moralisch gut oder schlecht sein: AAS 77 (1985) 217.

66 Enzyklika Populorum Progressio, 42: a.a.O., S.278.

67 Vgl. Liturgia Horarum, Feria III Hebdomadae IIIac Temporis per annum, Preces ad Vesperas.

68 Enzyklika Populorum Progressio, 87: a.a.O., S. 299.

69 Vgl. ebd., 13; 81: a.a.O., S. 263 f; 296 f.

70 Vgl. ebd., 13: a.a.O., S. 263.

71 Vgl. Eröffnungsrede bei der Dritten Generalkonferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe (28. Januar 1979): AAS 71 (1979)189-196.

72 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis Conscientia (22. März 1986), 72: AAS 79 (1987) 586; PAUL VI., Apostolisches Schreiben Octogesima Adveniens (14. März 1971). 4: AAS 63 (1971) 403 f.

73 Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, Teil II, 5. Kapitel, 2. Abschnitt: "Der Aufbau der internationalen Gemeinschaft" (83-90).

74 Vgl. JOHANNES XXIII., Enzyklika Mater et Magistra (15Mai 1961):Als 53(1961)440; Enzyklika Pacem in Terris (11. April 1963), Teil IV: AAS 55 (1963) 291-296; PAUL VI., Apostolisches Schreiben Octogesima Adveniens (14. Mai 1971), 2-4: ÄAS 63 (1971) 402-404.

75 Vgl. Enzyklika Populorum Progressio, 3; 9: a.a.O., 5.258; 261.

76 Ebd., 3: a.a.O., S. 258.

77 Enzyklika Populorum Progressio, 47: a.a.O., 8.280; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis Conscientia (22. März 1986), 68:445 19 (1987) 583 f.

78 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 69; PAUL VI., Enzyklika Populorum Progressio, 22; a.a.O., S. 268; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis Conscientia (22. März 1986), 90: AAS 79 (1987) 594; THOMAS VON AQUIN, Summa Theol. IIa IIae, q. 66, art. 2.

79 Vgl. Eröffnungsrede bei der Dritten Generalkonferenz der Lateinamerikanischen Bischöfe (28. Januar 1979): AAS 71(1979) 189-196; Ansprache an eine Gruppe von polnischen Bischöfen zum Ad-limina-Besuch (17. Dezember 1987), 6: L'Osservatore Romano, 18. Dezember 1987.

80 Denn der Herr wollte sich mit ihnen identifizieren (Mt 25, 31-46) und nahm sich in besonderer Weise ihrer an (vgl. Ps 12, 6; Lk 1, 52 f.).

81 Enzyklika Populorum Progressio, 55: a.a.O., S. 284: "Aber gerade diesen Männern und Frauen muß man helfen; sie muß man überzeugen, daß sie selbst ihr Vorankommen in die Hand nehmen und schrittweise die Mittel dazu erwerben müssen"; vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 86.

82 Enzyklika Populorum Progressio, 35: a.a.O., S. 274: "Deshalb ist die Grundausbildung die erste Stufe eines Entwicklungsplanes".

83 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über einige Aspekte der "Theologie der Befreiung" Libertatis Nuntius (6. August 1984), Einführung: AAS 76 (1984) 876 f.

84 Vgl. Apostolisches Schreiben Reconciliatio et Paenitentia (2. Dezember 1984), 16: AAS 77 (1985) 213-217; Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis Conscientia (22. März 1986), 38; 42: AAS 79 (1987) 569; 571.

85 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die christliche Freiheit und die Befreiung Libertatis Conscientia (22. März 1986), 24: AAS 79 (1987) 564.

86 Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et Spes, 22; JOHANNES PAUL II., Enzyklika Redemptor Hominis (4. März 1979), 8: AAS 71 (1979) 272.

87 Enzyklika Populorum Progressio, 5: a.a.O., S.259: "Wir sind der Meinung, daß sie (die Päpstliche Kommission Justitia et Pax) mit Unseren katholischen Söhnen und den christlichen Brüdern alle Menschen guten Willen vereinen kann und soll": vgl. auch 81-83, 87: a.a.O. S. 296-298; 299

88 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate, 4.

89 Gaudium et Spes, 39.

90 Vgl. II. VATIKANISCHES KONZIL, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, 58: JOHANNES PAUL II., Enzyklika Redemptoris Mater (25. März 1987), 5-6: AAS 79 (1987) 365-367.

91 Vgl. PAUL VI., Apostolisches Schreiben Marialis Cultus (2. Februar 1974), 37:AAS 66 (1974) 148 f.; JOHANNES PAUL II., Homilie im Heiligtum Unserer Lieben Frau von Zapopan, Mexiko (30. Januar 1979), 4: AAS 77 (1979) 230.

92 Tagesgebet der Messe "Für den Fortschritt der Völker": Missale Romanum ed. tip. altera (1975) 820.



Ioannes Paulus PP. II

Redemptor hominis

An die verehrten Mitbrüder im Bischofsamt
die Priester und Ordensleute
die Söhne und Töchter der Kirche
und an alle Menschen Guten Willens
zum Beginn Seines Päpstlichen Amtes

 

 

Segen

Verehrte Mitbrüder im Bischofsamt,
Liebe Söhne und Töchter!
Gruss und Apostolischen Segen!

I. DAS ERBE

 

1. Am Ende des zweiten Jahrtausends

DER ERLÖSER DES MENSCHEN, Jesus Christus, ist die Mitte des Kosmos und der Geschichte. Zu ihm wenden sich mein Denken und Fühlen in dieser feierlichen geschichtlichen Stunde, die die Kirche und die ganze Menschheitsfamilie heute durchleben. Tatsächlich stehen wir jetzt schon nahe am Jahr 2000, da Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß mir als Nachfolger des geliebten Papstes Johannes Paul I. das Amt zum Dienst der ganzen Kirche übertragen hat, das mit der Kathedra des Petrus in Rom verbunden ist. Es fällt schwer, in diesem Augenblick zu sagen, welche Bedeutung jenes Jahr im Ablauf der Menschheitsgeschichte haben wird und wie es für die einzelnen Völker, Nationen, Länder und Kontinente ausfallen wird, wenn man auch bereits heute versucht, einige Ereignisse vorauszusehen. Für die Kirche und für das Volk Gottes, das sich - wenn auch nicht gleichmäßig - bis zu den Enden der Erde ausgebreitet hat, wird jenes Jahr ein wichtiges Jubiläum darstellen. Wir nähern uns dem Datum, das uns - bei aller Beachtung der Korrekturen durch größere chronologische Genauigkeit - die Kernwahrheit unseres Glaubens in Erinnerung ruft und in besonderer Weise wieder bewußt macht, die der hl. Johannes am Anfang seines Evangeliums ausgedrückt hat: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« 1 und an anderer Stelle: »Gott hat die Welt so geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat«. 2

Wir befinden uns in gewisser Weise in der Zeit eines neuen Advents, in einer Zeit der Erwartung. »Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit hat er zu uns gesprochen durch den Sohn...«, 3 durch das ewiggezeugte Wort, das Mensch geworden und von der Jungfrau Maria geboren worden ist. In dieser Heilstat hat die Geschichte des Menschen, so wie sie in der Liebe Gottes geplant ist, ihren Höhepunkt erreicht. Gott ist in die Menschheitsgeschichte eingetreten; als Mensch ist er Subjekt dieser Geschichte geworden, einer von Milliarden und gleichzeitig dieser eine! Durch die Menschwerdung hat Gott dem menschlichen Leben jene Dimension gegeben, die er ihm von Anfang an zugedacht hat. Er hat dies auf eine so endgültige Weise getan, wie es nur ihm möglich ist: als Frucht seiner ewigen Liebe und seiner Barmherzigkeit, seiner vollen göttlichen Freiheit und einer solchen Freigebigkeit, daß es angesichts der Erbschuld und der langen Geschichte der Sünde in der Menschheit, angesichts der Irrtümer unseres Verstandes, der Verirrungen unseres Willens und Herzens möglich ist, staunend die Worte der hl. Liturgie zu wiederholen: »O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden«! 4

2. Die ersten Worte des neuen Pontifikates

Am 16. Oktober des vergangenen Jahres habe ich mich mit ganzer Seele Christus, dem Erlöser, zugewandt, als mir nach der rechtmäßig erfolgten Wahl die Frage gestellt wurde: »Nimmst du an?«. Damals antwortete ich: »Im Glaubensgehorsam gegenüber Christus, meinem Herrn, und im Vertrauen auf die Mutter Christi und seiner Kirche nehme ich ungeachtet der großen Schwierigkeiten an«. Diese meine Antwort möchte ich heute allen ohne Ausnahme öffentlich bekanntgeben und so bezeugen, daß mit dieser ersten und grundlegenden Wahrheit der Menschwerdung, die dort erwähnt wird, gerade jener Dienst verbunden ist, der nach der Annahme der Wahl zum Bischof von Rom und zum Nachfolger des Apostels Petrus meine besondere Aufgabe auf diesem Bischofssitz geworden ist.

Ich habe dieselben Namen gewählt wie mein hochverehrter Vorgänger Johannes Paul I. Als er am 26. August 1978 dem Kardinalskollegium erklärte, sich Johannes Paul nennen zu wollen - ein Doppelname, wie er in der Papstgeschichte noch nicht vorgekommen war -, habe ich darin schon ein deutliches Vorzeichen des Segens Gottes für das neue Pontifikat gesehen. Weil dieses aber nur 33 Tage gedauert hat, kommt es mir jetzt zu, es nicht nur fortzusetzen, sondern in gewisser Weise an seinem Beginn wieder aufzugreifen. Dies findet seine Bestätigung darin, daß ich dieselben zwei Namen gewählt habe. Durch diese Wahl nach dem Beispiel meines verehrten Vorgängers möchte ich wie er meine Liebe zu dem einzigartigen Erbe bekunden, das die beiden Päpste Johannes XXIII. und Paul VI. der Kirche hinterlassen haben, und mich zugleich persönlich bereit erklären, es mit der Hilfe Gottes weiterzuentwickeln.

Durch diese zwei Namen und die beiden Pontifikate bin ich mit der gesamten Tradition dieses apostolischen Bischofssitzes verbunden, mit allen Vorgängern im Verlauf des 20. Jahrhunderts und der vorausgehenden Jahrhunderte, und knüpfe so über die verschiedenen Zeitperioden hin bis zur ältesten Zeit an jene Folge der Sendung und des Dienstes an, die dem Sitz des Petrus seine einzigartige Stellung in der Kirche verleiht. Johannes XXIII. und Paul VI. stellen eine geschichtliche Epoche dar, die für mich die unmittelbare Schwelle sein soll, von der aus ich, gleichsam mit Papst Johannes Paul I., auf die Zukunft hin voranschreiten will, geführt von unbegrenztem Vertrauen und vom Gehorsam gegenüber dem Geist, den Christus seiner Kirche versprochen und gesandt hat. Kurz vor seinem Leiden hat er ja zu den Aposteln gesagt: »Es ist gut für euch, daß ich fortgehe; denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden«. 5 »Wenn aber der Beistand kommt, den ich euch vom Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der vom Vater herkommt, dann wird er Zeugnis für mich ablegen. Auch ihr seid Zeugen, weil ihr von Anfang an bei mir seid«. 6 »Wenn aber der Geist der Wahrheit kommt, wird er euch in die volle Wahrheit einführen. Denn er wird nicht von sich aus reden, sondern was er hört, wird er reden, und das Kommende wird er euch verkünden«. 7

3. Im Vertrauen auf den Geist der Wahrheit und der Liebe

Mit starkem Vertrauen auf den Geist der Wahrheit will ich also das reiche Erbe der letzten Pontifikate antreten. Dieses Erbe hat im Bewußtsein der Kirche auf völlig neue, bisher noch nicht gekannte Weise tiefe Wurzeln geschlagen durch das Werk des II. Vatikanischen Konzils, das von Papst Johannes XXIII. einberufen und eröffnet und dann von Papst Paul VI. glücklich abgeschlossen und mit Ausdauer im Leben der Kirche verwirklicht worden ist. Sein Wirken konnte ich ja selbst aus der Nähe beobachten. Dabei haben mich immer seine tiefe Weisheit und sein Mut beeindruckt wie auch seine geduldige Festigkeit in der schwierigen nachkonziliaren Periode seines Pontifikates. Als Steuermann der Kirche, des Schiffes des Petrus, verstand er es auf providentielle Weise, Ruhe und Ausgeglichenheit auch in den kritischsten Augenblicken zu bewahren, wenn es schien, als werde das Schiff von innen her erschüttert. Dabei blieb er selbst unerschüttert in seiner Hoffnung auf die Festigkeit des Schiffes. Was der Geist der Kirche heute durch das Konzil sagt, was er in dieser Kirche allen Kirchen sagt, 8 dient ganz gewiß - trotz einiger gelegentlicher Unruhe - dem Ziel, dem ganzen Volk Gottes im Bewußtsein seiner Heilssendung einen noch festeren Zusammenhalt zu geben.

Gerade dieses gegenwärtige Bewußtsein der Kirche hat Paul VI. zum Thema seiner grundlegenden Enzyklika Ecclesiam Suam gemacht. Mit dem nun vorliegenden ersten Dokument, das gleichsam das jetzige Pontifikat eröffnen soll, möchte ich mich vor allem auf diese Enzyklika beziehen und an ihr anknüpfen. Das Bewußtsein der Kirche, das erleuchtet und getragen ist vom Heiligen Geist und das sich im Blick auf ihr göttliches Geheimnis wie auch auf ihre Sendung in dieser Welt bis hin zu ihren menschlichen Schwächen stets vertieft: genau dies ist und soll die erste Quelle bleiben für die Liebe zu dieser Kirche, so wie diese Liebe auch ihrerseits dazu beiträgt, das Bewußtsein der Kirche zu festigen und zu vertiefen. Paul VI. hat uns das Zeugnis eines solchen außerordentlich wachen Bewußtseins von der Kirche hinterlassen. In den vielfältigen und oft leidvollen Ereignissen während seines Pontifikates hat er uns eine standfeste Liebe zur Kirche gelehrt, die ja - wie das Konzil feststellt - »das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ist. 9

4. Der Bezug zur ersten Enzyklika Pauls VI.

Aufgrund dieser Tatsache muß sich das Bewußtsein der Kirche mit einer weltweiten Öffnung verbinden, damit alle in ihr »den unergründlichen Reichtum Christi« 10 finden können, von dem der Völkerapostel spricht. Diese Öffnung, die vom Bewußtsein der eigenen Natur und von der Gewißheit der eigenen Wahrheit getragen und begleitet ist, von der Christus gesagt hat: »es ist nicht meine, sondern die des Vaters, der mich gesandt hat«, 11 bestimmt den apostolischen, das heißt missionarischen Dynamismus der Kirche, wobei sie unverkürzt die ganze Wahrheit bekennt und verkündet, die ihr von Christus überliefert worden ist. Gleichzeitig muß sie jenen Dialog führen, den Paul VI. in seiner Enzyklika Ecclesiam Suam einen »Heilsdialog« genannt und dabei die einzelnen Bereiche genau unterschieden hat, in denen er geführt werden soll. 12 Während ich mich heute auf dieses programmatische Dokument des Pontifikates Pauls VI. beziehe, höre ich nicht auf, Gott dafür zu danken, daß dieser mein großer Vorgänger und zugleich wahre Vater es verstanden hat - trotz der verschiedenen internen Schwächen, die die Kirche in der nachkonziliaren Periode befallen haben -, ihr wahres Antlitz »ad extra«, nach außen hin, darzustellen. Auf diese Weise ist auch ein großer Teil der Menschheitsfamilie, so meine ich, in den verschiedenen vielschichtigen Lebensbereichen sich dessen bewußter geworden, wie notwendig für sie die Kirche Christi, ihre Sendung und ihr Dienst wirklich sind. Dieses Bewußtsein hat sich mitunter als stärker erwiesen als die verschiedenen kritischen Einstellungen, mit denen man die Kirche, ihre Institutionen und Strukturen, die Männer der Kirche und ihre Tätigkeit »ab intra«, von innen her, angegriffen hat. Diese wachsende Kritik hat zweifellos verschiedene Gründe; andererseits sind wir sicher, daß sie nicht immer ohne echte Liebe zur Kirche erfolgt ist. Gewiß hat sich unter anderem darin auch die Tendenz gezeigt, den sogenannten Triumphalismus zu überwinden, von dem während des Konzils so oft die Rede war. Wenn es richtig ist, daß die Kirche, indem sie dem Beispiel ihres Meisters folgt, der »demütig von Herzen« 13 war, auch selbst in der Demut begründet ist, die allem gegenüber, was ihre Eigenart und ihr menschliches Wirken betrifft, eine kritische Haltung bewahrt und an sich selbst immer hohe Ansprüche stellt, so muß ebenso auch die Kritik ihre angemessenen Grenzen haben. Andernfalls hört sie auf, konstruktiv zu sein, offenbart sie nicht mehr die Wahrheit, die Liebe und Dankbarkeit für die Gnade, deren wir hauptsächlich und in vollem Maße in der Kirche und durch die Kirche teilhaftig werden. Ferner bringt sie nicht die Haltung des Dienens zum Ausdruck, sondern den Willen, die Meinung der anderen nach der eigenen Meinung zu dirigieren, die man mitunter noch auf allzu unbedachte Weise verbreitet.

Wir schulden Paul VI. Dank, weil er jedes Körnchen Wahrheit, das sich in jeder Meinung findet, geachtet und zugleich die providentielle Ausgeglichenheit des Steuermanns des Schiffes bewahrt hat. 14 Die Kirche, die mir - über Johannes Paul I. - fast unmittelbar danach an vertraut worden ist, ist gewiß nicht frei von Schwierigkeiten und internen Spannungen. Zur gleichen Zeit aber ist sie im Innern mehr gefestigt gegen Übertreibungen der Selbstkritik: man könnte sagen, daß sie kritischer ist gegenüber den verschiedenen unbesonnenen Kritiken, widerstandsfähiger hinsichtlich der verschiedenen »Neuheiten«, reifer im Geist der Unterscheidung, besser ausgerüstet, um aus dem bleibenden Schatz »Neues und Altes« hervorzuholen, 15 mehr konzentriert auf ihr eigenes Geheimnis und darum verfügbarer für ihre Sendung zum Heil aller: Gott »will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen«. 16

5. Kollegialität und Apostolat

Die Kirche ist - entgegen allem Anschein - heute geeinter in der Gemeinschaft des Dienens und im Bewußtsein des Apostolates. Diese Einheit entspringt jenem Prinzip der Kollegialität, das vom II. Vatikanischen Konzil in Erinnerung gerufen worden ist und das Christus selbst dem Apostelkollegium der Zwölf mit Petrus als Haupt eingestiftet hat und im Bischofskollegium ständig erneuert, welches auf der ganzen Erde immer mehr wächst und dabei mit dem Nachfolger des hl. Petrus und unter seiner Leitung geeint bleibt. Das Konzil hat dieses Prinzip der Kollegialität der Bischöfe aber nicht nur in Erinnerung gebracht, sondern hat es zugleich auf sehr intensive Weise neu belebt, indem es unter anderem die Einrichtung eines ständigen Organs anregte, das dann Paul VI. in der Bischofssynode errichtet hat, deren Tätigkeit nicht nur seinem Pontifikat eine neue Dimension gegeben hat, sondern sich auch später von den ersten Tagen an im Pontifikat Johannes Pauls I. und in dem seines unwürdigen Nachfolgers deutlich widergespiegelt hat.

Das Prinzip der Kollegialität hat sich in der schwierigen nachkonziliaren Periode als besonders aktuell erwiesen, da die gemeinsame und einmütige Haltung des Bischofskollegiums - das vor allem durch die Synode seine Einheit mit dem Nachfolger Petri bezeugt hat - dazu beigetragen hat, die Zweifel zu beseitigen, und ebenso die richtigen Wege für die Erneuerung der Kirche in ihrer weltweiten Dimension aufgezeigt hat. Von der Synode ist unter anderem jener wesentliche Impuls zur Evangelisierung ausgegangen, der im Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi, 17 seinen Niederschlag gefunden hat, welches mit so großer Freude als Programm der Erneuerung im Bereich des Apostolates und zugleich der Pastoral aufgenommen worden ist. Dieselbe Linie ist auch bei den Arbeiten der letzten ordentlichen Sitzung der Bischofssynode befolgt worden, die ungefähr ein Jahr vor dem Tode Papst Pauls VI. stattgefunden hat und bekanntlich der Katechese gewidmet war. Die Ergebnisse dieser Beratungen erfordern noch von seiten des Heiligen Stuhles eine systematische Aufarbeitung und Veröffentlichung.

Da wir schon von der offenkundigen Entwicklung der Formen der bischöflichen Kollegialität sprechen, muß wenigstens auch kurz auf den Prozeß der Konsolidierung der nationalen Bischofskonferenzen in der ganzen Kirche und anderer kollegialer Strukturen internationaler oder kontinentaler Art hingewiesen werden. Hinsichtlich der jahrhundertealten Tradition der Kirche müssen wir sodann die Aktivität der verschiedenen Synoden der Ortskirchen hervorheben. Dies war in der Tat die Idee des Konzils, die von Paul VI. mit Kohärenz verwirklicht worden ist, damit die Strukturen dieser Art, die schon seit Jahrhunderten in der Kirche erprobt worden sind, wie auch die anderen Formen der kollegialen Zusammenarbeit unter den Bischöfen, z.B. der Metropolitanverband, um nicht schon von jeder einzelnen Diözese zu sprechen, sich lebendig entfalten im vollen Bewußtsein der eigenen Identität und auch der eigenen Originalität in der universalen Einheit der Kirche. Derselbe Geist der Zusammenarbeit und der Mitverantwortung beginnt sich auch unter den Priestern durchzusetzen; das wird durch die zahlreichen Priesterräte bestätigt, die sich nach dem Konzil gebildet haben. Dieser Geist hat sich auch unter den Laien verbreitet, indem nicht nur die schon bestehenden Organisationen des Laienapostolates gefestigt wurden, sondern auch neue geschaffen worden sind, die oft ein anderes Profil und eine außergewöhnliche Dynamik aufweisen. Ferner haben sich die Laien im Bewußtsein ihrer Verantwortung gegenüber der Kirche in Zusammenarbeit mit den Hirten und den Vertretern der Ordensgemeinschaften auch im Bereich der Diözesansynoden oder der Pastoralräte in den Pfarreien und den Diözesen bereitwillig eingesetzt.

Es ist für mich notwendig, all dies am Beginn meines Pontifikates gegenwärtig zu haben, um Gott zu danken, um alle Brüder und Schwestern zu ermutigen und um ferner mit großer Dankbarkeit das Werk des II. Vatikanischen Konzils und meiner großen Vorgänger in Erinnerung zu halten, die diese neue »Welle« im Leben der Kirche hervorgerufen haben, eine Bewegung, die weit stärker ist als die Anzeichen des Zweifels, des Verfalls und der Krise.

6. Der Weg zur Einheit der Christen

Und was ist zu all den Initiativen zu sagen, die durch die neue ökumenische Ausrichtung entstanden sind? Der unvergeßliche Papst Johannes XXIII. hat mit biblischer Klarheit das Problem der Einheit der Christen als eine einfache Folgerung aus dem Willen Jesu Christi, unseres Meisters, betrachtet, der sie selbst mehrmals betont und zum Ausdruck gebracht hat, vor allem im Gebet im Abendmahlssaal kurz vor seinem Tode: »Ich bitte... Vater..., daß sie alle eins seien«. 18 Das II. Vatikanische Konzil hat dieses wichtige Anliegen in gedrängter Form im Dekret über den Ökumenismus behandelt. Papst Paul VI. hat unter der Mitarbeit des Sekretariates für die Einheit der Christen die ersten schwierigen Schritte auf dem Weg der Wiederherstellung der Einheit unternommen. Sind wir auf diesem Wege weit vorangeschritten? Ohne darauf eine ins einzelne gehende Antwort geben zu wollen, können wir feststellen, daß echte und wichtige Fortschritte gemacht worden sind. Eines ist sicher: wir haben mit Ausdauer und Konsequenz gearbeitet, und zusammen mit uns haben sich auch die Vertreter der anderen Kirchen und christlichen Gemeinschaften eingesetzt; dafür sind wir ihnen aufrichtig dankbar. Ferner steht fest, daß sich in der gegenwärtigen geschichtlichen Lage der Christenheit und der Welt keine andere Möglichkeit zeigt, die universale Mission der Kirche im Bereich der ökumenischen Fragen zu erfüllen, als mit lauterer Absicht, mit Ausdauer, Demut und auch Mut die Wege der Annäherung und der Einheit zu suchen, so wie es uns das persönliche Beispiel Papst Pauls VI. gezeigt hat. Wir müssen uns um die Einheit bemühen, ohne uns durch die Schwierigkeiten entmutigen zu lassen, die uns begegnen oder sich längs des Weges anhäufen können; anderenfalls bleiben wir dem Worte Christi nicht treu, verwirklichen wir nicht sein Testament. Ist es erlaubt, sich dieser Gefahr auszusetzen?

Es gibt Personen, die sich gern wieder zurückziehen würden, weil sie sich mit Schwierigkeiten konfrontiert sehen oder die Ergebnisse der ersten ökumenischen Arbeiten als negativ beurteilen. Einige äußern sogar die Meinung, daß diese Bemühungen der Sache des Evangeliums schaden, zu einem weiteren Bruch in der Kirche führen, geistige Verwirrung in den Fragen des Glaubens und der Moral hervorrufen und in einem entsprechenden Indifferentismus enden werden. Es ist vielleicht gut, daß die Menschen, die diese Meinung vertreten, ihrer Besorgnis Ausdruck geben; dennoch muß man auch in dieser Hinsicht die richtigen Grenzen wahren. Selbstverständlich verlangt diese neue Etappe im Leben der Kirche von uns einen sehr überzeugten, tiefen und verantwortungsbewußten Glauben. Die echte ökumenische Arbeit besagt Öffnung, Annäherung, Bereitschaft zum Dialog, gemeinsame Suche nach der Wahrheit im vollen biblischen und christlichen Sinn. Keinesfalls bedeutet sie oder kann sie bedeuten, auf die Schätze der göttlichen Wahrheit, die von der Kirche beständig bekannt und gelehrt worden ist, zu verzichten oder ihnen in irgendeiner Weise Abbruch zu tun. Allen denen, die aus irgendeinem Grund die Kirche von der Suche nach der universalen Einheit der Christen abbringen möchten, muß ich noch einmal wiederholen: Ist es erlaubt, untätig zu bleiben? Dürfen wir - trotz aller menschlichen Schwachheit, trotz der Unzulänglichkeiten der vergangenen Jahrhunderte - der Gnade unseres Herrn mißtrauen, die sich in der letzten Zeit geoffenbart hat durch das Wort des Heiligen Geistes, das wir während des Konzils vernommen haben? Würden wir so handeln, leugneten wir die Wahrheit über uns selbst, die der Apostel auf so beredte Weise ausgedrückt hat: »Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und sein gnädiges Handeln an mir blieb nicht ohne Wirkung«. 19

Was hier gesagt worden ist, muß man auf ähnliche Weise und mit den notwendigen Unterscheidungen auch auf jene Bemühungen anwenden, die auf eine Annäherung mit den Vertretern der nichtchristlichen Religionen abzielen und im Dialog, in Kontakten, im gemeinschaftlichen Gebet und in der Suche nach den Schätzen der menschlichen Spiritualität, die - wie wir wissen - auch bei den Mitgliedern dieser Religionen anzutreffen sind, ihren konkreten Ausdruck finden. Geschieht es nicht manchmal, daß die starken religiösen Überzeugungen der Anhänger der nichtchristlichen Religionen - Überzeugungen, die auch schon vom Geist der Wahrheit berührt worden sind, der über die sichtbaren Grenzen des Mystischen Leibes hinaus wirksam ist - die Christen beschämen, die ihrerseits oft so leichtfertig die von Gott geoffenbarten und von der Kirche verkündeten Wahrheiten in Zweifel ziehen und so sehr dazu neigen, die Grundsätze der Moral aufzuweichen und dem ethischen Permissivismus die Wege zu öffnen? Es ist edel, bereit zu sein, jeden Menschen zu verstehen, jedes System zu analysieren und das, was richtig ist, anzuerkennen; das besagt jedoch keinesfalls, die Gewißheit des eigenen Glaubens zu verlieren 20 oder die Grundsätze der Moral aufzuweichen, deren Fehlen sich bald im Leben der ganzen Gesellschaft bemerkbar macht und unter anderem die entsprechenden bedauerlichen Folgen verursacht.

II. DAS GEHEIMNIS DER ERLÖSUNG

 

7. Umfangen vom Geheimnis Christi

Wenn die Wege, auf die das letzte Konzil die Kirche geführt hat und die uns der verstorbene Papst Paul VI. in seiner ersten Enzyklika aufgezeigt hat, für lange Zeit die Wege sein werden, die wir alle weiter verfolgen müssen, können wir uns doch gleichzeitig in dieser neuen Etappe mit Recht fragen: Und wie? Auf welche Weise muß man sie fortsetzen? Was müssen wir tun, damit dieser neue Advent der Kirche, der mit dem nahen Ende des zweiten Jahrtausends parallel geht, uns demjenigen näher bringt, den die Schrift »Vater in Ewigkeit«, Pater futuri saeculi, 21 nennt? Das ist die grundlegende Frage, die sich der neue Papst stellen muß, wenn er im Geist des Glaubensgehorsams den Ruf annimmt nach dem Auftrag, den Christus mehrere Male an Petrus gerichtet hat: »Weide meine Lämmer«, 22 was besagen will: Sei der Hirte meiner Herde; und ferner: »... wenn du wieder zurückgefunden hast, dann stärke deine Brüder«. 23

Hier nun drängt sich, liebe Brüder, Söhne und Töchter, nur eine grundsätzliche und wesentliche Antwort auf, und zwar: die einzige Ausrichtung des Geistes, die einzige Zielsetzung des Intellektes, des Willens und des Herzens ist für uns dieses: hin zu Christus, dem Erlöser des Menschen, zu Christus, dem Erlöser der Welt. Auf ihn wollen wir schauen, denn nur in ihm, dem Sohne Gottes, ist Heil; wir wollen den Ausruf des Petrus wiederholen: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens«. 24

Durch das Bewußtsein der Kirche, das vom Konzil so stark entwickelt worden ist, durch alle Schichten dieses Bewußtseins und durch alle Wirkungsbereiche, in denen die Kirche sich äußert, sich vorfindet und bestätigt, müssen wir beständig zu dem hinstreben, der das Haupt ist, 25 zu dem, »von dem alles stammt, und auf den hin wir leben«, 26 zu dem, der zugleich »der Weg, die Wahrheit und das Leben ist« 27 und »die Auferstehung und das Leben«, 28 zu dem, bei dessen Anblick wir den Vater sehen, 29 zu dem, der von uns fortgehen mußte 30 - gemeint ist durch den Tod am Kreuz und durch die Himmelfahrt -, damit der Tröster zu uns kommen konnte und ständig als Geist der Wahrheit kommt. 31 In ihm sind »alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis«, 32 und die Kirche ist sein Leib. 33 Die Kirche ist »in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit«. 34 Und dafür ist er die Quelle! Er selbst! Er, der Erlöser!

Die Kirche hört nicht auf, sein Wort zu hören, sie liest es beständig und bildet mit größter Verehrung jede Einzelheit seines Lebens nach. Sein Wort wird auch von den Nichtchristen gehört. Das Leben Christi spricht zugleich zu sehr vielen Menschen, die noch nicht fähig sind, mit Petrus zu wiederholen: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes«. 35 Er, der Sohn Gottes, spricht zu den Menschen auch als Mensch: es ist seine Treue zur Wahrheit, seine Liebe, die alle umfaßt. Es spricht ferner sein Tod am Kreuz, das heißt die unergründliche Tiefe seines Leidens und der Verlassenheit. Die Kirche hört nicht auf, seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung zu vergegenwärtigen, die den Inhalt ihres täglichen Lebens bilden. Es ist in der Tat das Gebot Christi selbst, unseres Meisters, daß die Kirche ununterbrochen die Eucharistie feiert, in der sie »dieQuelle des Lebens und der Heiligkeit« 36 findet, das wirksame Zeichen der Gnade und der Versöhnung mit Gott, das Unterpfand des ewigen Lebens. Die Kirche lebt sein Geheimnis, schöpft unermüdlich daraus und sucht ständig nach Wegen, um dieses Geheimnis ihres Meisters und Herrn dem Menschengeschlecht nahezubringen: den Völkern, den Nationen, den aufeinanderfolgenden Generationen, jedem einzelnen Menschen vor allem, als ob sie stets nach dem Beispiel des Apostels wiederholen würde: »Ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als Gekreuzigten«. 37 Die Kirche bleibt umfangen vom Geheimnis der Erlösung, das das Grundprinzip ihres Lebens und ihrer Sendung ist.

8. Die Erlösung: eine neue Schöpfung

Der Erlöser der Welt! In ihm hat sich in neuer und herrlicherer Weise die Grundwahrheit über die Schöpfung offenbart, die das Buch der Genesis bezeugt, wenn es mehrere Male wiederholt: »Gott sah, daß es gut war«. 38 Das Gute hat seine Quelle in der Weisheit und in der Liebe. In Jesus Christus erhält die sichtbare Welt, die von Gott für den Menschen geschaffen ist 39 - jene Welt, die mit der Sünde »der Vergänglichkeit unterworfen« wurde 40 - erneut ihre ursprüngliche Verbindung mit eben dieser göttlichen Quelle der Weisheit und Liebe zurück. In der Tat, »Gott hat die Welt so geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab«. 41 Wie im Menschen-Adam diese Verbindung zerbrochen ist, so wird sie im Menschen-Christus wiederhergestellt. 42 Überzeugen uns, Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, etwa nicht die Worte, die der Völkerapostel mit eindrucksvoller Beredtsamkeit über die Schöpfung gesagt hat, die »bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt« 43 und die »sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes« 44 wartet, über die Schöpfung, die »der Vergänglichkeit unterworfen ist«? Offenbart nicht sogar der ungeheuere Fortschritt, den man niemals zuvor gekannt hat und der sich vor allem während unseres Jahrhunderts in der Beherrschung der Welt durch den Menschen ereignet hat, auch hier in noch nicht dagewesenem Grade jene vielfältige Unterwerfung »unter die Vergänglichkeit«? Es genügt an dieser Stelle, nur auf bestimmte Phänomene hinzuweisen wie die Gefahr der Umweltverschmutzung in Gegenden, wo eine schnelle Industrialisierung vonstatten geht, die bewaffneten Konflikte, die ausbrechen und sich andauernd wiederholen, oder die Aussicht auf eine mögliche Selbstzerstörung durch den Einsatz von Atomwaffen, der Wasserstoff- oder Neutronenbombe oder ähnlichem, die mangelnde Achtung vor dem ungeborenen Leben. Ist die Welt dieser neuen Epoche, die Welt der Weltraumflüge, die Welt der wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften, die nie zuvor erreicht worden sind, nicht gleichzeitig auch die Welt, die »seufzt und in Geburtswehen liegt« 45 und die »sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes wartet«? 46

Das II. Vatikanische Konzil ist in seiner tiefen Analyse »der Welt von heute« zu jenem wichtigsten Punkt der sichtbaren Welt, nämlich zum Menschen, gelangt, indem es - wie Christus - in die Tiefe des menschlichen Bewußtseins hinabgestiegen ist und das innerste Geheimnis des Menschen berührt hat, das in der biblischen (und auch außerbiblischen) Sprache mit dem Wort »Herz« bezeichnet wird. Christus, der Erlöser der Welt, ist derjenige, der in einzigartiger und unwiederholbarer Weise in das Geheimnis des Menschen eingedrungen und in sein »Herz« eingetreten ist. Mit Recht lehrt daher dasselbe Konzil: »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen (Röm 5, 14), nämlich Christi des Herrn; Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung«. Und weiter heißt es: »Der "das Bild des unsichtbaren Gottes" (Kol 1, 15) ist, er ist zugleich der vollkommene Mensch, der den Söhnen Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war. Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden. Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich außer der Sünde«. 47 Er, der Erlöser des Menschen!

9. Die göttliche Dimension im Geheimnis der Erlösung

Während wir diesen wundervollen Text des konziliaren Lehramtes erneut überdenken, vergessen wir nicht, auch nicht für einen Augenblick, daß Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, unsere Versöhnung beim Vater 48 geworden ist. Gerade er, er allein, hat der ewigen Liebe des Vaters Genüge getan, jener Vaterschaft, die von Anfang an in der Schöpfung der Welt zum Ausdruck gekommen ist, die dem Menschen den ganzen Reichtum des Erschaffenen anvertraute und ihn selbst »nur wenig unter die Engel« 49 gestellt hat, dadurch daß er ihn nach dem Ebenbild und Gleichnis Gottes 50 geschaffen hat; ebenso hat er auch jener Vaterschaft Gottes und jener Liebe Genüge getan, die vom Menschen mit dem Bruch des ersten Bundes 51 und der nachfolgenden, die Gott »immer wieder den Menschen angeboten hat«, 52 in gewisser Weise zurückgewiesen worden ist. Die Erlösung der Welt - dieses ehrfurchtgebietende Geheimnis der Liebe, in dem die Schöpfung erneuert wird 53 - ist in ihrer tiefsten Wurzel die Fülle der Gerechtigkeit in einem menschlichen Herzen: im Herzen des Erstgeborenen Sohnes, damit sie Gerechtigkeit der Herzen vieler Menschen werden kann, die ja im Erstgeborenen Sohn von Ewigkeit vorherbestimmt sind, Kinder Gottes zu werden, 54 berufen zur Gnade und zur Liebe. Das Kreuz aufdem Kalvarienberg, durch das Jesus Christus - Mensch, Sohn der Jungfrau Maria, vor dem Gesetz Sohn des Josef von Nazaret - diese Welt »verläßt«, ist zur gleichen Zeit eine neue Manifestation der ewigen Vaterschaft Gottes, der sich in ihm erneut der Menschheit und jedem Menschen nähert, indem er ihm den dreimalheiligen Geist der Wahrheit schenkt. 55

Mit dieser Offenbarung des Vaters und der Ausgießung des Heiligen Geistes, die dem Geheimnis der Erlösung ein unauslöschliches Merkmal einprägen, erklärt sich der Sinn des Kreuzes und des Todes Christi. Der Gott der Schöpfung offenbart sich als Gott der Erlösung, als Gott, der sich selbst treu ist, 56 treu seiner Liebe zum Menschen und zur Welt, wie sie sich schon am Tag der Schöpfung offenbart hat. Seine Liebe ist eine Liebe, die vor nichts zurückweicht, was die Gerechtigkeit in ihm selbst fordert. Und darum hat Gott den Sohn, »der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht«. 57 Wenn er den, der völlig ohne Sünde war, »zur Sünde gemacht hat«, so tat er dies, um die Liebe zu offenbaren, die immer größer ist als alles Geschaffene, die Liebe, die er selber ist, denn »Gott ist Liebe«. 58 Die Liebe ist vor allem größer als die Sünde, als die Schwachheit und die Vergänglichkeit des Geschaffenen, 59 stärker als der Tod; es ist eine Liebe, die stets bereit ist, aufzurichten und zu verzeihen, stets bereit, dem verlorenen Sohn entgegenzugehen 60 und immer auf der Suche ist nach dem »Offenbarwerden der Söhne Gottes«, 61 die zur künftigen Herrlichkeit berufen sind. 62 Diese Offenbarung der Liebe wird auch Barmherzigkeit genannt; 63 diese Offenbarung der Liebe und der Barmherzigkeit hat in der Geschichte nur eine Form und einen Namen: sie heißt Jesus Christus.

10. Die menschliche Dimension im Geheimnis der Erlösung

Der Mensch kann nicht ohne Liebe leben. Er bleibt für sich selbst ein unbegreifliches Wesen; sein Leben ist ohne Sinn, wenn ihm nicht die Liebe geoffenbart wird, wenn er nicht der Liebe begegnet, wenn er sie nicht erfährt und sich zu eigen macht, wenn er nicht lebendigen Anteil an ihr erhält. Und eben darum macht Christus, der Erlöser, wie schon gesagt, dem Menschen den Menschen selbst voll kund. Dieses ist - wenn man sich so ausdrücken darf - die menschliche Dimension im Geheimnis der Erlösung. In dieser Dimension findet der Mensch die Größe, die Würde und den Wert, die mit seinem Menschsein gegeben sind. Im Geheimnis der Erlösung wird der Mensch »neu bestätigt« und in gewisser Weise neu geschaffen. Er ist neu erschaffen! »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid "einer" in Christus Jesus«. 64 Der Mensch, der sich selbst bis in die Tiefe verstehen will - nicht nur nach unmittelbar zugänglichen, partiellen, oft oberflächlichen und sogar nur scheinbaren Kriterien und Maßstäben des eigenen Seins -, muß sich mit seiner Unruhe, Unsicherheit und auch mit seiner Schwäche und Sündigkeit, mit seinem Leben und Tode Christus nahen. Er muß sozusagen mit seinem ganzen Selbst in ihn eintreten, muß sich die ganze Wirklichkeit der Menschwerdung und der Erlösung »aneignen« und assimilieren, um sich selbst zu finden. Wenn sich in ihm dieser tiefgreifende Prozeß vollzieht, wird er nicht nur zur Anbetung Gottes veranlaßt, sondern gerät auch in tiefes Staunen über sich selbst. Welchen Wert muß der Mensch in den Augen des Schöpfers haben, wenn »er verdient hat, einen solchen und so großen Erlöser zu haben«, 65 wenn »Gott seinen Sohn hingegeben hat«, damit er, der Mensch, »nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat«. 66 Dieses tiefe Staunen über den Wert und die Würde des Menschen nennt sich Evangelium, Frohe Botschaft. Dieses Staunen rechtfertigt die Sendung der Kirche in der Welt, auch und vielleicht vor allem »in der Welt von heute«. Dieses Staunen und zugleich die Überzeugung und Gewißheit, die in ihrer tiefsten Wurzel Glaubensgewißheit ist, die aber auf verborgene und geheimnisvolle Weise auch jeden Aspekt des wahren Humanismus beseelt, ist eng mit Christus verbunden. Dies bestimmt auch seinen Platz, sein - wenn man so sagen darf - besonderes Bürgerrecht in der Geschichte des Menschen und der Menschheit. Die Kirche, die nicht aufhört, das Geheimnis Christi in seiner Gesamtheit zu betrachten, weiß mit voller Glaubensgewißheit, daß die Erlösung, die durch das Kreuz erfolgt ist, dem Menschen endgültig seine Würde und den Sinn seiner Existenz in der Welt zurückgegeben hat, den Sinn, den er in beachtlichem Maße durch die Sünde verloren hatte. Deshalb hat die Erlösung sich im Ostergeheimnis vollendet, das durch das Kreuz und den Tod zur Auferstehung führt.

Die grundlegende Aufgabe der Kirche in allen Epochen und besonders in der unsrigen ist es, den Blick des Menschen, das Bewußtsein und die Erfahrung der ganzen Menschheit auf das Geheimnis Christi zu lenken und auszurichten, allen Menschen zu helfen, mit dem tiefen Geheimnis der Erlösung, die sich in Jesus Christus ereignet, vertraut zu werden. Gleichzeitig berührt man damit auch die tiefste Schicht im Menschen, die Sphäre des menschlichen Herzens, des Bewußtseins und des Lebensgeschickes der Menschen.

11. Das Geheimnis Christi als Grundlage der Sendung der Kirche und des Christentums

Das II. Vatikanische Konzil hat eine ungeheuere Arbeit geleistet, um jenes volle und universale Bewußtsein der Kirche heranzubilden, von dem Papst Paul VI. in seiner ersten Enzyklika schreibt. Ein solches Bewußtsein - oder besser Selbstverständnis der Kirche - entwickelt sich »im Dialog«, der, bevor er zum Gespräch werden kann, die eigene Aufmerksamkeit auf »den anderen« lenken muß, das heißt auf den, mit dem wir sprechen wollen. Das ökumenische Konzil hat einen entscheidenen Impuls gegeben, um das Selbstverständnis der Kirche zu formen, indem es uns in angemessener und kompetenter Weise die Sicht des Erdkreises als einer »Karte« mit verschiedenen Religionen vermittelt hat. Darüber hinaus hat es gezeigt, wie sich auf dieser Karte der Weltreligionen in vorher nie gekannten und für unsere Zeit typischen Schichten das Phänomen des Atheismus in seinen verschiedenen Formen darüberlagert, angefangen vom programmatischen über den organisierten bis hin zum politisch strukturierten Atheismus.

Was die Religion betrifft, handelt es sich in der Hauptsache um die Religion als universales Phänomen, das von Anfang an mit der Geschichte des Menschen verbunden ist; ferner geht es um die verschiedenen nichtchristlichen Religionen und schließlich um das Christentum selbst. Das Konzilsdokument, das den nichtchristlichen Religionen gewidmet ist, ist in besonderer Weise voll tiefer Wertschätzung für die großen geistigen Werte, ja mehr noch, für den Primat dessen, was geistig ist und im Leben der Menschheit in der Religion und in den moralischen Prinzipien, die sich in der jeweiligen Kultur widerspiegeln, seinen Ausdruck findet. Zu Recht sahen die Kirchenväter in den verschiedenen Religionen gleichsam auch Reflexe einer einzigen Wahrheit als »Keime des Wortes«, 67 die bezeugen, daß das tiefste Streben des menschlichen Geistes, wenn auch auf verschiedenen Wegen, so doch in eine einzige Richtung ausgerichtet ist. Dieses Streben des Geistes drückt sich aus in der Suche nach Gott und zugleich - aufgrund seiner Hinordnung auf Gott - in der Suche nach der vollen Dimension des Menschseins oder der vollen Sinndeutung des menschlichen Lebens. Das Konzil hat eine besondere Aufmerksamkeit der jüdischen Religion gewidmet. Es hat die Christen und Juden an das große gemeinsame geistige Erbe erinnert. Zugleich hat es auch seine Wertschätzung gegenüber den Gläubigen des Islams bekundet, deren Glaube auch auf Abraham Bezug nimmt. 68

Durch die Öffnung, die vom II. Vatikanischen Konzil vollzogen wurde, konnten die Kirche und alle Christen zu einem vollständigeren Wissen um das Geheimnis Christi kommen, »das Geheimnis, das seit ewigen Zeiten verborgen war« 69 in Gott, um geoffenbart zu werden in der Zeit im Menschen Jesus Christus und um sich ständig jeder Zeit zu offenbaren. In Christus und durch Christus hat sich Gott der Menschheit vollkommen geoffenbart und sich ihr endgültig genähert. Gleichzeitig hat der Mensch in Christus und durch Christus ein volles Wissen um seine Würde, um seine Erhebung, um den transzendenten Wert des eigenen Menschseins und um den Sinn seiner Existenz erworben.

Es ist also notwendig, daß wir alle, die wir Jünger Christi sind, uns zusammenfinden und um ihn vereinigen. Diese Einheit in den verschiedenen Bereichen des Lebens, der Tradition, der Strukturen und Disziplinen der einzelnen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften kann nicht verwirklicht werden ohne aufrichtiges Bemühen, das nach gegenseitigem Sichkennenlernen und nach Beseitigung der Hindernisse auf dem Weg zu einer vollkommenen Einheit strebt. Dennoch können und müssen wir schon von jetzt an unsere Einheit leben und sie der Welt bekunden: in der Verkündigung des Geheimnisses Christi, im Aufzeigen der göttlichen und zugleich menschlichen Dimension der Erlösung, in dem mit unermüdlicher Ausdauer geführten Kampf für jene Würde, die jeder Mensch in Christus erreicht hat und beständig erreichen kann. Es ist die Würde der gnadenhaften Gotteskindschaft und zugleich die Würde der inneren Wahrheit des Menschseins, das - wenn dieses im allgemeinen Bewußtsein der heutigen Welt schon eine solche grundlegende Bedeutung erhalten hat - für uns noch bedeutsamer wird im Lichte jener Wirklichkeit, die er ist: Jesus Christus.

Jesus Christus ist feststehendes Prinzip und beständiges Zentrum des Auftrags, den Gott selbst dem Menschen anvertraut hat. An diesem Auftrag müssen wir alle teilnehmen, auf ihn müssen wir alle unsere Kräfte konzentrieren, da er mehr als je zuvor notwendig ist für die Menschheit in unserer Zeit. Und wenn ein solcher Auftrag heute größeren Widerständen als in jeder anderen Zeit zu begegnen scheint, so zeigt dies nur, daß der Auftrag in unserer Epoche noch dringlicher ist und - trotz der Widerstände - mehr erwartet wird als je zuvor. Hier berühren wir indirekt jenes Geheimnis der göttlichen Heilsordnung, das die Erlösung und die Gnade mit dem Kreuz verbunden hat. Nicht umsonst hat Christus gesagt, daß »dem Himmelreich Gewalt angetan wird und die Gewalttätigen es an sich reißen«; 70 und ferner daß »die Kinder dieser Welt ... klüger sind als die Kinder des Lichts«. 71 Gern akzeptieren wir diesen Vorwurf, um wie jene »Gewalttäter Gottes« zu sein, die wir in der Geschichte der Kirche so oft gesehen haben und auch heute noch erblicken, um uns bewußt im großen Auftrag zu vereinen, der da heißt: Christus der Welt zu offenbaren, einem jeden Menschen zu helfen, damit er sich selbst in ihm wiederfinde, den heutigen Generationen unserer Brüder und Schwestern, Völkern, Nationen, Staaten, der Menschheit, weniger entwickelten und reichen Ländern, kurz allen zu helfen, um den »unergründlichen Reichtum Christi« 72 kennenzulernen, damit dieser jedem Menschen zur Verfügung stehe und zum Besitz jedes einzelnen werde.

12. Der Auftrag der Kirche und die Freiheit des Menschen

In dieser Verbundenheit im Auftrag, über den vor allem Christus selbst entscheidet, müssen alle Christen entdecken, was sie bereits vereint, noch bevor sich ihre volle Gemeinschaft verwirklicht. Das ist die apostolische und missionarische, die missionarische und apostolische Einheit. Dank dieser Einheit können wir uns zusammen dem großartigen Erbe des menschlichen Geistes nähern, das sich in allen Religionen kundgetan hat, wie die Erklärung Nostra Aetate des II. Vatikanischen Konzils sagt. 73 Dank dieser Einheit nähern wir uns gleichzeitig allen Kulturen, allen Weltanschauungen und allen Menschen guten Willens. Wir nähern uns ihnen mit jener Wertschätzung, mit jenem Respekt und jenem Geist der Unterscheidung, der seit den Zeiten der Apostel die missionarische Tätigkeit und die Haltung des Missionars ausgezeichnet haben. Es genügt, an den hl. Paulus zu erinnern, z.B. an seine Rede vor dem Areopag in Athen. 74 Die missionarische Verhaltensweise beginnt immer mit einem Gefühl der Hochachtung vor dem, was »in jedem Menschen ist«, 75 vor dem, was er selbst im Innersten seines Wesens schon erarbeitet hat bezüglich der tiefsten und bedeutendsten Probleme; es handelt sich um die Achtung vor allem, was der Geist in ihm gewirkt hat, der »weht, wo er will«. 76 Die Mission ist niemals Zerstörung, sondern Aufnahme vorhandener Werte und Neuaufbau, wenn auch in der Praxis diesem hohen Ideal nicht immer voll entsprochen worden ist. Dabei wissen wir sehr gut, daß die Bekehrung, die von der Mission ihren Anfang nehmen muß, Werk der Gnade ist. In ihr muß der Mensch vollständig zu sich selbst zurückfinden.

Deswegen legt die Kirche in unserer Zeit einen großen Wert auf alles, was das II. Vatikanische Konzil in der Erklärung über die Religionsfreiheit dargelegt hat, sei es im ersten, sei es im zweiten Teil des Dokumentes. 77 Wir spüren zutiefst den verpflichtenden Charakter der Wahrheit, die Gott uns geoffenbart hat. Wir empfinden insbesondere die große Verantwortung für diese Wahrheit. Die Kirche ist kraft der Einsetzung durch Christus Wächterin und Lehrerin der Wahrheit, dadurch daß sie ja ausgestattet ist mit einem besonderen Beistand des Heiligen Geistes, damit sie über die Wahrheit treu wachen und sie in ihrer ganzen Fülle unverfälscht lehren kann. 78 Indem wir diesen Auftrag erfüllen, schauen wir auf Christus selbst, der der erste Verkünder der Frohen Botschaft ist; 79 ebenso schauen wir auch auf seine Apostel, Märtyrer und Bekenner. Die Erklärung über die Religionsfreiheit macht uns in überzeugender Weise deutlich, wie Christus und folglich seine Apostel in der Verkündigung der Wahrheit, die nicht von den Menschen, sondern von Gott kommt (»Meine Lehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat«), das heißt vom Vater, 80 obgleich sie alle Überzeugungskünste des Geistes einsetzen, eine tiefe Wertschätzung für den Menschen, für seinen Verstand, seinen Willen, sein Gewissen und seine Freiheit bewahren. 81 Auf diese Weise wird die Würde der menschlichen Person Bestandteil jener Botschaft, wenn auch nicht in Worten, so doch durch das Verhalten ihr gegenüber. Diese Verhaltensweise scheint übereinzustimmen mit den besonderen Bedürfnissen unserer Zeit. Da sich nicht in allem, was die verschiedenen Systeme und auch einzelne Menschen als Freiheit ansehen und propagieren, die wahre Freiheit des Menschen findet, wird die Kirche um so mehr kraft ihrer göttlichen Sendung zur Wächterin dieser Freiheit, die Bedingung und Grundlage für die wahre Würde der menschlichen Person ist.

Jesus Christus geht dem Menschen jeder Epoche, auch der unseren, mit den gleichen Worten entgegen: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen«. 82 Diese Worte schließen eine wesentliche Forderung und zugleich eine Ermahnung ein: die Forderung eines ehrlichen Verhältnisses zur Wahrheit als Bedingung einer authentischen Freiheit; und auch die Ermahnung, daß jede nur scheinbare Freiheit, jede oberflächliche und einseitige Freiheit und jede Freiheit, die nicht von der ganzen Wahrheit über den Menschen und die Welt geprägt ist, vermieden werde. Auch heute, nach 2000 Jahren, erscheint uns Christus als der, der dem Menschen die Freiheit bringt, die auf der Wahrheit begründet ist, als der, der den Menschen befreit von allem, was diese Freiheit in der Seele des Menschen, in seinem Herzen und in seinem Gewissen beschränkt, schmälert und gleichsam von den Ursprüngen selbst trennt. Welche wundervolle Bestätigung haben dafür diejenigen gegeben und geben sie noch immer, die durch Christus und in Christus zur wahren Freiheit gelangt sind und sie sogar unter Bedingungen äußerer Nötigung bekundet haben!

Als Jesus Christus als Gefangener vor das Gericht des Pilatus trat und von ihm zur Anklage befragt wurde, die gegen ihn von den Vertretern des Synedriums erhoben worden war, hat er da nicht selbst geantwortet: »Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege«? 83 Es ist, als ob er mit diesen Worten vor dem Richter im entscheidenden Augenblick noch einmal den schon vorher ausgesprochenen Satz bestätigt hätte: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen«. Ist nicht Jesus Christus selbst im Verlauf so vieler Jahrhunderte und so vieler Generationen, angefangen von den Zeiten der Apostel, sehr oft an die Seite von Menschen getreten, über die um der Wahrheit willen gerichtet wurde; ist er nicht auch mit Menschen in den Tod gegangen, die um der Wahrheit willen verurteilt wurden? Ist er nicht weiterhin Sprecher und Anwalt des Menschen, der im Geist und in der Wahrheit 84 lebt? Wie er nicht aufhört, vor dem Vater zu sein, so ist er auch in der Geschichte des Menschen stets anwesend. Die Kirche läßt ihrerseits trotz aller Schwächen, die zu ihrer menschlichen Geschichte gehören, nicht nach, ihm zu folgen, der gesagt hat: »Es kommt die Stunde, und sie ist jetzt da, in der die wahren Beter zum Vater beten werden im Geist und in der Wahrheit; denn solche Beter verlangt der Vater. Gott ist Geist, und alle, die anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten«. 85

III. DER ERLÖSTE MENSCH UND SEINE SITUATION IN DER WELT VON HEUTE

 

13. Christus ist mit jedem Menschen verbunden

Wenn wir durch die beständig und immer schneller wachsenden Erfahrungen der Menschheitsfamilie tiefer in das Geheimnis Jesu Christi eindringen, erkennen wir immer deutlicher, daß all jenen Wegen, auf denen die Kirche in unseren Tagen nach den richtungweisenden Worten von Papst Paul VI. 86 voranschreiten muß, ein besonderer Weg zugrunde liegt, der seit Jahrhunderten erprobt ist und zugleich in die Zukunft führt. Unser Herr Jesus Christus hat uns selbst auf diesen Weg verwiesen, da - wie das Konzil uns lehrt - »der Sohn Gottes durch seine Menschwerdung sich gleichsam mit jedem Menschen verbunden hat«. 87 Die Kirche sieht es darum als ihre grundlegende Aufgabe an, darauf hinzuwirken, daß diese Einheit immer wieder Gestalt und neues Leben gewinnt. Diesem Ziel allein möchte die Kirche dienen: jeder Mensch soll Christus finden können, damit Christus jeden einzelnen auf seinem Lebensweg begleiten kann mit jener kraftvollen Wahrheit über den Menschen und die Welt, wie sie im Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung enthalten ist, mit der Macht jener Liebe, die hiervon ausstrahlt. Auf dem Hintergrund von immer vielfältigeren geschichtlichen Entwicklungen, die zu unserer Zeit im Bereich der verschiedenen Systeme, Weltanschauungen und Staatsformen besonders erfolgreich zu sein scheinen, wird Jesus Christus gleichsam noch einmal gegenwärtig trotz vieler Anzeichen einer scheinbaren Abwesenheit, trotz aller Einschränkungen, welche die offizielle Gegenwart und Aktivität der Kirche erfahren. Jesus Christus wird gegenwärtig durch die Kraft jener Wahrheit und Liebe, die sich in einzigartiger und einmaliger Fülle in ihm ausgeprägt haben, obgleich sein irdisches Leben nur kurz und noch kürzer sein öffentliches Wirken war.

Jesus Christus ist der Hauptweg der Kirche. Er selbst ist unser Weg zum Haus des Vaters 88 und ist auch der Zugang zu jedem Menschen. Auf dieser Straße, die von Christus zum Menschen führt, auf der Christus jedem Menschen zur Seite tritt, darf die Kirche sich von niemandem aufhalten lassen. Das fordert das zeitliche wie auch das ewige Heil des Menschen. Wenn die Kirche auf Christus sieht und auf das Geheimnis, welches ihr Leben ausmacht, dann kann sie nicht unempfindlich bleiben für alles, was dem wahren Wohl des Menschen dient, so wie es ihr auch nicht gleichgültig sein kann, wenn dieses bedroht wird. Das II. Vatikanische Konzil hat an verschiedenen Stellen seiner Dokumente diese fundamentale Sorge der Kirche formuliert, damit »das Leben in dieser Welt mehr der überragenden Würde des Menschen entspreche« 89 in allen ihren Aspekten »und immer humaner gestaltet werde«. 90 Das ist die Sorge von Christus selbst, dem Guten Hirten aller Menschen. Im Namen dieser Hirtensorge - so lesen wir in der Pastoralkonstitution des Konzils - ist »die Kirche, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden darf noch auch an irgendein politisches System gebunden ist, zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person«. 91

Es geht also hier um den Menschen in seiner vollen Wahrheit, in all seinen Dimensionen. Es geht nicht um einen »abstrakten« Menschen, sondern um den realen, den »konkreten« und »geschichtlichen« Menschen. Jeder »einzelne« Mensch ist gemeint; denn jeder ist vom Geheimnis der Erlösung betroffen, mit jedem ist Christus für immer durch dieses Geheimnis verbunden. Jeder Mensch, der im Mutterschoß empfangen und von seiner Mutter in diese Welt hineingeboren wird, ist gerade wegen dieses Erlösungswerkes der Obhut der Kirche anvertraut. Ihre Sorge schaut auf den ganzen Menschen und ist ihm in einzigartiger Weise zugewandt. Sie kümmert sich um den Menschen in seiner individuellen, unwiederholbaren Wirklichkeit, in der unzerstörbar das Bild und Gleichnis Gottes enthalten ist. 92 Das meint das Konzil, wenn es diese Ähnlichkeit erwähnt und dabei daran erinnert, daß »der Mensch auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst gewollte Kreatur ist«. 93 So wie dieser Mensch von Gott »gewollt« ist, wie er von Ewigkeit her von ihm »erwählt« ist, gerufen und bestimmt für die Gnade und das Heil, so ist jeder Mensch ganz »konkret«, ganz »real«. Dies ist der Mensch im vollen Licht des Geheimnisses, an dem er durch Jesus Christus teilnimmt, ein Geheimnis, an dem jeder einzelne der vier Milliarden Menschen teilhat, die auf unserem Planeten leben, vom ersten Moment an, da er unter dem Herzen der Mutter empfangen wird.

14. Alle Wege der Kirche führen zum Menschen

Die Kirche darf am Menschen nicht vorbeigehen; denn sein »Geschick«, das heißt seine Erwählung, seine Berufung, seine Geburt und sein Tod, sein ewiges Heil oder Unheil sind auf so enge und unaufhebbare Weise mit Christus verbunden. Dabei geht es wirklich um jeden Menschen auf diesem Planeten, unserer Erde, die der Schöpfer dem ersten Menschen anvertraut hat, als er zum Mann und zu der Frau sprach: »Unterwerft sie euch und herrscht über sie«. 94 Es geht um jeden Menschen in all seiner unwiederholbaren Wirklichkeit im Sein und im Handeln, im Bewußtsein und im Herzen. Der Mensch in seiner Einmaligkeit - weil er »Person« ist - hat seine eigene Lebensgeschichte und vor allem eine eigene Geschichte seiner Seele. Von der intentionalen Öffnung seines Geistes und zugleich von den zahlreichen und so verschiedenen Bedürfnissen seines Leibes und seiner irdischen Existenz bestimmt, schreibt der Mensch diese seine persönliche Geschichte durch zahllose Bindungen, Kontakte, Situationen und soziale Strukturen, die ihn mit anderen Menschen verbinden; und dies tut er vom ersten Augenblick seiner irdischen Existenz an, angefangen bei seiner Empfängnis und Geburt. Der Mensch in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins - im Bereich der eigenen Familie, auf der Ebene der Gesellschaft und so vieler verschiedener Umgebungen, auf dem Gebiet der eigenen Nation oder des eigenen Volkes oder vielleicht auch nur des eigenen Klans oder Stammes, schließlich auch im Bereich der gesamten Menschheit - dieser Mensch ist der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrags beschreiten muß: er ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt.

Diesen Menschen in der ganzen Wirklichkeit seines Lebens, mit seinem Bewußtsein, mit seiner fortwährenden Neigung zur Sünde und zugleich mit seinem ständigen Durst nach Wahrheit, nach dem Guten und Schönen, nach Gerechtigkeit und Liebe, gerade diesen Menschen hatte das II. Vatikanische Konzil im Auge, als es bei der Beschreibung seiner Lage in der heutigen Welt jeweils von den äußeren Komponenten dieser Lage zur inneren Wahrheit des Menschseins vorstieß: »... im Menschen selbst sind viele widersprüchliche Elemente gegeben. Einerseits erfährt er sich nämlich als Geschöpf vielfältig begrenzt, andererseits empfindet er sich in seinem Verlangen unbegrenzt und berufen zu einem Leben höherer Ordnung. Zwischen vielen Möglichkeiten, die ihn anrufen, muß er dauernd unweigerlich eine Wahl treffen und so auf dieses oder jenes verzichten. Als schwacher Mensch und Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte, tut er nicht. So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und daraus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft«. 95

Dieser Mensch ist der Weg der Kirche, der in gewisser Weise an der Basis all jener Wege verläuft, auf denen die Kirche wandert; denn der Mensch - und zwar jeder Mensch ohne jede Ausnahme - ist von Christus erlöst worden. Christus ist mit jedem Menschen, ohne Ausnahme, in irgendeiner Weise verbunden, auch wenn sich der Mensch dessen nicht bewußt ist: »Christus, der für alle gestorben und auferstanden ist, schenkt dem Menschen« - jedem einzelnen und allen zusammen - »fortwährend Licht und Kraft durch seinen Geist, damit er seiner höchsten Berufung entsprechen kann«. 96

Da also der Mensch der Weg der Kirche ist, der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer Aufgaben und Mühen, muß sich die Kirche unserer Zeit immer wieder neu die »Situation« des Menschen bewußt machen. Sie muß seine Möglichkeiten kennen, die eine immer neue Richtung nehmen und so zu Tage treten; zugleich aber muß die Kirche die Bedrohungen kennen, die über dem Menschen hängen. Sie muß sich all dessen bewußt sein, was offenkundig dem Bemühen entgegensteht, das Leben der Menschen »immer humaner zu gestalten«, 97 damit alle Bereiche dieses Lebens der wahren Würde des Menschen entsprechen. Mit einem Wort: die Kirche muß alles kennen, was diesem Prozeß entgegensteht.

15. Die Ängste des heutigen Menschen

Während wir also das Bild vom Menschen lebendig im Gedächtnis behalten, das uns das II. Vatikanische Konzil in so tiefer und maßgeblicher Weise gezeichnet hat, wollen wir es doch auch an die heutigen »Zeichen der Zeit« anpassen und an die Erfordernisse der Lebensumstände, die sich ja fortwährend ändern und in bestimmte Richtungen entwickeln.

Der Mensch von heute scheint immer wieder von dem bedroht zu sein, was er selbst produziert, das heißt vom Ergebnis der Arbeit seiner Hände und noch mehr vom Ergebnis der Arbeit seines Verstandes und seiner Willensentscheidung. Die Früchte dieser vielgestaltigen Aktivität des Menschen sind nicht nur Gegenstand von »Entfremdung«, weil sie demjenigen, der sie hervorgebracht hat, einfachhin genommen werden; allzu oft und nicht selten unvorhersehbar wenden sich diese Früchte, wenigstens teilweise, in einer konsequenten Folge von Wirkungen indirekt gegen den Menschen selbst. So sind sie tatsächlich gegen ihn gerichtet oder können es jederzeit sein. Hieraus scheint das wichtigste Kapitel des Dramas der heutigen menschlichen Existenz in seiner breitesten und universellen Dimension zu bestehen. Der Mensch lebt darum immer mehr in Angst. Er befürchtet, daß seine Produkte, natürlich nicht alle und auch nicht die Mehrzahl, aber doch einige und gerade jene, die ein beträchtliches Maß an Genialität und schöpferischer Kraft enthalten, sich in radikaler Weise gegen ihn selbst kehren könnten; er fürchtet, sie könnten Mittel und Instrumente einer unvorstellbaren Selbstzerstörung werden, vor der alle Katastrophen der Geschichte, die wir kennen, zu verblassen scheinen. Hieraus muß sich also die Frage ergeben: Wieso wendet sich diese Macht, die von Anfang an dem Menschen gegeben war, um damit die Erde zu beherrschen, 98 gegen ihn selbst und ruft diesen verständlichen Zustand der Unruhe, der bewußten und unbewußten Angst und der Bedrohung hervor, der sich in verschiedener Weise der gesamten Menschheitsfamilie mitteilt und vielfältige Erscheinungsformen kennt?

Dieser Zustand der Bedrohung, die die eigenen Produkte dem Menschen erzeugen, wirkt sich in verschiedenen Richtungen aus und zeigt unterschiedliche Intensitäten. Wir scheinen uns heute wohl der Tatsache mehr bewußt zu sein, daß die Nutzung der Erde, jenes Planeten, auf dem wir leben, eine vernünftige und gerechte Planung erfordert. Gleichzeitig aber bewirken diese Nutzung zu wirtschaftlichen und sogar militärischen Zwecken, diese unkontrollierte Entwicklung der Technik, die nicht eingeordnet ist in einen Gesamtplan eines wirklich menschenwürdigen Fortschrittes, oft eine Bedrohung der natürlichen Umgebung des Menschen, sie entfremden ihn in seiner Beziehung zur Natur, sie trennen ihn von ihr ab. Der Mensch scheint oft keine andere Bedeutung seiner natürlichen Umwelt wahrzunehmen, als allein jene, die den Zwecken eines unmittelbaren Gebrauchs und Verbrauchs dient. Dagegen war es der Wille des Schöpfers, daß der Mensch der Natur als »Herr« und besonnener und weiser »Hüter« und nicht als »Ausbeuter«und skrupelloser »Zerstörer« gegenübertritt.

Der Fortschritt der Technik und die Entwicklung der heutigen Zivilisation, die von der Vorherrschaft der Technik geprägt ist, erfordern eine entsprechende Entwicklung im sittlichen Leben und in der Ethik. Diese scheint jedoch leider immer zurückzubleiben. Der Fortschritt, der ja andererseits so staunenswert ist, weil wir in ihm auch echte Zeichen der Größe des Menschen mühelos entdecken können, wie sie uns in ihren schöpferischen Anfängen schon im Buch der Genesis bei der Darstellung der Schöpfung 99 offenbart worden sind, muß darum doch auch vielfältige Sorgen wecken. Die erste Sorge betrifft die wesentliche und grundlegende Frage: Macht dieser Fortschritt, dessen Urheber und Förderer der Mensch ist, das menschliche Leben auf dieser Erde wirklich in jeder Hinsicht »menschlicher«? Macht er das Leben »menschenwürdiger«? Zweifellos ist dies in mancher Hinsicht der Fall. Die Frage meldet sich jedoch hartnäckig wieder, wenn es um das Wesentliche geht: Wird der Mensch als Mensch im Zusammenhang mit diesem Fortschritt wirklich besser, das heißt geistig reifer, bewußter in seiner Menschenwürde, verantwortungsvoller, offener für den Mitmenschen, vor allem für die Hilfsbedürftigen und Schwachen, und hilfsbereiter zu allen?

Diese Frage müssen sich die Christen stellen, eben weil Jesus Christus sie so umfassend für das Problem des Menschen empfänglich gemacht hat. Die gleiche Frage aber stellt sich allen Menschen, besonders denjenigen, die in solchen sozialen Bereichen leben, die sich aktiv für die Entwicklung und den Fortschritt in unserer Zeit einsetzen. Wenn wir diese Entwicklungen beobachten und sogar an ihnen teilnehmen, darf uns nicht Euphorie überkommen noch dürfen wir uns von einseitigem Enthusiasmus fortreißen lassen, sondern wir alle müssen uns mit äußerster Ehrlichkeit, Objektivität und moralischem Verantwortungsbewußtsein den wesentlichen Fragen stellen, die die Situation des Menschen heute und in Zukunft betreffen.

Stimmen alle diese Errungenschaften, die bisher erreicht wurden oder von der Technik für die Zukunft geplant werden, mit dem moralischen und geistigen Fortschritt des Menschen überein? Entwickelt sich der Mensch als solcher in diesem Zusammenhang, macht er wirklich Fortschritte oder fällt er zurück und sinkt in seiner Menschlichkeit nach unten? Überwiegt unter den Menschen, »in der Welt des Menschen«, die von sich aus das Gute und das Böse enthält, das Gute vor dem Bösen? Wachsen tatsächlich in den Menschen und untereinander die Nächstenliebe, die Achtung vor den Rechten des anderen - sei es der einzelne, eine Nation oder ein Volk - oder nehmen vielmehr die Egoismen verschiedener Art und die übertriebenen Nationalismen anstelle einer echten Vaterlandsliebe zu sowie das Streben, andere über die eigenen legitimen Rechte und Verdienste hinaus zu beherrschen, wie auch die Tendenz, allen materiellen und wirtschaftlichen Fortschritt allein zu dem Zweck auszunützen, um die Vorherrschaft über andere zu besitzen oder diesen oder jenen Imperialismus zu fördern?

Dies sind die wesentlichen Fragen, die die Kirche sich stellen muß, weil Milliarden von Menschen, die heute auf der Welt leben, mehr oder weniger ausdrücklich solche Fragen stellen. Das Thema »Entwicklung und Fortschritt« taucht in allen Gesprächen auf und erscheint in den Spalten aller Zeitungen und Publikationen in fast allen Sprachen der heutigen Welt. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß dieses Thema nicht nur Feststellungen und gesicherte Aussagen enthält, sondern auch Fragen und bedrückende Sorgen. Und dies letztere ist genau so wichtig wie das erste. Sie entsprechen der dialektischen Natur menschlicher Erkenntnis und vor allem dem Grundbedürfnis der Sorge des Menschen für den Menschen, für seine eigene Menschlichkeit, für die Zukunft der Menschen auf dieser Erde. Die Kirche, die aus einem eschatologischen Glauben lebt, betrachtet diese Besorgnis des Menschen um seine Menschlichkeit, um die Zukunft der Menschen auf Erden und damit auch um die Richtung von Entwicklung und Fortschritt als ein wesentliches Element ihrer Sendung, das hiervon nicht getrennt werden darf. Den Kern dieser Sorge findet die Kirche in Jesus Christus selbst, wie die Evangelien bezeugen. Gerade darum möchte sie dieses Engagement aus der Einheit mit ihm verstärken, indem sie die Situation des Menschen in der heutigen Welt nach den wichtigsten Zeichen unserer Zeit interpretiert.

16. Fortschritt oder Bedrohung?

Wenn sich diese Zeit, die Zeit unserer Generation, die sich dem Ende des zweiten Jahrtausends unserer christlichen Ära nähert, uns als eine Zeit großen Fortschritts offenbart, so erscheint sie uns andererseits auch als eine Zeit vielfältiger Bedrohungen für den Menschen, über die die Kirche mit allen Menschen guten Willens sprechen und immer im Gespräch bleiben muß. Die Situation des Menschen in der heutigen Zeit scheint in der Tat noch fern zu sein von den objektiven Forderungen der sittlichen Ordnung wie auch von den Forderungen der Gerechtigkeit und mehr noch von der sozialen Liebe. Es geht hier darum, was schon in der ersten Botschaft des Schöpfers an den Menschen in dem Augenblick Ausdruck gefunden hat, als dieser ihm die Erde anvertraute, damit er sie sich »unterwerfe«. 100 Diese erste Botschaft ist im Geheimnis der Erlösung von Jesus Christus neu bekräftigt worden. Das II. Vatikanische Konzil hat dies in den wunderbaren Lehraussagen über die »Königswürde« des Menschen, das heißt über seine Berufung zur Teilnahme am Königsamt - munus regale - Christi dargelegt. 101 Der zentrale Sinn dieser »Königswürde« und dieser »Herrschaft« des Menschen über die sichtbare Welt, die ihm vom Schöpfer als Aufgabe anvertraut worden ist, besteht im Vorrang der Ethik vor der Technik, im Primat der Person über die Dinge, in der Überordnung des Geistes über die Materie.

Aus diesem Grund muß man alle Phasen des heutigen Fortschritts aufmerksam verfolgen. Man muß unter diesem Gesichtspunkt gleichsam eine Durchleuchtung seiner einzelnen Etappen vornehmen. Es handelt sich hier um die Entwicklung von Personen und nicht nur der vielen Dinge, deren sich die Personen bedienen können. Es geht - wie ein zeitgenössischer Philosoph gesagt und auch das Konzil festgestellt hat - nicht so sehr darum, »mehr zu haben«, sondern »mehr zu sein«. 102 In der Tat besteht schon eine wirkliche, erkennbare Gefahr, daß der Mensch bei dem enormen Fortschritt in der Beherrschung der gegenständlichen Welt die entscheidenden Fäden, durch die er sie beherrscht, aus der Hand verliert und ihnen auf verschiedene Weise sein Menschsein unterordnet und selbst Objekt wird von vielfältigen, wenn auch oft nicht direkt wahrnehmbaren Manipulationen durch die Organisation des gesellschaftlichen Lebens, durch das Produktionssystem und durch den Druck der sozialen Kommunikationsmittel. Der Mensch kann nicht auf sich selber verzichten noch auf den Platz, der ihm in der sichtbaren Welt zukommt; er darf nicht Sklave der Dinge, Sklave der Wirtschaftssysteme, Sklave der Produktion, Sklave der eigenen Produkte werden. Eine Zivilisation von rein materialistischem Charakter verurteilt den Menschen zu solcher Sklaverei, wenn dies auch mitunter zweifellos gegen die Absichten und Programme ihrer maßgeblichen Führer geschieht. Der gegenwärtigen Sorge um den Menschen liegt ganz gewiß dieses Problem zugrunde. Es handelt sich hier nicht nur darum, auf die Frage: Wer ist der Mensch? eine abstrakte Antwort zu geben. Es geht vielmehr um den gesamten Dynamismus des Lebens und der Zivilisation. Es geht um den Sinn der verschiedenen Initiativen des täglichen Lebens und gleichzeitig um die Voraussetzungen für zahlreiche Programme der Zivilisation, um politische, wirtschaftliche, soziale, staatliche und viele andere Programme.

Wenn wir es wagen, die Situation des Menschen in der Welt von heute als noch fern von den objektiven Forderungen der sittlichen Ordnung, von den Forderungen der Gerechtigkeit und mehr noch von der sozialen Liebe zu bezeichnen, so geschieht es deswegen, weil dies von den allgemein bekannten Tatsachen und Gegenüberstellungen bestätigt wird, die auch schon mehrmals in päpstlichen, konziliaren und synodalen Verlautbarungen erwähnt worden sind. 103 Die Situation des Menschen in unserer Epoche ist sicher nicht einförmig, sie ist auf vielfältige Weise differenziert. Diese Differenzen haben ihre geschichtlichen Gründe, aber auch eine stark ethische Komponente. Allgemein bekannt ist das Bild der Konsumgesellschaft, die einen gewissen Überfluß an den für den Menschen und die ganze Gesellschaft notwendigen Gütern besitzt - gemeint sind die reichen und weit fortgeschrittenen Gesellschaften -, während die übrigen, zumindest in weiten Schichten, Hunger leiden und viele Personen in ihnen täglich an Hunger und Unterernährung sterben. Hand in Hand damit geht für die einen ein bestimmter Mißbrauch der Freiheit, der mit einer konsumistischen Verhaltensweise verbunden ist, die nicht von der Ethik gezügelt wird; gleichzeitig wird dadurch die Freiheit der anderen beschränkt, die schon großen Mangel leiden und somit in noch stärkere Armut und ins Elend getrieben werden.

Dieser Vergleich, der allgemein bekannt ist, und der Gegensatz, auf den die Päpste unseres Jahrhunderts, in jüngster Zeit Johannes XXIII. und Paul VI., 104 in ihren Lehrschreiben des öfteren hingewiesen haben, erscheinen wie die gigantische Vergrößerung des biblischen Gleichnisses vom reichen Prasser und dem armen Lazarus. 105

Der Umfang des Problems führt uns zur Prüfung der Strukturen und Mechanismen im Bereich der Finanzen und des Geldwertes, der Produktion und des Handels, die mit Hilfe von verschiedenen politischen Druckmitteln die Weltökonomie beherrschen: sie zeigen sich unfähig, die aus der Vergangenheit überkommenen Ungerechtigkeiten aufzufangen oder den Herausforderungen und ethischen Ansprüchen der Gegenwart standzuhalten. Indem sie den Menschen selbstverursachten Spannungen aussetzen, in beschleunigtem Tempo die Reserven an Grundmaterien und Energie vergeuden und den geophysischen Lebensraum schädigen, bewirken sie, daß sich die Zonen des Elends mit ihrer Last an Angst, Enttäuschung und Bitterkeit unaufhörlich weiter ausdehnen. 106

Diese dramatische Lage darf uns nicht gleichgültig sein: derjenige, der höchsten Profit daraus zieht, und derjenige, der davon Unrecht und Schaden erleidet, ist in jedem Fall der Mensch. Die dramatische Situation wird noch dadurch verschärft, daß bessergestellte Gesellschaftsschichten sowie die reichen Länder, die Werte im Übermaß anhäufen und oft durch Mißbrauch von ihrem eigenen Reichtum krank werden, daran beteiligt sind. Das Fieber der Inflation und die Plage der Arbeitslosigkeit sind weitere Symptome dieser schweren moralischen Unordnung auf Weltebene, die darum kühne und schöpferische Entscheidungen nötig macht, 107 wie sie die Würde der menschlichen Person fordert.

Die Verwirklichung dieser Aufgabe ist nicht unmöglich. Das Prinzip der Solidarität im weiteren Sinne muß die wirksame Suche nach Institutionen und geeigneten Mechanismen bestimmen, sowohl im Bereich des Welthandels, wo man sich von den Gesetzen eines gesunden Wettbewerbs leiten lassen sollte, wie auch im Bereich einer umfassenden und unmittelbaren Umverteilung der Reichtümer und ihrer Kontrolle, damit die Völker, die noch auf dem Weg ihrer wirtschaftlichen Entwicklung sind, nicht nur ihre wesentlichen Bedürfnisse befriedigen, sondern auch stufenweise, aber doch wirksam vorankommen können.

Man wird auf diesem schwierigen Weg der unbedingt notwendigen Veränderung der Strukturen des Wirtschaftslebens nur dann Fortschritte machen, wenn eine wahre Umkehr der Mentalität, des Willens und des Herzens stattfindet. Die Aufgabe erfordert den entschlossenen Einsatz der Menschen und Völker in Freiheit und Solidarität. Allzu oft verwechselt man jedoch Freiheit mit dem Instinkt für das individuelle oder kollektive Interesse oder sogar mit dem Instinkt, sich durchzusetzen und zu beherrschen, ganz gleich, mit welchen ideologischen Farben dies versehen wird. Offenbar existieren solche Instinkte; es wird aber keine wirklich menschenwürdige Wirtschaftspraxis geben, wenn diese nicht aufgegriffen, ausgerichtet und geleitet werden durch die wertvolleren Kräfte im Innern des Menschen, von denen die wahre Kultur der Völker abhängt. Von diesen Quellen muß das Bemühen ausgehen, das der echten Freiheit des Menschen Gestalt gibt und darum fähig sein wird, diese auch für den wirtschaftlichen Bereich zu sichern. Das notwendige wirtschaftliche Wachstum mit seinen ihm eigenen Gesetzmäßigkeiten muß in die Perspektive einer ganzheitlichen und solidarischen Entwicklung der einzelnen Menschen und Völker einbezogen werden, wie uns mein Vorgänger Paul VI. in der Enzyklika Populorum Progressio mit Nachdruck in Erinnerung gerufen hat. Sonst wird der Teilbereich »wirtschaftliches Wachstum«so übermächtig, daß er den gesamten Bereich des menschlichen Lebens seinen partiellen Erfordernissen unterordnet, dabei den Menschen erstickt, die Gesellschaft zersetzt und schließlich in den eigenen Spannungen und Exzessen steckenbleibt.

Es ist durchaus möglich, eine solche Verpflichtung zu übernehmen; das bezeugen einige sichere Fakten und all jene Resultate, die hier genauer aufzuzählen schwierig wäre. Eines jedoch ist gewiß: bei dieser ungeheueren Aufgabe muß man von vornherein den Inhalt der moralischen Verantwortung, die der Mensch dabei übernehmen soll, genau festsetzen, annehmen und weiter vertiefen. Subjekt der Verantwortung ist einzig und allein der Mensch selbst. Für uns Christen wird eine solche Verantwortung besonders offenkundig, wenn wir - und das sollten wir stets tun - uns an das Geschehen des Jüngsten Gerichtes erinnern nach den Worten Christi, die uns im Matthäusevangelium überliefert sind. 108

Dieses eschatologische Bild muß immer auf die Geschichte des Menschen »angewandt«werden, muß stets der »Maßstab« für die menschlichen Handlungen sein, gleichsam ein Grundschema für die Gewissenserforschung eines jeden einzelnen und von allen zusammen: »Ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ... ich war nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich war ... im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht«. 109 Diese Worte erhalten eine noch eindringlichere Mahnung, wenn wir daran denken, daß anstelle von Brot und kultureller Hilfe den neuen Staaten und Nationen, die zur Unabhängigkeit erwachen, mitunter große Mengen von modernen Waffen und Zerstörungsmitteln angeboten werden, die bewaffneten Auseinandersetzungen und Kriegen dienen sollen, welche in diesen Ländern nicht so sehr für die Verteidigung ihrer legitimen Rechte oder ihrer Souveränität notwendig sind, sondern vielmehr eine Form des Chauvinismus, des Imperialismus, des Neokolonialismus verschiedenster Art darstellen. Wir alle wissen, daß die Gebiete, in denen auf der Erde Elend und Hunger herrschen, in kurzer Zeit hätten fruchtbar gemacht werden können, wenn die ungeheueren Geldsummen anstatt für Waffen, die dem Krieg und der Zerstörung dienen, zur Nahrungsmittelproduktion eingesetzt worden wären, die dem Leben dient.

Vielleicht bleiben diese Überlegungen teilweise »abstrakt«, vielleicht bieten sie der einen oder anderen »Seite« Gelegenheit, sich gegenseitig anzuklagen, wobei jede ihre eigene Schuld vergißt. Vielleicht werden sie auch neue Anklagen gegen die Kirche hervorrufen. Diese verfügt über keine anderen Waffen als nur über die Waffen des Geistes, über Waffen des Wortes und der Liebe; sie kann es aber nicht unterlassen, »das Wort zu verkünden... zu gelegener und ungelegener Zeit«. 110 Deswegen hört sie auch nicht auf, jede der beiden Seiten zu bitten und alle zusammen im Namen Gottes und im Namen des Menschen aufzufordern: Tötet nicht! Bringt den Menschen keine Zerstörung und Vernichtung! Denkt an eure Brüder, die Hunger und Elend erleiden! Achtet die Würde und die Freiheit eines jeden Menschen!

17. Menschenrechte:»Buchstabe« oder »Geist«

Unser Jahrhundert ist bisher ein Jahrhundert der großen Unglücke für den Menschen, der großen Verwüstungen, nicht nur der materiellen, sondern auch und vielleicht sogar vor allem der moralischen, gewesen. Es ist gewiß nicht leicht, unter diesem Gesichtspunkt Epochen und Jahrhunderte miteinander zu vergleichen; ihre Beurteilung hängt nämlich auch von geschichtlichen Kriterien ab, die sich ändern. Aber auch ohne solche Vergleiche muß man feststellen, daß dieses Jahrhundert bisher eine Periode gewesen ist, in der die Menschen sich gegenseitig viele Ungerechtigkeiten und Leiden zugefügt haben. Ist dieser Entwicklung nun endgültig Einhalt geboten? Wir dürfen es in jedem Fall nicht unterlassen, mit Achtung und großer Hoffnung für die Zukunft an die großartigen Anstrengungen zu erinnern, mit denen man die Organisation der Vereinten Nationen ins Leben gerufen hat; Anstrengungen, die darauf abzielen, die objektiven und unverletzlichen Menschenrechte zu umschreiben und festzusetzen, wobei sich die Mitgliedstaaten gegenseitig verpflichteten, diese genau zu beachten. Die Verpflichtung ist von fast allen heutigen Staaten übernommen und ratifiziert worden; das sollte eine Garantie dafür sein, daß die Menschenrechte in der ganzen Welt zum Grundprinzip aller Bemühungen um das Wohl des Menschen werden.

Die Kirche braucht nicht zu betonen, wie sehr dieses Problem mit ihrer Sendung in der Welt von heute verbunden ist. Es bildet nämlich eine der grundlegenden Voraussetzungen für den sozialen und internationalen Frieden, wie Johannes XXIII., das II. Vatikanische Konzil und auch Paul VI. in besonderen Dokumenten dargelegt haben. Letztlich führt sich der Frieden zurück auf die Achtung der unverletzlichen Menschenrechte - opus iustitiae pax -, während der Krieg aus der Verletzung dieser Rechte entsteht und noch größere derartige Verletzungen nach sich zieht. Wenn die Menschenrechte in Friedenszeiten verletzt werden, ist dies besonders schmerzlich und stellt unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts ein unverständliches Phänomen des Kampfes gegen den Menschen dar, das auf keine Weise mit irgendeinem Programm, das sich selbst als »humanistisch« bezeichnet, in Einklang gebracht werden kann. Und welches soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Programm könnte auf diese Bezeichnung verzichten? Wir hegen die tiefe Überzeugung, daß es in der Welt von heute kein Programm gibt, in dem nicht, nicht einmal auf der Ebene entgegengesetzter ideologischer Weltanschauungen, der Mensch immer an die erste Stelle gesetzt wird.

Wenn aber nun trotz dieser Voraussetzungen die Menschenrechte auf verschiedene Weise verletzt werden, wenn wir Zeugen von Konzentrationslagern, von Gewalt und Torturen, von Terrorismus und vielfältigen Diskriminierungen sind, so muß das eine Folge anderer Vorbedingungen sein, die die Wirksamkeit der humanistischen Voraussetzungen in jenen modernen Programmen und Systemen bedrohen oder oft auch zunichte machen. Somit drängt sich notwendig die Pflicht auf, diese Programme unter dem Gesichtspunkt der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte einer ständigen Revision zu unterziehen.

Die Menschenrechtserklärung, die in Verbindung mit der Errichtung der Organisation der Vereinten Nationen erfolgte, hatte gewiß nicht nur das Ziel, sich von den furchtbaren Erfahrungen des letzten Weltkrieges zu distanzieren, sondern sollte auch eine Grundlage für eine solche ständige Revision der Programme, Systeme und Regime schaffen, die unter diesem einzigen grundlegenden Gesichtspunkt zu geschehen hat, dem Wohl des Menschen, das heißt der Person in der Gesellschaft; dieses muß als Grundfaktor des Gemeinwohls das wesentliche Kriterium für alle Programme, Systeme und Regime bilden. Andernfalls ist das menschliche Leben, auch in Friedenszeiten, zu verschiedenen Leiden verdammt; gleichzeitig damit entwickeln sich verschiedene Formen von Vorherrschaft, von Totalitarismus, Neokolonialismus, Imperialismus, die auch das Zusammenleben zwischen den Nationen gefährden. Es ist in der Tat eine bezeichnende Tatsache, die mehrmals durch die Erfahrungen der Geschichte bestätigt worden ist, daß nämlich die Verletzung der Menschenrechte mit der Verletzung der Rechte der Nation Hand in Hand geht; mit ihr ist der Mensch ja durch organische Bande wie mit einer großen Familie verbunden.

Schon seit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, als sich verschiedene totalitäre Staatssysteme entwickelten, die dann bekanntlich zu der furchtbaren Kriegskatastrophe führten, hat die Kirche ihre Haltung gegenüber diesen Regimen klar umrissen; denn diese handelten nur scheinbar im Interesse eines höheren Gutes, nämlich für das Wohl des Staates, während die Geschichte dagegen zeigen sollte, daß dies nur das Wohl einer bestimmten Partei war, die sich mit dem Staat identifizierte. 111 In Wirklichkeit haben diese Regime die Rechte der Bürger eingeschränkt, indem sie ihnen die Anerkennung gerade jener unverletzlichen Bürgerrechte versagten, die um die Mitte unseres Jahrhunderts auf internationaler Ebene offiziell festgelegt und anerkannt worden sind. Während die Kirche die Freude über diese Errungenschaft mit allen Menschen guten Willens, mit allen Menschen, die die Gerechtigkeit und den Frieden wirklich lieben, teilt, muß sie im Bewußtsein, daß der »Buchstabe« allein töten kann, während nur »der Geist lebendig macht«, 112 zusammen mit diesen Menschen guten Willens ständig fragen, ob die Erklärung der Menschenrechte und die Annahme ihres »Buchstabens« überall auch die Verwirklichung ihres »Geistes« bedeuten. Es erheben sich nämlich begründete Befürchtungen, daß wir sehr oft noch ziemlich fern von dieser Verwirklichung sind und der Geist des sozialen und öffentlichen Lebens mitunter in einem schmerzlichen Gegensatz zum erklärten »Buchstaben« der Menschenrechte steht. Ein solcher Stand der Dinge, der für die betroffenen Gesellschaften eine Last ist, müßte diejenigen, die ihn mitverursacht haben, gegenüber diesen Gesellschaften und der Geschichte des Menschen in besonderer Weise verantwortlich machen.

Das Wesen des Staates als politischer Gemeinschaft besteht darin, daß die Gesellschaft, die ihn bildet, das Volk, Herr seines eigenen Geschickes ist. Dieser Sinn wird nicht verwirklicht, wo wir anstelle der Machtausübung mit moralischer Beteiligung der Gesellschaft oder des Volkes sehen, daß die Macht von einer bestimmten Gruppe allen anderen Gliedern dieser Gesellschaft aufgezwungen wird. Dies sind wesentliche Dinge in unserer Epoche, in der das soziale Bewußtsein der Menschen und damit verbunden auch das Verlangen nach einer richtigen Beteiligung der Bürger am politischen Leben der Gemeinschaft enorm gewachsen sind, 113 wenn auch für die Art dieser Beteiligung die realen Möglichkeiten eines jeden Volkes sowie die Notwendigkeit einer festen staatlichen Autorität berücksichtigt werden müssen. Dies sind somit unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Fortschritts des Menschen und der gesamtheitlichen Entwicklung seines Menschseins Probleme von erstrangiger Bedeutung.

Die Kirche hat stets gelehrt, daß es Pflicht ist, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, und hat dadurch auch für jeden Staat gute Bürger erzogen. Sie hat ferner immer gelehrt, daß es die grundlegende Verpflichtung der staatlichen Autorität ist, für das Gemeinwohl der Gesellschaft Sorge zu tragen; hiervon leiten sich ihre Grundrechte ab. Gerade wegen dieser Voraussetzungen, die der objektiven ethischen Ordnung angehören, können die Rechte der staatlichen Gewalt nicht anders verstanden werden als auf der Grundlage der Achtung der objektiven und unverletzlichen Menschenrechte. Jenes Gemeinwohl, dem die Autorität im Staate dient, ist nur dann voll verwirklicht, wenn alle Bürger ihrer Rechte sicher sind. Andernfalls endet man beim Zusammenbruch der Gesellschaft, gelangt man zum Widerstand der Bürger gegen die Autorität oder zu einem Zustand der Unterdrückung, der Einschüchterung, der Gewalt, des Terrors, wovon uns die Totalitarismen unseres Jahrhunderts zahlreiche Beispiele gegeben haben. Auf diese Weise berührt das Prinzip der Menschenrechte zutiefst den Bereich der sozialen Gerechtigkeit und wird zum Maßstab für ihre grundlegende Überprüfung im Leben der politischen Institutionen.

Zu diesen Rechten zählt man berechtigterweise auch das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit. Das II. Vatikanische Konzil hat es als besonders notwendig erachtet, zu diesem Thema eine ausführliche Erklärung zu erarbeiten. Gemeint ist das Dokument Dignitatis humana, 114 in dem nicht nur die theologische Konzeption des Problems ausgedrückt worden ist, sondern dieses auch unter dem Aspekt des Naturrechts erörtert wird, das heißt vom »rein menschlichen« Standpunkt aus, von jenen Voraussetzungen her, die von der Erfahrung des Menschen, von seiner Vernunft und vom Sinn der Menschenwürde gefordert sind. Die Einschränkung der religiösen Freiheit von Personen und Gemeinschaften ist gewiß nicht nur eine schmerzliche Erfahrung, sondern trifft vor allem auch die Würde des Menschen unabhängig von der Religion, die einer bekennt, oder vom Weltverständnis, das er hat. Die Beschränkung der Religionsfreiheit und deren Verletzung stehen im Gegensatz zur Würde des Menschen und zu seinen objektiven Rechten. Das obengenannte Konzilsdokument sagt hinreichend deutlich, was eine solche Beschränkung der Religionsfreiheit bedeutet. Zweifellos stehen wir hier vor einer tiefgreifenden Ungerechtigkeit gegenüber allem, was den Menschen in seiner Tiefe betrifft, was wesentlich menschlich ist. Denn sogar das Phänomen der Ungläubigkeit, der Religionslosigkeit und des Atheismus versteht man als menschliches Phänomen nur in Bezug zum Phänomen der Religion und des Glaubens. Es ist deshalb schwierig, auch schon vom »rein menschlichen« Gesichtspunkt her eine Position hinzunehmen, nach der nur der Atheismus das Bürgerrecht im öffentlichen und sozialen Leben besitzt, während die gläubigen Menschen fast aus Prinzip kaum geduldet oder als Bürger zweiter Klasse behandelt werden oder sogar - was auch schon geschehen ist - der Bürgerrechte völlig beraubt sind.

Auch dieses Thema mußte hier, wenn auch nur kurz, behandelt werden, weil es zur Gesamtsituation des Menschen in der heutigen Welt gehört, weil es bezeugt, wie sehr diese Situation durch Vorurteile und verschiedenartigste Ungerechtigkeiten belastet ist. Wenn wir davon absehen, auf Einzelheiten in diesem Bereich einzugehen, für den wir ein besonderes Recht und eine besondere Pflicht haben, so geschieht das vor allem deshalb, weil wir zusammen mit allen, die Qualen der Diskriminierung und der Verfolgung um des Namens Gottes willen erdulden, vom Glauben an die erlösende Kraft des Kreuzes geleitet werden. Dennoch möchte ich mich kraft meines Amtes im Namen aller Gläubigen der ganzen Welt an diejenigen wenden, von denen in irgendeiner Weise die Gestaltung des sozialen und öffentlichen Lebens abhängt. Wir fordern von ihnen dringend die Achtung der Rechte der Religion und des Wirkens der Kirche. Wir beanspruchen kein Privileg, sondern die Achtung eines elementaren Rechtes. Die Verwirklichung dieses Rechtes ist eine der grundlegenden Proben für den wahren Fortschritt des Menschen in einem jeden Regime, in jeder Gesellschaft, in jedem System und in jeder Lage.

IV. DIE SENDUNG DER KIRCHE UND DAS SCHICKSAL DES MENSCHEN

 

18. Die Kirche in ihrer Sorge um die Berufung des Menschen in Christus

Dieser notwendig summarische Blick auf die Situation des Menschen in der Welt von heute läßt uns Herzen und Gedanken noch mehr auf Jesus Christus, auf das Geheimnis der Erlösung richten, dem das Problem des Menschen mit der starken Kraft der Wahrheit und Liebe eingeprägt ist. Wenn Christus »sich gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt hat«, 115 so lebt auch die Kirche, indem sie mit ihrer reichen und universalen Sprache bis in das Innerste dieses Geheimnisses vordringt, noch tiefer ihre eigene Natur und Sendung. Nicht umsonst spricht der Apostel Paulus vom Leib Christi, der die Kirche ist. 116 Wenn nun dieser mystische Leib Christi das Volk Gottes ist - wie daraufhin das II. Vatikanische Konzil gestützt auf die ganze biblische und patristische Tradition sagen wird -, so heißt das, daß jeder Mensch in ihm durchdrungen ist von jenem Lebenshauch, der von Christus kommt. Auf diese Weise bewirkt auch die Hinwendung zum Menschen, zu seinen konkreten Problemen, zu seinen erfüllten und zerschlagenen Hoffnungen und Leiden, daß die Kirche selbst als Leib, als Organismus, als soziale Einheit, die gleichen göttlichen Impulse, die Eingebungen und Kräfte des Geistes wahrnimmt, die vom gekreuzigten und auferstandenen Christus herkommen; und gerade dafür lebt und wirkt sie. Die Kirche hat kein anderes Leben außer jenem, das ihr von ihrem Bräutigam und Herrn geschenkt wird. In der Tat, weil Christus in seinem Geheimnis der Erlösung sich mit ihr vereint hat, muß auch die Kirche mit jedem Menschen eng verbunden sein.

Diese Vereinigung Christi mit dem Menschen ist in sich selbst ein Geheimnis, aus dem der »neue Mensch« hervorgeht, berufen zur Teilnahme am Leben Gottes, 117 neugeschaffen in Christus zur Fülle der Gnade und Wahrheit. 118 Die Einheit Christi mit dem Menschen ist Kraft und zugleich Quelle der Kraft, nach dem markanten Wort des hl. Johannes im Prolog seines Evangeliums: »Das Wort gab Macht, Kinder Gottes zu werden«. 119 Sie ist die Kraft, die den Menschen innerlich umgestaltet, das Prinzip eines neuen Lebens, das nicht dahinschwindet und vergeht, sondern Dauer hat für das ewige Leben. 120 Dieses Leben, einem jeden Menschen zugesagt und vom Vater angeboten in Jesus Christus, dem ewigen und eingeborenen Sohn, der in der Fülle der Zeit 121 Fleisch geworden und geboren ist aus der Jungfrau Maria, ist die endgültige Erfüllung der Berufung des Menschen. Es ist in gewisser Weise Erfüllung jenes »Schicksals«, das ihm Gott von Ewigkeit her bereitet hat. Dieses »göttliche Schicksal« geht weiter, über alle Rätsel, unbekannte Größen, Umwege und Windungen des »menschlichen Schicksals« in der zeitlichen Welt hinaus. Wenn nämlich all dies, auch bei allem Reichtum des zeitlichen Lebens, mit unvermeidbarer Notwendigkeit an die Grenze des Todes und in die Nähe der Auflösung unseres Leibes führt, dann erscheint uns Christus jenseits dieser Grenze: »Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben«. 122 In Jesus Christus, der gekreuzigt und begraben wurde und wieder auferstanden ist, »erstrahlt uns die Hoffnung, daß wir zur Seligkeit auferstehn..., die Verheißung der künftigen Unsterblichkeit«, 123 auf die der Mensch durch den Tod des Leibes zugeht, da er mit der ganzen sichtbaren Schöpfung demselben Zwang unterliegt, dem die Materie unterworfen ist. Wir beabsichtigen und versuchen, den Aussagegehalt jener Wahrheit immer mehr zu vertiefen, die der Erlöser des Menschen in dem Satz ausgedrückt hat: »Der Geist ist es, der Leben schafft, das Fleisch nützt nichts«. 124 Diese Worte drücken entgegen allem Anschein die höchste Bejahung des Menschen aus: die Bejahung des Leibes, den der Geist lebendig macht!

Die Kirche lebt diese Wirklichkeit, sie lebt aus dieser Wahrheit über den Menschen, die ihr erlaubt, die Grenzen der Zeitlichkeit zu überschreiten und gleichzeitig mit besonderer Liebe und Sorge an all das zu denken, was in den Dimensionen dieser Zeitlichkeit das Leben des Menschen und des menschlichen Geistes entscheidend prägt, in dem sich nach den Worten des hl. Augustinus jene immerwährende Unruhe bekundet: »Du hast uns, o Herr, für dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir«. 125 In dieser schöpferischen Unruhe schlägt und pulsiert das, was zutiefst menschlich ist: die Suche nach der Wahrheit, der unstillbare Durst nach dem Guten, der Hunger nach Freiheit, die Sehnsucht nach dem Schönen, die Stimme des Gewissens. Die Kirche, die versucht, den Menschen gleichsam mit »den Augen Christi selbst« zu betrachten, wird sich immer mehr bewußt, die Hüterin eines großen Schatzes zu sein, den sie nicht vergeuden darf, sondern vielmehr ständig mehren muß. In der Tat hat Christus gesagt: »Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut«. 126 Dieser Schatz der Menschheit, der durch das unausprechliche Geheimnis der Gotteskindschaft, 127 der gnadenhaften Annahme an Kindes Statt 128 im eingeborenen Sohn Gottes noch reicher geworden ist, durch dessen Vermittlung wir zu Gott »Abba, Vater« 129 sagen, ist zugleich eine gewaltige Kraft, die die Kirche vor allem von innen her eint und ihrer ganzen Tätigkeit Sinn verleiht. Durch diese Kraft vereint sich die Kirche mit dem Geist Christi, mit jenem Heiligen Geist, den der Erlöser versprochen hatte, der sich beständig mitteilt und dessen Herabkunft am Pfingstfest offenbar geworden ist und für immer fortdauert. So offenbaren sich in den Menschen die Kräfte des Geistes, 130 die Gaben des Geistes, 131 die Früchte des Heiligen Geistes. 132 Die Kirche unserer Zeit scheint mit immer größerem Eifer inständig und beharrlich zu wiederholen: »Komm, Heiliger Geist!« Komm! Komm! »Was befleckt ist, wasche rein! Dürrem gieße Leben ein! Heile du, wo Krankheit quält! Löse, was in sich erstarrt! Wärme du, was kalt und hart! Lenke, was den Weg verfehlt!«. 133

Dieses inständige Gebet zum Geist und um den Geist zu empfangen, ist die Antwort auf alle »Materialismen« unserer Epoche. Sie sind es ja, die so viele Formen unstillbarer Sehnsucht in unserem Herzen hervorrufen. Diesen Gebetsruf kann man an verschiedenen Stellen hören, und es scheint, daß er auch auf verschiedene Weise Frucht bringt. Kann man also sagen, daß die Kirche mit diesem Gebet nicht allein ist? Ja, das kann man, weil »das Bedürfnis« nach dem Spirituellen auch bei Personen Ausdruck findet, die außerhalb der sichtbaren Grenzen der Kirche stehen. 134 Wird dies nicht auch von jener Wahrheit über die Kirche bestätigt, die vom letzten Konzil in der Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium mit solcher Klarheit hervorgehoben wurde, indem es lehrt, daß die Kirche »gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit« ist? 135 Diese Anrufung des Geistes und im Geist ist nichts anderes als ein beständiges Sichvertiefen in die volle Dimension des Geheimnisses der Erlösung, in der Christus, vereint mit dem Vater und mit jedem Menschen, uns ständig jenen Geist mitteilt, der in uns das Bewußtsein von Söhnen erzeugt und uns zum Vater hinlenkt. 136 Deswegen muß sich die Kirche unserer Zeit - einer Zeit, die besonders nach dem Geist hungert, weil sie hungert nach Gerechtigkeit und Frieden, nach Liebe und Güte, nach Starkmut und Verantwortung, nach Menschenwürde - auf jenes Geheimnis konzentrieren und sich in ihm versammeln, damit sie darin das Licht und die unentbehrliche Kraft für die eigene Sendung empfängt. Wenn der Mensch - wie schon früher gesagt worden ist - wirklich der Weg des täglichen Lebens der Kirche ist, dann muß diese sich der Würde der Gotteskindschaft, die der Mensch in Christus durch die Gnade des Heiligen Geistes 137 erhält, und seiner Bestimmung zur Gnade und zur Herrlichkeit immer bewußt sein. 138 Indem die Kirche all dies immer neu bedenkt und es sich mit immer bewußterem Glauben und mit immer stärkerer Liebe zu eigen macht, wird sie gleichzeitig fähiger für jenen Dienst am Menschen, zu dem Christus, der Herr, sie beruft, wenn er sagt: »Der Menschensohn... ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen«. 139 Die Kirche verwirklicht diesen Auftrag, indem sie teilnimmt »am dreifachen Amt«, das ihr Meister und Erlöser selbst innehat. Diese Lehre, zusammen mit ihrer biblischen Begründung, ist vom II. Vatikanischen Konzil zum großen Nutzen für das Leben der Kirche wieder leuchtend herausgestellt worden. Denn wenn wir uns der Teilnahme und der dreifachen Sendung Christi, an seinem dreifachen Amt - dem Priester-, Propheten- und Königsamt 140 - bewußt werden, verstehen wir gleichzeitig besser, welches der Dienst der ganzen Kirche als Gesellschaft und Gemeinschaft des Volkes Gottes auf Erden ist, und verstehen ebenfalls, worin die Teilnahme eines jeden von uns an dieser Sendung und an diesem Dienst bestehen muß.

19. Die Verantwortung der Kirche für die Wahrheit

Im Licht der feierlich verkündeten Lehre des II. Vatikanischen Konzils steht uns die Kirche als die Gemeinschaft vor Augen, die für die göttliche Wahrheit verantwortlich ist. In tiefer Ergriffenheit hören wir Christus selbst sprechen: »Das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat«. 141 Wird uns nicht in dieser Aussage unseres Herrn die Verantwortung für die geoffenbarte Wahrheit deutlich, die ja Gottes persönliches »Eigentum« ist, wenn selbst er, »der eingeborene Sohn«, der »am Herzen des Vaters ruht«, 142 es für notwendig hält zu betonen, daß er in vollkommener Treue zu seinem göttlichen Ursprung handelt, wenn er diese Wahrheit als Prophet und Meister weitergibt? Die gleiche Treue muß ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens der Kirche sein, wenn sie ihn lehrt oder verkündet. Der Glaube, der als eine besondere übernatürliche Tugend dem menschlichen Geist eingegossen ist, läßt uns am Erkennen Gottes teilhaben, wenn wir auf sein geoffenbartes Wort antworten. Darum muß die Kirche, wenn sie den Glauben bekennt und lehrt, sich eng an die göttliche Wahrheit anschließen 143 und sie als den ihr angemessenen Gottesdienst 144 in ihrem Leben ausprägen. Um diese Treue zur göttlichen Wahrheit zu gewährleisten, hat Christus der Kirche den besonderen Beistand des Geistes der Wahrheit verheißen. Er hat jenen die Gabe der Unfehlbarkeit 145 verliehen, die den Auftrag haben, diese Wahrheiten zu verbreiten und zu lehren, 146 wie es schon das I. Vatikanische Konzil 147 klar definiert und dann das II. Vatikanische Konzil 148 wiederholt hat. Das ganze Volk Gottes hat er außerdem mit einem besonderen Glaubenssinn 149 ausgestattet.

So sind wir also Teilhaber an dieser prophetischen Sendung Christi geworden, und aus der Kraft der gleichen Sendung dienen wir zusammen mit ihm der göttlichen Wahrheit in der Kirche. Die Verantwortung für eine solche Wahrheit bedeutet auch, sie zu lieben und möglichst genau zu verstehen zu suchen, damit sie uns selbst und den anderen in all ihrer erlösenden Kraft, in ihrem hellen Glanz, in ihrer Tiefe und zugleich Einfachheit immer vertrauter wird. Diese Liebe und das Verlangen, die Wahrheit besser zu verstehen, müssen zusammengehen, wie die Lebensgeschichten der Heiligen in der Kirche bestätigen. Das wahre Licht, das die göttliche Wahrheit erhellt und uns so die Wirklichkeit Gottes selbst näherbringt, hat immer diejenigen am meisten erleuchtet, die in Ehrfurcht und Liebe dieser Wahrheit begegnet sind: Liebe vor allem zu Christus, dem lebendigen Wort der göttlichen Wahrheit, und dann Liebe zu dessen menschlichem Ausdruck im Evangelium, in der Tradition und in der Theologie. Auch heute brauchen wir vor allem anderen ein solches Verständnis und eine solche Auslegung des Wortes Gottes sowie eine solche Theologie. Die Theologie ist heute, genau so wie früher, sehr wichtig dafür, daß die Kirche, das Volk Gottes, in kreativer und fruchtbarer Weise an der prophetischen Sendung Christi teilnehmen kann. Darum dürfen die Theologen, wenn sie als Diener an der göttlichen Wahrheit sich in ihren Studien und Arbeiten einem immer tiefer eindringenden Verständnis widmen, niemals die Bedeutung ihres Dienstes in der Kirche aus den Augen verlieren, wie sie in dem Begriff »intellectus fidei« (= »verstehender Glaube«) enthalten ist. Dieser Doppelbegriff gilt in zweifacher Richtung nach der Formel »intellege, ut credas - crede, ut intellegas« (= »verstehe, um zu glauben - glaube, um zu verstehen«) 150 und kommt dort voll zum Tragen, wo man dem Lehramt, das in der Kirche den Bischöfen anvertraut ist, die ihrerseits mit dem Nachfolger des Petrus in hierarchischer Einheit verbunden sind, zu dienen sucht und sich ihrer Sorge für die Verkündigung und Pastoral sowie den apostolischen Initiativen des ganzen Gottesvolkes zur Verfügung stellt.

Wie in früheren Epochen so sind auch heute - und heute vielleicht noch dringender - die Theologen und alle Wissenschaftler in der Kirche aufgerufen, den Glauben mit ihrem Wissen und inrer Weisheit zu verbinden, damit diese sich gegenseitig durchdringen können, wie wir es in der Oration zum Fest des hl. Kirchenlehrers Albert lesen. Diese Aufgabe hat sich heute durch den Fortschritt der Wissenschaft, ihrer Methoden und Resultate in der Kenntnis der Welt und des Menschen enorm erweitert. Das betrifft die Naturwissenschaften ebenso wie die Geisteswissenschaften und auch die Philosophie, deren enge Verbindung mit der Theologie das II. Vatikanische Konzil in Erinnerung gerufen hat. 151

In diesem Bereich menschlichen Wissens, der sich fortwährend ausweitet und auffächert, muß sich auch der Glaube beständig vertiefen, indem er auf die Dimension des geoffenbarten Geheimnisses hinweist und sich um das Verständnis der Wahrheit bemüht, die in Gott ihre einzige und höchste Quelle hat. Wenn es auch erlaubt ist - und man sollte es sogar wünschen -, daß bei der Durchführung dieses weiten Arbeitsauftrages eine gewisse Vielfalt an Methoden in Betracht kommt, so darf sich doch diese Tätigkeit nicht von der fundamentalen Einheit in der Verkündigung des Glaubens und der Moral als einem Ziel, das ihr wesentlich ist, entfernen. Darum ist eine enge Zusammenarbeit der Theologie mit dem Lehramt unentbehrlich. Jeder Theologe muß sich in besonderer Weise dessen bewußt sein, was Christus selbst gemeint hat, wenn er sagte: »Das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat«. 152 Niemand darf deshalb aus der Theologie so etwas machen wie eine einfache Sammlung von eigenen persönlichen Auffassungen; sondern jeder muß darauf bedacht sein, in enger Verbindung zu bleiben mit dem Sendungsauftrag, die Wahrheit zu lehren, für die die Kirche verantwortlich ist.

Die Teilnahme am prophetischen Amt Christi formt das Leben der ganzen Kirche von Grund auf. Einen besonderen Anteil an diesem Auftrag haben die Hirten der Kirche, die in die Wahrheit Christi einführen und in beständiger, vielfältiger Weise die Lehre des Glaubens und der christlichen Moral verkündigen und ausbreiten. Diese Glaubensunterweisung - sei es in der Mission sei es unter den Christen selbst - trägt dazu bei, daß das Volk Gottes sich um Christus versammelt; sie bereitet auf die Teilnahme an der Eucharistie vor und gibt die Wege für ein Leben aus der Kraft des Sakramentes an. Die Bischofssynode vom Jahre 1977 hat ihre besondere Aufmerksamkeit der Katechese in der heutigen Welt gewidmet, und die reife Frucht ihrer Beratungen, Erfahrungen und Anregungen wird bald - einem Vorschlag der Teilnehmer der Synode entsprechend - in einem eigenen päpstlichen Dokument erscheinen. Die Katechese ist sicherlich eine dauerhafte und grundlegende Form des Wirkens der Kirche; hierin zeigt sich ihr prophetisches Charisma: Glaubenszeugnis und Unterweisung gehören zusammen. Wenn es hierbei auch in erster Linie um die Priester geht, dürfen wir doch in keiner Weise die große Zahl von Ordensleuten übersehen, die aus Liebe zu Christus in der Katechese tätig sind. Ebenso müssen wir schließlich die zahlreichen Laien erwähnen, die durch solche Tätigkeit den Glauben und ihre apostolische Verantwortung konkret leben.

Wir müssen außerdem dafür Sorge tragen, daß die verschiedenen Formen der Katechese in ihren vielfältigen Bereichen - angefangen bei jener grundlegenden Form, die die Katechese in der Familie darstellt, das heißt die Katechese der Eltern für ihre eigenen Kinder - die breite Teilnahme des ganzen Gottesvolkes am prophetischen Amt Christi aufweisen. So muß, hiermit verbunden, die Verantwortung der Kirche für die göttliche Wahrheit immer mehr und in unterschiedlicher Weise von allen geteilt werden. Wir denken dabei auch an die Fachleute der verschiedenen Disziplinen, an die Vertreter der Natur- und Geisteswissenschaften, an die Ärzte, die Juristen, die Künstler, die Ingenieure, an die Lehrer der verschiedenen Grade und Spezialisierungen. Sie alle haben als Mitglieder des Volkes Gottes ihren eigenen Anteil an der prophetischen Sendung Christi, an seinem Dienst für die göttliche Wahrheit. Das gilt schon für ihre lautere Einstellung zu jeglicher Wahrheit und immer dann, wenn sie andere zur Wahrheit erziehen und sie lehren, in der Liebe und Gerechtigkeit zu reifen. So stellt das Verantwortungsbewußtsein für die Wahrheit eine der wichtigsten Stellen dar, wo die Kirche jedem Menschen begegnen kann, und ist zugleich eine wesentliche Anforderung, die die Berufung des Menschen in der Gemeinschaft der Kirche bestimmt. Angeleitet vom Bewußtsein, für die Wahrheit verantwortlich zu sein, muß die Kirche unserer Tage ihrer eigenen Natur treu bleiben, zu der die prophetische Sendung gehört, die von Christus selbst herstammt: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.... Empfangt den Heiligen Geist«. 153

20. Eucharistie und Buße

Im Geheimnis der Erlösung, das heißt im Heilswerk, das Christus wirkt, hat die Kirche Anteil an der Frohen Botschaft ihres Meisters; nicht nur durch ihr treues Hören auf sein Wort und durch die Verkündigung dieser Wahrheit, sondern gleichermaßen auch durch einen Akt gläubiger Hingabe in Liebe erfährt sie die Kraft seines erlösenden Wirkens, das er in die Zeichen der Sakramente, vor allem in die hl. Eucharistie, 154 hineingelegt hat. Diese ist die Mitte und der Gipfel von allem sakramentalen Leben, durch das jeder Christ die heilende Kraft der Erlösung empfängt, beginnend beim Geheimnis der Taufe, das uns eintauchen läßt in den Tod Christi, um uns dann auch an seiner Auferstehung teilnehmen zu lassen, 155 wie der Apostel Paulus uns lehrt. Im Licht dieser Lehre wird es noch klarer, warum das ganze sakramentale Leben der Kirche und eines jeden Christen seinen Höhepunkt und seine Fülle gerade in der Eucharistie erreicht. In diesem Sakrament erneuert sich ja fortwährend nach dem Willen Christi das Geheimnis des Opfers, das er selbst durch seine Hingabe auf dem Altar des Kreuzes dem Vater dargebracht hat: ein Opfer, das der Vater angenommen hat, indem er für diese Ganzhingabe seines Sohnes, der »gehorsam wurde bis zum Tod«, 156 die ihm als Vater eigene Gabe schenkte, ein neues, ewiges Leben in der Auferstehung; denn der Vater ist die erste Quelle und der Spender des Lebens von Anbeginn. Dieses neue Leben, das auch die leibliche Verherrlichung Christi, des Gekreuzigten, umfaßt, ist wirkkräftiges Zeichen der neuen Gabe geworden, die der Menschheit zuteil geworden ist, der Gabe des Heiligen Geistes, durch den das göttliche Leben, das der Vater in sich hat und seinem Sohne gibt, 157 an alle Menschen weitergegeben wird, die mit Christus vereint sind.

Die Eucharistie ist das vollkommenste Sakrament für diese Einheit. Indem wir die Eucharistie feiern und uns in sie aufnehmen lassen, gelangen wir zur Einheit mit dem irdischen und dem verherrlichten Christus, unserem Fürsprecher beim Vater; 158 diese Einheit aber kommt immer durch den erlösenden Akt seines Opfers zustande, durch den er uns befreit hat, indem er uns »für ein teures Lösegeld freigekauft« hat. 159 Der »hohe Preis« unserer Erlösung beweist zugleich den Wert, den Gott selbst dem Menschen beimißt, beweist unsere Würde in Christus. Dadurch daß wir »Kinder Gottes« 160 werden, »an Sohnes Statt angenommen«, 161 werden wir zugleich, ähnlich wie er, zu »Königen und Priestern«, erhalten wir das »königliche Priestertum«, 162 das heißt, wir nehmen teil an jener einzigartigen bleibenden Übergabe des Menschen und der Welt an den Vater, die er, der Sohn von Ewigkeit her 163 und zugleich wahrer Mensch, ein für allemal vollzogen hat. Die Eucharistie ist das Sakrament, in dem sich in vollendeter Weise unser neues Sein ausdrückt: Christus selbst legt hierin fortwährend und immer wieder neu im Heiligen Geist Zeugnis ab für unseren Geist, 164 daß jeder von uns durch die Teilnahme am Geheimnis der Erlösung Zugang hat zu den Früchten der Versöhnung mit Gott, 165 dem Vater, die der Sohn selbst durch den Dienst der Kirche gewirkt hat und immer wieder unter uns wirkt.

Es ist eine grundlegende Wahrheit, nicht nur lehrmäßiger, sondern auch existentieller Natur, daß die Eucharistie die Kirche aufbaut; 166 sie baut diese auf als die wahre Gemeinschaft des Volkes Gottes, als Versammlung der Gläubigen, die von demselben Merkmal der Einheit gekennzeichnet ist, das schon die Apostel und ersten Jünger des Herrn ausgezeichnet hat. Die Eucharistie baut immer wieder neu diese Gemeinschaft und Einheit auf; sie baut diese stets auf und erneuert sie in der Kraft des Opfers Christi, weil sie seines Todes am Kreuze gedenkt, 167 durch dessen Preis wir von ihm erlöst worden sind. Wir rühren deshalb in der Eucharistie in gewisser Weise an das Geheimnis selbst des Leibes und Blutes des Herrn, wie es die Worte im Augenblick der Einsetzung bezeugen, kraft deren sie auf immer die Worte der Eucharistiefeier für jene geworden sind, die zu diesem Geheimnis in der Kirche berufen sind.

Die Kirche lebt von der Eucharistie, lebt aus der Fülle dieses Sakramentes, dessen wunderbarer Gehalt und Sinn in den Verlautbarungen des Lehramtes der Kirche seit den ältesten Zeiten bis in unsere Tage oft dargestellt worden sind. 168 Dennoch können wir mit Sicherheit sagen, daß diese Lehre - die von den tiefsinnigen Theologen, von Männern tiefen Glaubens und des Gebetes, von Asketen und Mystikern in ihrer Treue zum eucharistischen Geheimnis stets bekannt worden ist - fast immer nur an der Schwelle stehenbleibt, da sie das, was die Eucharistie in ihrer ganzen Fülle ist und bezeichnet und was in ihr geschieht, nicht in Worten auszudrücken vermag. Sie ist in der Tat ein unaussprechliches Sakrament! Die entscheidende Pflicht und vor allem die sichtbare Gnade und Quelle der übernatürlichen Kraft der Kirche als Volk Gottes bestehen darin, im eucharistischen Leben und in der eucharistischen Frömmigkeit stets zu verharren und fortzuscheiten und sich selbst unter dem Einfluß der Eucharistie geistlich zu entfalten. Gerade darum dürfen wir diesem wahrhaft allerheiligsten Sakrament nicht durch die Art und Weise unseres Denkens, Lebens und Handelns seine volle Dimension und seine wesentliche Bedeutung nehmen. Dieses Sakrament ist zugleich Opfer, Kommunion und Gegenwart. Obgleich es richtig ist, daß die Eucharistie immer die tiefste Offenbarung und Feier der menschlichen Brüderlichkeit unter den Jüngern und Zeugen Christi gewesen ist und noch weiter sein muß, darf sie nicht nur als eine »Gelegenheit« benutzt werden, um diese Brüderlichkeit zu bekunden. In der Feier des Sakramentes des Leibes und Blutes des Herrn muß man die volle Dimension des göttlichen Geheimnisses und den vollen Sinn dieses sakramentalen Zeichens beachten, bei dem der wahrhaft gegenwärtige Christus empfangen, die Seele mit Gnaden beschenkt und ein Unterpfand der künftigen Herrlichkeit gegeben wird. 169 Daraus ergibt sich die Pflicht einer gewissenhaften Beobachtung der liturgischen Normen und alles dessen, was den gemeinschaftlichen Gottesdienst bezeugt, der Gott selbst dargebracht wird; und das um so mehr, weil er sich unter diesem sakramentalen Zeichen mit grenzenlosem Vertrauen uns überantwortet, als ob er unserer menschlichen Schwäche und Unwürdigkeit, den Gewohnheiten, der »Routine« oder sogar der Möglichkeit von Beleidigungen keine Beachtung schenke. In der Kirche müssen alle, besonders aber die Bischöfe und Priester, darüber wachen, daß dieses Sakrament der Liebe den Mittelpunkt im Leben des Gottesvolkes bildet, auf daß durch alle Ausdrucksformen des geschuldeten Kultes Christus »Liebe für Liebe« erwiesen wird und er wirklich das »Leben unserer Seele« 170 wird. Auf der anderen Seite können wir niemals die folgenden Worte des hl. Paulus vergessen: »Jeder soll sich selbst prüfen, und dann soll er von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken«. 171

Diese Einladung des Apostels zeigt, zumindest indirekt, das enge Band zwischen der Eucharistie und der Buße. Wenn nämlich das erste Wort in der Verkündigung Christi, der erste Satz der Frohen Botschaft des Evangeliums gewesen ist: »Bekehret euch und glaubt an das Evangelium« (metanoeite), 172 so scheint das Sakrament des Leidens, des Kreuzes und der Auferstehung diese Einladung in unseren Seelen auf ganz besondere Weise zu verstärken und zu festigen. Die Eucharistie und die Buße werden so in gewissem Sinn eine zweifache und zugleich innerlich verbundene Dimension des authentischen Lebens im Geist des Evangeliums, des wahrhaft christlichen Lebens. Christus, der zum eucharistischen Mahl einlädt, ist stets derselbe Christus, der zur Buße ermahnt, der das »Bekehret euch« 173 wiederholt. Ohne diese ständigen und immer wieder neuen Bemühungen um die Bekehrung wäre die Teilnahme an der Eucharistie der vollen erlösenden Wirklichkeit beraubt, würde sie herabgemindert oder in ihr allgemein jene besondere Fähigkeit geschwächt, Gott das geistige Opfer darzubringen, 174 in dem sich auf grundlegende und umfassende Weise unsere Teilnahme am Priestertum Christi ausdrückt. In Christus ist das Priestertum nämlich verbunden mit dem eigenen Opfer, mit seiner Hingabe an den Vater. Diese Hingabe ruft, da sie unbegrenzt ist, in uns Menschen, die wir vielfältigen Begrenzungen unterliegen, das Bedürfnis wach, uns in immer reiferer Form und durch eine beständige und immer tiefere Bekehrung zu Gott hinzuwenden.

In den letzten Jahren ist viel unternommen worden, um - im Einklang übrigens mit der ältesten Tradition der Kirche - den gemeinschaftlichen Aspekt der Buße und vor allem des Bußsakramentes im praktischen Leben der Kirche gebührend herauszustellen. Diese Initiativen sind nützlich und werden gewiß zur Bereicherung der Bußpraxis in der Kirche von heute beitragen. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß die Bekehrung ein innerer Akt von besonderer Tiefe ist, bei dem der Mensch nicht durch andere ersetzt werden kann noch sich durch die Gemeinschaft »vertreten« lassen kann. Wenn auch die brüderliche Ge meinschaft der Gläubigen, die an der Bußfeier teilnehmen, für den Akt der persönlichen Bekehrung von großem Nutzen ist, muß sich schließlich doch der einzelne selbst in diesem Akt äußern mit der ganzen Tiefe seines Bewußtseins, in voller Einsicht seiner Schuld und mit Gottvertrauen, indem er wie der Psalmist vor Gott hintritt, um zu bekennen: »Gegen dich habe ich gesündigt«. 175 Die Kirche verteidigt also, indem sie die jahrhundertealte Praxis des Bußsakramentes bewahrt - die Praxis der individuellen Beichte in Verbindung mit dem persönlichen Akt der Reue und dem Vorsatz, sich zu bessern und wiedergutzumachen -, das besondere Recht der menschlichen Seele. Es ist das Recht zu einer mehr persönlichen Begegnung des Menschen mit dem gekreuzigten Christus, der verzeiht, mit Christus, der durch den Spender des Sakramentes der Versöhnung sagt: »Deine Sünden sind dir vergeben«; 176 »Geh und sündige von jetzt an nicht mehr«. 177 Offenkundig ist es gleichzeitig auch das Recht Christi selbst hinsichtlich eines jeden Menschen, der von ihm erlöst worden ist. Es ist das Recht, jedem von uns in jenem entscheidenden Augenblick des Lebens der Seele, nämlich dem der Bekehrung und des Verzeihens, zu begegnen. Indem die Kirche das Bußsakrament bewahrt, bekräftigt sie ausdrücklich ihren Glauben an das Geheimnis der Erlösung als eine lebendige und lebenspendende Wirklichkeit, die der inneren Wahrheit des Menschen, der menschlichen Schuld und auch der Sehnsucht des menschlichen Gewissens entspricht. »Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden«. 178 Das Bußsakrament ist das Mittel, um den Menschen mit jener Gerechtigkeit zu sättigen, die vom Erlöser selber kommt.

In der Kirche, die sich besonders in unserer Zeit um die Eucharistie versammelt und dabei wünscht, daß die authentische eucharistische Gemeinschaft zum Zeichen der Gemeinschaft aller Christen wird, einer Einheit, die stufenweise heranreift, muß das Bedürfnis nach Buße lebendig bleiben, sei sie sakramentaler 179 oder mehr asketischer Natur. Dieser zweite Aspekt ist von Paul VI. in der Apostolischen Konstitution Paenitemini 180 dargelegt worden. Eine der Aufgaben der Kirche ist es, die darin enthaltene Lehre in die Praxis umzusetzen. Gewiß muß dieses Thema von uns auch noch in gemeinsamen Überlegungen vertieft und zum Gegenstand vieler weiterer Entscheidungen gemacht werden, die im Geist pastoraler Kollegialität zu treffen sind, wobei man die verschiedenen diesbezüglichen Traditionen und die verschiedenen Lebensverhältnisse der Menschen von heute mitberücksichtigen wird. Dennoch ist sicher, daß die Kirche des neuen Advents, die Kirche, die sich beständig auf die neue Ankunft des Herrn vorbereitet, die Kirche der Eucharistie und der Buße sein muß. Nur unter diesem geistlichen Profil ihrer Lebendigkeit und ihres Handelns ist sie die Kirche der göttlichen Sendung, die Kirche im Zustand der »Mission«, so wie sie uns das II. Vatikanische Konzil dargestellt hat.

21. Die Berufung des Christen: dienen und herrschen

Indem das II. Vatikanische Konzil von den Grundlagen her das Bild von der Kirche als Volk Gottes - durch den Hinweis auf die dreifache Sendung Christi, durch deren Teilnahme wir wirklich Volk Gottes werden - entfaltet hat, hat es dadurch auch jenes besondere Kennenzeichen der christlichen Berufung herausgestellt, das man als »königlich« bezeichnen kann. Um den ganzen Reichtum der Lehre des Konzils darzustellen, müßte man hier auf zahlreiche Kapitel und Abschnitte der Konstitution Lumen Gentium und auf noch viele andere Konzilsdokumente hinweisen. Doch scheint inmitten dieser Fülle ein Element besonders herauszuragen, gemeint ist die Teilnahme an der königlichen Sendung Christi, die Tatsache nämlich, daß wir in uns und in den anderen die besondere Würde unserer Berufung entdecken, die man »Königswürde« nennen könnte. Diese Würde drückt sich aus in der Bereitschaft zum Dienst nach dem Beispiel Christi, der »nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen«. 181 Wenn man also im Licht dieser Haltung Christi nur wirklich »herrschen« kann, indem man »dient«, verlangt »das Dienen« gleichzeitig eine solche geistige Reife, die man geradezu als »herrschen« bezeichnen muß. Um würdig und wirksam den anderen dienen zu können, muß man sich selbst zu beherrschen vermögen, muß man jene Tugenden besitzen, die diese Beherrschung ermöglichen. Unsere Teilnahme an der königlichen Sendung Christi - an seinem »Königsamt« (munus) - ist eng verbunden mit jedem Bereich der christlichen und zugleich menschlichen Moral.

Als das II. Vatikanische Konzil das vollständige Bild des Volkes Gottes dargestellt und daran erinnert hat, welchen Platz darin nicht nur die Priester, sondern auch die Laien, nicht nur die Vertreter der Hierarchie, sondern auch die Mitglieder der Ordensgemeinschaften haben, hat es dieses Bild nicht nur von soziologischen Voraussetzungen abgeleitet. Die Kirche als menschliche Gesellschaft kann natürlich auch nach solchen Kriterien untersucht und bestimmt werden, deren sich die Wissenschaften jeder beliebigen menschlichen Gesellschaft gegenüber bedienen. Doch reichen diese Kriterien nicht aus. Für die Gemeinschaft des Volkes Gottes als ganze und für jedes ihrer Glieder geht es aber nicht nur um eine besondere »soziale Zugehörigkeit«; hier handelt es sich um eine besondere »Berufung«, die für jeden einzelnen und für alle zusammen wesentlich ist. Die Kirche ist nämlich als Volk Gottes - entsprechend der bereits genannten Lehre des hl. Paulus, an die Pius XII. auf wunderbare Weise erinnert hat - auch der »Mystische Leib Christi«. 182 Die Zugehörigkeit zu ihm kommt aus einem besonderen Ruf in Verbindung mit dem Heilswirken der Gnade. Wenn wir also diese Gemeinschaft des Volkes Gottes, die so umfassend und äußerst differenziert ist, vor Augen haben wollen, müssen wir vor allem auf Christus blicken, der in gewisser Weise zu jedem Glied dieser Gemeinschaft sagt: »Folge mir«. 183 Dies ist die Gemeinschaft der Jünger; jeder einzelne von ihnen folgt auf je eigene Weise Christus, mitunter sehr bewußt und kohärent, mitunter wenig aufmerksam und sehr inkonsequent. Darin zeigt sich auch das zutiefst »personale« Profil und die besondere Dimension dieser Gesellschaft, die - trotz aller Mängel des gemeinschaftlichen Lebens im menschlichen Sinn dieses Wortes - gerade dadurch Gemeinschaft ist, daß alle sie mit Christus selbst bilden, wenigstens dadurch, daß sie in ihrer Seele das unauslöschliche Merkmal eines Christen tragen.

Dasselbe Konzil hat besondere Aufmerksamkeit darauf verwandt aufzuzeigen, wie diese »ontologische« Gemeinschaft der Jünger und Gläubigen auch »menschlich« eine Gemeinschaft werden muß, die sich ihres eigenen Lebens und Wirkens bewußt ist. Die entsprechenden Initiativen des Konzils haben in zahlreichen weiteren Initiativen synodaler, apostolischer und organisatorischer Art ihre Fortsetzung gefunden. Wir müssen aber immer der Wahrheit eingedenk sein, daß jede Initiative nur so sehr der echten Erneuerung des Kirche dient und dazu beiträgt, das wahre Licht Christi zu verbreiten, 184 wie sie sich auf das volle Bewußtsein der Berufung und der Verantwortung für diese besondere, einzigartige und unwiederholbare Gnade gründet, durch die jeder Christ in der Gemeinschaft des Volkes Gottes den Leib Christi bildet. Dieses Prinzip, die Grundregel der gesamten christlichen Praxis - der Praxis des Apostolates und der Pastoral, der Praxis des inneren und gesellschaftlichen Lebens -, muß im richtigen Verhältnis auf alle Menschen und auf jeden einzelnen von ihnen angewandt werden. Auch der Papst muß sie wie auch jeder Bischof auf sich anwenden. Diesem Prinzip müssen die Priester, die Ordensmänner und Ordensfrauen treu sein. Auf dieser Grundlage müssen die Brautleute, die Eltern, die Männer und Frauen in den verschiedenen Lebenslagen und Berufen, angefangen von denen, die in der Gesellschaft die höchsten Ämter innehaben bis zu denen, die die einfachsten Arbeiten verrichten, ihr Leben aufbauen. Dies ist gerade das Prinzip jenes »königlichen Dienstes«, der jedem von uns in der Nachfolge Christi die Pflicht auferlegt, von sich selbst genau das zu verlangen, zu dem wir berufen sind, zu dem wir - um auf die Berufung zu antworten - mit Gottes Gnade persönlich verpflichtet sind. Diese Treue zur Berufung, die wir durch Christus von Gott empfangen haben, bringt jene solidarische Verantwortung für die Kirche mit sich, zu der das II. Vatikanische Konzil alle Christen erziehen will. In der Kirche als der Gemeinschaft des Volkes Gottes, das vom Wirken des Heiligen Geistes geleitet wird, hat nämlich jeder »seine eigene Gabe«, wie der hl. Paulus lehrt. 185 Obwohl diese »Gabe« eine persönliche Berufung und Form der Teilnahme am Erlösungswerk der Kirche ist, dient sie gleichermaßen den anderen und baut die Kirche und die brüderlichen Gemeinschaften in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens auf Erden auf.

Die Treue zur Berufung, die beständige Verfügbarkeit für den »königlichen Dienst«, hat eine besondere Bedeutung in diesem vielfältigen Bauwerk, vor allem für die Aufgaben, die den stärksten Einsatz fordern und größeren Einfluß haben auf das Leben unseres Nächsten und der ganzen Gesellschaft. Durch die Treue zur eigenen Berufung müssen sich die Eheleute auszeichnen, wie es sich aus der Unauflöslichkeit der sakramentalen Ehe ergibt. Eine ähnliche Treue zur eigenen Berufung muß die Priester kennzeichnen aufgrund des unauslöschlichen Charakters, den das Sakrament der Weihe ihrem Herzen einprägt. Indem wir dieses Sakrament empfangen, verpflichten wir uns in der lateinischen Kirche bewußt und freiwillig zu einem Leben im Zölibat; deswegen muß jeder von uns mit Hilfe der Gnade Gottes alles, was möglich ist, tun, um für dieses Geschenk dankbar zu sein und dieser für immer übernommenen Bindung treu zu bleiben. Dies ist nicht anders als bei den Eheleuten, die mit all ihren Kräften danach streben müssen, den Ehebund aufrechtzuerhalten, mit diesem Zeugnis der Liebe die Gemeinschaft der Familie zu gründen und neue Generationen von Menschen zu erziehen, die ebenfalls imstande sind, ihr ganzes Leben der eigenen Berufung zu weihen, das heißt jenem »königlichen Dienst«, dessen Beispiel und schönstes Modell uns von Jesus Christus gegeben worden ist. Seine Kirche, die wir alle zusammen bilden, ist »für die Menschen« da in dem Sinne, daß wir, wenn wir uns auf Christi Beispiel 186 stützen und mit der uns von ihm erworbenen Gnade mit arbeiten, jene »Herrschaft« erreichen und so in jedem von uns unser Menschsein voll entfalten können. Menschliche Reife bedeutet den vollen Gebrauch des Geschenkes der Freiheit, das wir vom Schöpfer in dem Augenblick erhalten haben, in dem er den »nach seinem Bild und Gleichnis« erschaffenen Menschen ins Dasein gerufen hat. Dieses Geschenk findet seine volle Entfaltung in der vorbehaltlosen Hingabe der eigenen menschlichen Person an Christus im Geist bräutlicher Liebe und mit Christus an alle, zu denen er Männer und Frauen sendet, die ihm durch die evangelischen Räte ganz geweiht sind. Dies ist gerade das Ideal des Ordenslebens, das von den alten und neuen Orden und Kongregationen sowie von den Säkularinstituten übernommen worden ist.

In unserer Zeit ist man mitunter der irrtümlichen Meinung, daß die Freiheit Selbstzweck sei, daß jeder Mensch dann frei sei, wenn er die Freiheit gebraucht, wie er will, und daß man im Leben der einzelnen und der Gesellschaft nach einer solchen Freiheit streben solle. Die Freiheit ist jedoch nur dann ein großes Geschenk, wenn wir es verstehen, sie bewußt für all das einzusetzen, was das wahre Gute ist. Christus lehrt uns, daß der beste Gebrauch der Freiheit die Liebe ist, die sich in der Hingabe und im Dienst verwirklicht. Zu solcher »Freiheit hat Christus uns befreit« 187 und befreit er uns ständig. Die Kirche schöpft daraus unaufhörlich ihre Anregungen, die Einladung und den Anstoß zu ihrer Sendung und zu ihrem Dienst unter allen Menschen. Die volle Wahrheit über die menschliche Freiheit ist im Geheimnis der Erlösung tief verwurzelt. Die Kirche dient wahrhaft der Menschheit, wenn sie diese Wahrheit mit unermüdlicher Aufmerksamkeit, starker Liebe und verantwortungsbewußtem Einsatz schützt und sie innerhalb der gesamten eigenen Gemeinschaft durch die Treue zur Berufung eines jeden Christen weitervermittelt und im Leben konkretisiert. So wird bestätigt, was schon im Vorhergehenden kurz angesprochen worden ist, daß nämlich der »Weg« des täglichen Lebens der Kirche der Mensch ist und es immer wieder neu wird.

22. Die Mutter unseres Vertrauens

Wenn ich zu Beginn des neuen Pontiflkates meine Gedanken und mein Herz auf den Erlöser der Welt richte, so möchte ich mich auf diese Weise in den tiefsten Rhythmus des Lebens der Kirche einordnen und darin eindringen. Wenn nämlich die Kirche ihr eigenes Leben vollzieht, dann geschieht das, weil sie es aus Christus schöpft, der immer nur das eine will, daß wir das Leben haben und es im Überfluß haben. 188 Die Fülle des Lebens, die in ihm ist, ist für den Menschen bestimmt. Deshalb wird die Kirche, wenn sie sich dem ganzen Reichtum des Geheimnisses der Erlösung öffnet, eine Kirche von lebendigen Menschen; lebendig, weil sie durch das Werk des »Geistes der Wahrheit« 189 von innen belebt und von der Liebe heimgesucht sind, die der Heilige Geist in unsere Herzen eingießt. 190 Das Ziel eines jeden Dienstes in der Kirche, sei er apostolischer, pastoraler, priesterlicher oder bischöflicher Natur, ist es, diese dynamische Verbindung zwischen dem Geheimnis der Erlösung und jedem Menschen aufrechtzuerhalten.

Wenn wir uns dieser Aufgabe bewußt sind, verstehen wir wohl auch besser, was es heißt zu sagen, daß die Kirche Mutter ist, 191 und auch was es heißt, daß die Kirche immer und besonders in unserer Zeit das Bedürfnis nach einer Mutter hat. Einen besonderen Dank schulden wir den Vätern des II. Vatikanischen Konzils, die diese Wahrheit in der Konstitution Lumen Gentium durch die dort enthaltene ausführliche mariologische Lehre entfaltet haben. 192 Da Paul VI., von dieser Lehre inspiriert, die Mutter Christi zur »Mutter der Kirche« 193 proklamiert und diese Bezeichnung eine breite Resonanz gefunden hat, sei es auch seinem unwürdigen Nachfolger erlaubt, sich am Ende der vorliegenden Überlegungen, die sich zur Eröffnung seines päpstlichen Dienstes nahegelegt haben, an Maria als Mutter der Kirche zu wenden. Maria ist die Mutter der Kirche, weil sie kraft unaussprechlicher Erwählung durch den Ewigen Vater selbst 194 und durch das besondere Wirken des Geistes der Liebe 195 das menschliche Leben dem Sohn Gottes gegeben hat, »für den und durch den das All ist« 196 und von dem das ganze Volk Gottes die Gnade und Würde seiner Erwählung empfängt. Der eigene Sohn wollte die Mutterschaft seiner Mutter ausdrücklich in einer für jeden Geist und jedes Herz leicht verständlichen Weise ausweiten, indem er ihr von der Höhe des Kreuzes herab seinen Lieblingsjünger als Sohn anvertraute. 197 Der Heilige Geist gab ihr ein, daß auch sie nach der Himmelfahrt unseres Herrn zusammen mit den Aposteln im Abendmahlssaal in Gebet und Erwartung verharre bis zum Pfingsttag, an dem die Kirche sichtbar geboren werden sollte, indem sie aus dem Dunkel hervortrat. 198 In der Folgezeit nahmen alle Generationen von Jüngern und Gläubigen, die Christus lieben - so wie der Apostel Johannes -, diese Mutter geistigerweise in ihr Haus auf, 199 so daß sie von Anfang an seit dem Augenblick der Verkündigung, in die Heilsgeschichte und in die Sendung der Kirche eingefügt ist. Wir alle also, die wir die heutige Generation der Jünger Christi bilden, wollen uns in besonderer Weise ihr anschließen. Wir tun dies in der völligen Treue zur alten Tradition und gleichzeitig mit liebevollem Respekt vor den Mitgliedern aller christlichen Gemeinschaften.

Wir wissen uns dazu veranlaßt von dem tiefen Bedürfnis des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Wenn wir nämlich in dieser schwierigen und verantwortungsschweren Phase der Geschichte der Kirche und der Menschheit ein besonderes Verlangen verspüren, uns an Christus zu wenden, der Herr seiner Kirche und kraft des Geheimnisses der Erlösung auch Herr der Geschichte des Menschen ist, so glauben wir, daß kein anderer uns besser in die göttliche und menschliche Dimension dieses Geheimnisses einführen kann als Maria. Niemand ist wie Maria von Gott selbst in dieses Geheimnis eingeführt worden. Darin besteht der Ausnahmecharakter der Gnade der göttlichen Mutterschaft. Nicht nur die Würde dieser Mutterschaft ist in der Geschichte des Menschengeschlechtes einzigartig und unwiederholbar; einzigartig an Tiefe und Wirkung ist auch die Teilnahme Mariens aufgrund dieser Mutterschaft im göttlichen Heilsplan für den Menschen durch das Geheimnis der Erlösung.

Dieses Geheimnis hat sich sozusagen unter dem Herzen der Jungfrau von Nazaret gebildet, als sie ihr »Fiat« gesprochen hat. Von jenem Augenblick an folgt dieses jungfräuliche und zugleich mütterliche Herz unter dem besonderen Wirken des Heiligen Geistes immer dem Werk des Sohnes und nähert sich allen, die Christus in seine Arme geschlossen hat und noch ständig in seiner unerschöpflichen Liebe umarmt. Deswegen muß dieses Herz auch als Herz einer Mutter unerschöpflich sein. Das Wesen dieser mütterlichen Liebe, die die Mutter Gottes in das Geheimnis der Erlösung und in das Leben der Kirche einbringt, findet seinen Ausdruck in ihrer besonderen Nähe zum Menschen in allen wechselvollen Ereignissen seines Lebens. Darin besteht das Geheimnis der Mutter. Die Kirche, die auf sie mit einer ganz besonderen Liebe und Hoffnung schaut, möchte sich dieses Geheimnis immer tiefer aneignen. Gerade hier erkennt die Kirche wieder den Weg ihres täglichen Lebens, den ja jeder Mensch für sie bedeutet.

Die ewige Liebe des Vaters, die sich in der Geschichte der Menschheit durch den Sohn geoffenbart hat, den der Vater dahingab, »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern ewiges Leben hat«, 200 diese Liebe nähert sich einem jeden von uns durch diese Mutter und wird so für jeden Menschen verständlicher und leichter zugänglich. Darum muß Maria auf allen Wegen des täglichen Lebens der Kirche gegenwärtig sein. Durch die Anwesenheit ihrer Mutter gewinnt die Kirche Gewißheit, daß sie wirklich das Leben ihres Meisters und Herrn lebt, daß sie das Geheimnis der Erlösung in all ihrer belebenden Tiefe und Fülle vollzieht. Die Kirche, die ihre Wurzeln in zahlreichen und verschiedenartigen Lebensbereichen der ganzen heutigen Menschheit hat, gewinnt dabei auch die Gewißheit und, so könnte man sagen, die Erfahrung, daß sie dem Menschen nahe ist, jedem einzelnen, daß es seine Kirche ist: die Kirche des Volkes Gottes.

Vor solchen Aufgaben, die sich entlang der Wege der Kirche ergeben und die Papst Paul VI. uns in der ersten Enzyklika seines Pontifikates klar aufgezeigt hat, die wir uns der absoluten Notwendigkeit all dieser Wege und gleichzeitig der Schwierigkeiten bewußt sind, welche sich auf ihnen auftürmen, vor solchen Aufgaben also verspüren wir um so stärker das Bedürfnis einer engen Bindung an Christus. Die Worte, die er gesagt hat, hallen in uns wie ein Echo wider: »Ohne mich könnt ihr nichts tun«. 201 Wir fühlen nicht nur das Bedürfnis, sondern geradezu einen kategorischen Imperativ zu einem großen, intensiven und vermehrten Gebet der ganzen Kirche. Nur das Gebet kann bewirken, daß all diese großen Aufgaben und Schwierigkeiten, die sich einander ablösen werden, nicht Anlaß einer Krise werden, sondern die Gelegenheit und eine Art von Fundament für immer reifere Fortschritte auf dem Weg des Volkes Gottes hin zum verheißenen Land in dieser geschichtlichen Etappe, die sich dem Ende des zweiten Jahrtausends nähert. Wenn ich nun also diese Betrachtung mit einer innigen und demütigen Einladung zum Gebet beende, dann ist es mein Wunsch, daß man in diesem Gebet verharrt, vereint mit Maria, der Mutter Jesu, 202 so wie die Apostel und die Jünger des Herrn nach seiner Himmelfahrt im Abendmahlssaal von Jerusalem verharrten. 203 Ich bitte vor allem Maria, die himmlische Mutter der Kirche, sie möchte während dieses Gebetes im neuen Advent der Menschheit bei uns bleiben, die wir die Kirche bilden, den Mystischen Leib ihres eingeborenen Sohnes. Ich hoffe, daß wir dank eines solchen Gebetes den Heiligen Geist aus der Höhe 204 empfangen können und so Zeugen Christi werden »bis an die Enden der Erde« 205 wie jene, die am Pfingsttag aus dem Abendmahlssaal in Jerusalem in die Welt hinausgegangen sind.

Mit meinem Apostolischen Segen!

Gegeben in Rom zu St. Peter, am 4. März, dem ersten Fastensonntag des Jahres 1979, des ersten meines Pontifikates.



ENZYKLIKA
LABOREM EXERCENS
VON PAPST
JOHANNES PAUL II.

AN DIE VEREHRTEN MITBRÜDER IM BISCHOFSAMT
DIE PRIESTER UND ORDENSLEUTE
DIE SÖHNE UND TÖCHTER DER KIRCHE
UND AN ALLE MENSCHEN GUTEN WILLENS
ÜBER DIE MENSCHLICHE ARBEIT ZUM NEUNZIGSTEN JAHRESTAG 
DER ENZYKLIKA »RERUM NOVARUM«


Segen

Verehrte Mitbrüder im Bischofsamt, liebe Söhne und Töchter!
Gruß und Apostolischen Segen!

DURCH ARBEIT muß sich der Mensch sein tägliches Brot besorgen, (1) und nur so kann er beständig zum Fortschritt von Wissenschaft und Technik sowie zur kulturellen und moralischen Hebung der Gesellschaft beitragen, in Lebensgemeinschaft mit seinen Brüdern und Schwestern. Hier geht es um jede Arbeit, die der Mensch verrichtet, unabhängig von ihrer Art und den Umständen; gemeint ist jedes menschliche Tun, das man unter der reichen Vielfalt der Tätigkeiten, deren der Mensch fähig ist und zu denen ihn seine Natur, sein Menschsein, disponiert, als Arbeit anerkennen kann und muß. Nach Gottes Bild und Gleichnis (2) inmitten des sichtbaren Universums geschaffen und dorthin gestellt, damit er die Erde sich untertan mache, (3) ist der Mensch daher seit dem Anfang zur Arbeit berufen. Die Arbeit ist eines der Kennzeichen, die den Menschen von den anderen Geschöpfen unterscheiden, deren mit der Erhaltung des Lebens verbundene Tätigkeit man nicht als Arbeit bezeichnen kann; nur der Mensch ist zur Arbeit befähigt, nur er verrichtet sie, wobei er gleichzeitig seine irdische Existenz mit ihr ausfüllt. Die Arbeit trägt somit ein besonderes Merkmal des Menschen und der Menschheit, das Merkmal der Person, die in einer Gemeinschaft von Personen wirkt; dieses Merkmal bestimmt ihre innere Qualität und macht in gewisser Hinsicht ihr Wesen aus.

 

I. EINFÜHRUNG

 

1. Die menschliche Arbeit 90 Jahre nach »Rerum novarum«

Da es am 15. Mai dieses Jahres neunzig Jahre waren, seitdem Leo XIII., der große Papst der »Sozialen Frage«, jene entscheidende Enzyklika veröffentlicht hat, die mit den Worten »Rerum novarum« beginnt, möchte ich das vorliegende Dokument der menschlichen Arbeit widmen, ja eigentlich dem Menschen im weitgespannten Rahmen jener Wirklichkeit, die die Welt der Arbeit darstellt. Wenn - wie ich in der Enzyklika Redemptor hominis sagte, die ich zu Beginn meines Dienstes auf dem römischen Stuhl Petri veröffentlicht habe - der Mensch »der erste und grundlegende Weg der Kirche ist«, (4) und das aufgrund des unerforschlichen Geheimnisses der Erlösung in Christus, dann ist es notwendig, ständig auf diesen Weg zurückzukehren und ihm immer wieder aufs neue zu folgen unter den verschiedenen Aspekten, in denen er uns den ganzen Reichtum und zugleich die ganze Mühsal der menschlichen Existenz auf Erden offenbart.

Die Arbeit ist einer dieser Aspekte, zeitlos und grundlegend, immer aktuell, immer neue Aufmerksamkeit und entschiedenes Zeugnis fordernd. Da unablässig neue Fragen und Probleme auftreten, entstehen immer neue Erwartungen, aber auch Ängste und Bedrohungen, welche mit dieser grundlegenden Dimension menschlicher Existenz verbunden sind, die Tag für Tag das Leben des Menschen aufbaut, aus der es die ihm eigene Würde bezieht, die aber gleichzeitig das nie fehlende Maß menschlicher Mühen, des Leidens und auch der Benachteiligung und Ungerechtigkeit in sich trägt, welche das gesellschaftliche Leben innerhalb der einzelnen Nationen und auf internationaler Ebene zutiefst durchdringen. Wenn es zutrifft, daß sich der Mensch von dem Brot ernährt, das er der Arbeit seiner Hände verdankt, (5) und zwar nicht nur von jenem Brot, das seinen Leib am Leben hält, sondern auch von dem Brot der Wissenschaft und des Fortschritts, der Zivilisation und der Kultur, dann trifft ebenso für alle Zeiten zu, daß er sich von diesem Brot im Schweiße seines Angesichts (6) ernährt, das heißt nicht nur mit persönlicher Mühe und Anstrengung, sondern auch inmitten zahlreicher Spannungen, Konflikte und Krisen, die im Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Arbeit das Leben der einzelnen Völker und auch der gesamten Menschheit erschüttern.

Wir feiern den 90. Jahrestag der Enzyklika Rerum novarum am Vorabend neuer Entwicklungen in den Bereichen der Technologie, der Wirtschaft und der Politik, die nach dem Urteil vieler Fachleute auf die Welt der Arbeit und der Produktion ebenso starke Auswirkungen haben werden wie die industrielle Revolution des vorigen Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um mehrere Faktoren von allgemeiner Bedeutung: die generelle Einführung der Automatisierung in vielen Zweigen der Produktion; die wachsenden Kosten von Energie und Rohstoffen; das steigende Wissen um die Begrenztheit der Natur und deren untragbare Verschmutzung; das Eintreten von Völkern in das politische Leben, die jahrhundertelang unterworfen waren und nun den ihnen gebührenden Platz unter den Nationen und bei Entscheidungen von internationaler Tragweite fordern. Diese neuen Bedingungen und Anforderungen werden eine Neuordnung und Revision der heutigen Wirtschaftsstrukturen und der Verteilung der Arbeit notwendig machen. Derartige Änderungen können leider für Millionen qualifizierter Arbeiter zumindest zeitweilig Arbeitslosigkeit bedeuten oder eine Umschulung erforderlich machen; sie bringen sehr wahrscheinlich für die stärker entwickelten Länder eine Verringerung oder ein langsameres Wachstum des materiellen Wohlstandes mit sich, können aber andererseits den Millionen von Menschen, die heute noch in schmachvollem und unwürdigem Elend leben, Erleichterung und Hoffnung bringen. Die wissenschaftliche Analyse der eventuellen Auswirkungen solcher Änderungen auf das menschliche Zusammenleben ist nicht Aufgabe der Kirche. Wohl aber hält es die Kirche für ihre Aufgabe, immer wieder auf die Würde und die Rechte der arbeitenden Menschen hinzuweisen und die Situationen anzuprangern, in denen diese Würde und diese Rechte verletzt werden, und auch ihren Teil dazu beizutragen, diesen Änderungen eine solche Richtung zu geben, daß dabei ein echter Fortschritt für den Menschen und die Gesellschaft entsteht.

2. Die Arbeit in der organischen Entwicklung der sozialen Aktion und Lehre der Kirche

Die Arbeit als Problem des Menschen steht eindeutig im Mittelpunkt jener »Sozialen Frage«, der in den fast hundert Jahren seit der Veröffentlichung der genannten Enzyklika die Lehre der Kirche und die vielfältigen Initiativen in besonderer Weise galten, die mit ihrer apostolischen Sendung im Zusammenhang stehen. Auf dieses Problem der Arbeit möchte ich die vorliegenden Erwägungen konzentrieren, und das auf eine Weise, die sich nicht etwa vom Bisherigen absetzt, sondern organisch an die Tradition dieser Lehre und dieser Initiativen anknüpft. Gleichzeitig halte ich mich dabei an den Rat des Evangeliums, um aus seinem Reichtum Altes und Neues hervorzuholen. (7) Die Arbeit ist sicher etwas »Altes«, so alt wie der Mensch und sein Leben auf der Erde. Die allgemeine Situation des Menschen in der heutigen Welt, wie sie im Lichte der verschiedenen geographischen, kulturellen und zivilisatorischen Gesichtspunkte beurteilt wird, erfordert jedoch die Entdeckung der neuen Bedeutungsgehalte der menschlichen Arbeit wie auch die Formulierung der neuen Aufgaben, die auf diesem Gebiet jedem Menschen, der Familie, den einzelnen Nationen, der ganzen Menschheit und schließlich auch der Kirche gestellt sind.

Im Verlauf der Jahre seit der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum hat die soziale Frage unablässig die Aufmerksamkeit der Kirche auf sich gezogen. Das bezeugen die zahlreichen Aussagen des obersten Lehramtes sowohl der Päpste wie auch des II. Vatikanischen Konzils; das bezeugen die Verlautbarungen der einzelnen Episkopate; das bezeugt ferner die Tätigkeit der verschiedenen Zentren für Studien und für konkrete kirchliche Maßnahmen auf internationaler Ebene wie im Bereich der Ortskirchen. Es wäre schwierig, hier im einzelnen alle Zeugnisse des lebendigen Einsatzes der Kirche und der Gläubigen auf dem Gebiet der sozialen Frage aufzuzählen, da diese überaus zahlreich sind. Als eine Frucht des letzten Konzils wurde die Päpstliche Kommission »Iustitia et Pax«, für »Gerechtigkeit und Frieden«, zum wichtigsten Koordinierungszentrum auf diesem Gebiet; ihr entsprechen ähnliche Organe im Rahmen der einzelnen Bischofskonferenzen. Der Name dieses Gremiums ist sehr bedeutsam. Er bringt zum Ausdruck, daß die soziale Frage in ihrer gesamten, vielschichtigen Dimension behandelt werden muß. Der Einsatz für die Gerechtigkeit muß in engster Verbindung mit dem Einsatz für den Frieden in der heutigen Welt stehen. Sicher hat die schmerzliche Erfahrung der beiden großen Weltkriege, die in den letzten 90 Jahren viele Länder Europas und zum Teil auch anderer Kontinente erschüttert haben, für diese doppelte Zielsetzung gesprochen. Für sie spricht - besonders seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - die andauernde Gefahr eines Atomkrieges und die erschreckende Möglichkeit einer Selbstvernichtung, die sich daraus ergibt.

Wenn wir die Hauptentwicklungslinie der Dokumente des obersten Lehramtes der Kirche verfolgen, finden wir in ihnen die ausdrückliche Bestätigung gerade dieses Problemansatzes. Die Schlüsselstellung hinsichtlich des Weltfriedens nimmt die Enzyklika Pacem in terris Johannes' XXIII. ein. Schaut man jedoch auf die Entwicklung des Problems der sozialen Gerechtigkeit, so muß man feststellen, daß sich die Lehrtätigkeit der Kirche in der Zeit zwischen den Enzykliken Rerum novarum und Quadragesimo anno von Pius XI. zunächst vor allem auf die gerechte Lösung der sogenannten Arbeiterfrage im Rahmen der einzelnen Nationen konzentriert, dann aber ihre Blickrichtung auf die ganze Welt ausweitet. Die unausgeglichene Verteilung von Reichtum und Elend, der Unterschied zwischen entwickelten und nicht entwickelten Ländern und Kontinenten fordern eine Angleichung und eine Suche nach Wegen für die gerechte Entwicklung aller. In diese Richtung geht die Lehre der Enzyklika Mater et magistra Johannes' XXIII., der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils und der Enzyklika Populorum progressio Pauls VI.

Diese Richtung in der Entwicklung der Lehre und des Einsatzes der Kirche in der sozialen Frage entspricht genau der objektiven Beurteilung der jeweiligen Sachlage. Rückte man früher in dieser Frage vor allem das Problem der »Klasse« in den Mittelpunkt, so ist in neuerer Zeit das Problem »der Welt« in den Vordergrund getreten. Es wird also jetzt nicht nur der Bereich der Klasse beachtet, sondern der weltweite Bereich der Unausgeglichenheiten und Ungerechtigkeiten und infolgedessen die breite Dimension der Aufgaben auf dem Weg zur Gerechtigkeit in der Welt von heute. Die umfassende Analyse der Lage der heutigen Welt hat noch tiefer und vollständiger die Bedeutung der vorhergehenden Analysen der sozialen Ungerechtigkeiten gezeigt; und diese Bedeutung muß man heute all jenen Bemühungen zugrunde legen, deren Ziel der Aufbau der Gerechtigkeit auf Erden ist, wobei man die ungerechten Strukturen nicht etwa verbirgt, wohl aber ihre Untersuchung und ihre Überwindung in eine universale Dimension stellt.

3. Das Problem der Arbeit - Schlüssel der sozialen Frage

Inmitten all dieser Prozesse - sowohl der Diagnose der objektiven sozialen Wirklichkeit als auch der Lehre der Kirche im Bereich der vielschichtigen und vielfältigen sozialen Frage - scheint das Problem der menschlichen Arbeit natürlich oft auf. Es ist gewissermaßen ein durchgehendes Element des sozialen Lebens wie auch der kirchlichen Lehre. Deren Interesse für dieses Problem reicht übrigens weit über die letzten 90 Jahre zurück. Die Soziallehre der Kirche sieht ja ihre Quelle schon in der Heiligen Schrift selbst, angefangen vom Buch Genesis und dann besonders in den Evangelien und den Apostelschriften. Diese Lehre gehört von Anfang an zur Unterweisung der Kirche, zu ihrer Auffassung vom Menschen und vom sozialen Zusammenleben, und ist im einzelnen ein Teil der Morallehre vom Menschen als Gemeinschaftswesen, wie sie nach den Erfordernissen der verschiedenen Epochen erarbeitet worden ist. Dieser Schatz der Tradition wurde dann von der Unterweisung der Päpste zur »Sozialen Frage« übernommen und weiterentwickelt, beginnend mit der Enzyklika Rerum novarum. Im Zusammenhang dieser Frage ist auch das Problem der Arbeit immer wieder neu und tiefer gesehen worden, wobei es jedoch stets jene grundlegenden christlichen Wahrheiten beibehalten hat, die wir zeitlos nennen können.

Wenn wir im vorliegenden Dokument wiederum auf dieses Problem zurückkommen - ohne allerdings vorzuhaben, alle diesbezüglichen Gesichtspunkte zu berühren -, dann nicht so sehr in der Absicht, die bisherigen Aussagen des kirchlichen Lehramtes aufzugreifen und zu wiederholen. Vielmehr geht es darum, vielleicht mehr als bisher herauszustellen, daß die menschliche Arbeit ein Schlüssel und wohl der wesentliche Schlüssel in der gesamten sozialen Frage ist, wenn wir sie wirklich vom Standpunkt des Wohls für den Menschen betrachten wollen. Wenn die Lösung oder vielmehr die allmähliche Lösung der sozialen Frage, die sich immer neu stellt und immer komplizierter wird, darauf abzielen soll, das menschliche Leben menschlicher zu machen, 8 dann bekommt gerade dieser Schlüssel, die menschliche Arbeit, eine grundlegende und entscheidende Bedeutung.

 

II. DIE ARBEIT UND DER MENSCH

 

4. Im Buch Genesis

Die Kirche ist überzeugt, daß die Arbeit eine fundamentale Dimension der Existenz des Menschen auf Erden darstellt. Diese Überzeugung wird ihr auch vom Blick auf den Erkenntnisschatz der zahlreichen Wissenschaften bestätigt, deren Objekt der Mensch ist: Anthropologie, Paläontologie, Geschichte, Soziologie, Psychologie, usw.: alle scheinen diese Tatsache unwiderlegbar zu beweisen. Vor allem aber schöpft die Kirche diese ihre Überzeugung aus dem geoffenbarten Wort Gottes, wodurch ihr die Überzeugung des Verstandes zugleich zur Überzeugung des Glaubens wird. Der Grund dafür ist - und es lohnt sich, das von allem Anfang an zu beachten -, daß die Kirche an den Menschen glaubt: nicht nur im Licht der geschichtlichen Erfahrung, nicht nur mit Hilfe der verschiedenen Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis denkt sie an den Menschen und wendet sich ihm zu, sondern in erster Linie im Licht des geoffenbarten Wortes des lebendigen Gottes. In ihrem Sprechen vom Menschen sucht sie jene ewigen Absichten und jene transzendente Bestimmung zum Ausdruck zu bringen, unter die ihn der lebendige Gott, sein Schöpfer und Erlöser, gestellt hat.

Die Kirche schöpft bereits aus den ersten Seiten des Buches Genesis die Überzeugung, daß die Arbeit eine fundamentale Dimension menschlicher Existenz auf Erden darstellt. Die Untersuchung dieser Texte macht uns bewußt, daß in ihnen - manchmal in archaischer Ausdrucksweise - die grundlegenden Wahrheiten über den Menschen bereits ausgesprochen sind, schon hier, beim Geheimnis seiner Erschaffung. Es sind dies die Wahrheiten, die von Anfang an über den Menschen entscheiden und die großen Linien seiner Existenz auf Erden ziehen, sei es im Stand der ursprünglichen Gerechtigkeit, sei es nach dem durch die Sünde verursachten Bruch des ursprünglichen Bundes zwischen dem Schöpfer und seiner Schöpfung im Menschen. Wenn dieser, »als Gottes Abbild... als Mann und Frau« (9) geschaffen, die Worte hört: »Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde und macht sie euch untertan«, (10) so beziehen sich diese Worte zwar nicht direkt und ausdrücklich auf die Arbeit des Menschen, weisen ihn jedoch zweifellos indirekt schon darauf hin als auf eine Tätigkeit, die er in der Welt zu verrichten hat. Ja, sie zeigen bereits ihr tiefstes Wesen auf. Der Mensch ist unter anderem deshalb Abbild Gottes, weil er von seinem Schöpfer den Auftrag empfangen hat, sich die Erde zu unterwerfen und sie zu beherrschen. Indem er diesen Auftrag erfüllt, spiegelt der Mensch und jeder Mensch das Wirken des Weltenschöpfers selber wider.

Die Arbeit - als »transitive« Tätigkeit aufgefaßt, das heißt als ein Wirken, das vom Menschen als Subjekt ausgeht und auf ein äußeres Objekt gerichtet ist - setzt eine spezifische Herrschaft des Menschen über die »Erde« voraus und bestätigt und entwickelt ihrerseits diese Herrschaft. Unter dem hier vom biblischen Text gebrauchten Ausdruck »Erde« ist natürlich zunächst jener Bruchteil des sichtbaren Universums zu verstehen, dessen Bewohner der Mensch ist; in Ausweitung davon kann man jedoch die ganze sichtbare Welt darunter verstehen, soweit sie sich innerhalb der Sphäre menschlichen Einflusses und menschlicher Suche nach Befriedigung der eigenen Bedürfnisse befindet. Die Worte »macht euch die Erde untertan« sind von ungeheurer Tragweite. Sie beziehen sich auf alle Reichtümer, welche die Erde (und indirekt die sichtbare Welt) in sich birgt und die durch bewußte Tätigkeit des Menschen entdeckt und in geeigneter Weise verwendet werden können. So bleiben diese Worte am Anfang der Bibel zu jeder Zeit aktuell. Sie schließen alle vergangenen Epochen der Zivilisation und Wirtschaft ebenso ein wie die heutige Wirklichkeit und die zukünftigen Entwicklungsphasen, die sich vielleicht zu einem gewissen Grad bereits abzeichnen, großenteils jedoch dem Menschen noch fast unbekannt und verborgen sind.

Wenn man gelegentlich von Zeiten der »Beschleunigung« im wirtschaftlichen Leben und in der Zivilisation der ganzen Menschheit oder einzelner Nationen spricht und diese »Beschleunigungen« mit dem Fortschritt der Wissenschaft und Technik und besonders mit den für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben entscheidenden Entdeckungen in Zusammenhang bringt, so kann man gleichzeitig sagen, daß keine dieser »Beschleunigungen« über den wesentlichen Gehalt dessen hinausgeht, was jener uralte Bibeltext aussagt. Während der Mensch durch seine Arbeit immer mehr zum Herrn der Erde wird und wiederum durch die Arbeit seine Herrschaft über die sichtbare Welt festigt, bleibt er in jedem Fall und in jeder Phase dieses Prozesses auf der Linie jener ursprünglichen Weisung des Schöpfers, welche notwendig und unlösbar an die Tatsache gebunden ist, daß der Mensch als Mann und Frau »nach dem Abbild Gottes« geschaffen ist. Dieser Prozeß ist zugleich universal: er umfaßt alle Menschen, jede Generation, jede Phase der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung, und er ist gleichzeitig ein Prozeß, der sich in jedem Menschen abspielt, in jedem mit Einsicht begabten menschlichen Wesen. Er umfaßt zugleich alle und jeden einzelnen; alle und jeder einzelne nehmen in entsprechendem Maß und auf unzählige Weisen an diesem gigantischen Prozeß teil, der im »Untertan-machen der Erde« durch die Arbeit besteht.

5. Die Arbeit im objektiven Sinn: Die Technik

Diese Universalität und zugleich diese Vielfalt im Prozeß des »Untertan-machens der Erde« werfen Licht auf die menschliche Arbeit; denn die Herrschaft des Menschen über die Erde vollzieht sich durch die Arbeit und in der Arbeit. So wird der Sinn der objektiv verstandenen Arbeit deutlich, wie er in den verschiedenen Epochen der Kultur und Zivilisation zum Ausdruck kommt. Der Mensch beherrscht die Erde schon dadurch, daß er Tiere zähmt und züchtet und aus ihnen die nötige Nahrung und Kleidung für sich gewinnt, und dadurch, daß er aus Erde und Meer verschiedene Naturschätze entnehmen kann. Viel weitgehender jedoch macht sich der Mensch die Erde »untertan«, wenn er sie zu bebauen beginnt und dann ihre Produkte seinen Bedürfnissen entsprechend verarbeitet. Die Landwirtschaft stellt somit einen vorrangigen Zweig der wirtschaftlichen Tätigkeit und - durch die menschliche Arbeit - einen unentbehrlichen Produktionsfaktor dar. Die Industrie wiederum wird immer in der Verbindung der Schätze der Erde - sowohl der vorgegebenen lebenden Naturprodukte als auch der Produkte der Landwirtschaft sowie der mineralischen und chemischen Bodenschätze - mit der Arbeit des Menschen, der körperlichen wie der geistigen, bestehen. Das gilt in gewissem Sinn auch für den Bereich der sogenannten Dienstleistungsindustrie sowie der reinen und angewandten Forschung.

In Industrie und Landwirtschaft ist die Arbeit des Menschen heute in vielen Fällen keine überwiegend körperliche mehr, da die Mühe der Hände und Muskeln von Maschinen und Mechanismen unterstützt wird, deren Vervollkommnung unaufhörlich fortschreitet. Nicht nur in der Industrie, sondern auch in der Landwirtschaft sind wir Zeugen von Umwandlungen, die durch die stufenweise und ununterbrochene Entwicklung von Wissenschaft und Technik ermöglicht wurden. Dies alles ist, historisch gesehen, eine Ursache großer Umwälzungen der Zivilisation geworden, vom Beginn des »Industriezeitalters« zu den jeweils folgenden, durch neue Techniken bedingten Entwicklungsphasen wie der Phase der Elektronik oder der Mikroprozessoren in den letzten Jahren.

Wenn auch der Eindruck entstehen könnte, daß im industriellen Prozeß die Maschine »arbeitet«, während der Mensch sie nur bedient, indem er auf verschiedene Weise ihr Funktionieren ermöglicht und unterstützt, so trifft doch zu, daß die industrielle Entwicklung gerade dadurch Anlaß gibt, das Problem der menschlichen Arbeit in neuer Weise wieder zu stellen. Sowohl die erste Industrialisierung, welche die sogenannte Arbeiterfrage geschaffen hat, als auch die darauf folgenden industriellen und nachindustriellen Umwandlungen zeigen deutlich, daß auch im Zeitalter der immer stärker mechanisierten »Arbeit« der Mensch das eigentliche Subjekt der Arbeit bleibt.

Die Entwicklung der Industrie und der verschiedenen mit ihr in Verbindung stehenden Sektoren bis zu den modernsten Technologien der Elektronik insbesondere auf den Gebieten der Miniaturisierung, der Informatik, der Telematik und anderen zeigt an, welche ungeheure Bedeutung in der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt der Arbeit (im weitesten Sinne dieses Wortes) gerade jener Verbündeten der menschlichen Arbeit zukommt, die der menschliche Geist erzeugt hat, nämlich der Technik. Sie ist - hier nicht als Arbeitsfähigkeit oder -fertigkeit, sondern als die Gesamtheit der Instrumente verstanden, deren sich der Mensch bei seiner Arbeit bedient - zweifellos eine Verbündete des Menschen. Sie erleichtert ihm die Arbeit, vervollkommnet, beschleunigt und vervielfältigt sie. Sie begünstigt die quantitative Mehrung der Arbeitsprodukte und bei vielen auch die Verbesserung ihrer Qualität. Doch ist es auch eine Tatsache, daß sich die Technik in manchen Fällen aus einer Verbündeten fast in eine Gegnerin des Menschen verwandeln kann, wie etwa dann, wenn die Mechanisierung der Arbeit den Menschen verdrängt und ihn jeder persönlichen Befriedigung und des Ansporns zu Kreativität und Verantwortung beraubt, wenn sie viele Arbeitnehmer um ihre Beschäftigung bringt oder durch die Verherrlichung der Maschine den Menschen zu deren Sklaven macht.

Wenn die Bibelworte »macht euch die Erde untertan«, die seit dem Anfang an die Menschen gerichtet sind, von der gesamten modernen industriellen und nachindustriellen Zeit her verstanden werden, schließen sie zweifellos auch eine Beziehung zur Technik ein, zu jener Welt der Mechanismen und Maschinen, die eine Frucht der Verstandesarbeit des Menschen und eine geschichtliche Bestätigung seiner Herrschaft über die Natur sind.

Die jüngste Epoche der Menschheitsgeschichte zeigt vor allem bei einigen Völkern einen berechtigten Triumph der Technik als eines Grundfaktors für wirtschaftlichen Fortschritt; gleichzeitig jedoch hat dieser Triumph zentrale Fragen aufgeworfen und wirft sie immer noch auf: Fragen über die menschliche Arbeit im Verhältnis zu ihrem Subjekt, das eben der Mensch ist. Diese Fragen sind mit schwerwiegenden Inhalten und Spannungen von ethischem und ethisch-sozialem Charakter beladen. Sie stellen daher eine ständige Herausforderung für vielerlei Institutionen dar, für Staaten und Regierungen, für internationale Systeme und Organisationen; sie sind eine Herausforderung auch für die Kirche.

6. Die Arbeit im subjektiven Sinn: Der Mensch als Subjekt der Arbeit

Wollen wir unsere Darlegung zur Arbeit nach den Worten der Bibel fortsetzen, nach denen sich der Mensch die Erde untertan machen soll, so müssen wir nun unsere Aufmerksamkeit auf die Arbeit im subjektiven Sinne richten, und zwar viel eingehender, als wir es zum objektiven Sinn der Arbeit getan haben, wo wir jene weitgespannte Problematik nur eben berührten, die den Wissenschaftlern der verschiedenen Gebiete und auch, ihrer Spezialisierung entsprechend, den arbeitenden Menschen selbst vollkommen und in Einzelheiten bekannt ist. Wenn die Worte des Buches Genesis, auf die wir uns bei dieser Untersuchung beziehen, von der Arbeit im objektiven Sinne nur indirekt sprechen, so sprechen sie vom Subjekt der Arbeit zwar ebenfalls nur indirekt; was sie aber dazu sagen, ist sehr aufschlußreich und voll tiefer Bedeutung.

Der Mensch soll sich die Erde untertan machen, soll sie beherrschen, da er als »Abbild Gottes« eine Person ist, das heißt ein subjekthaftes Wesen, das imstande ist, auf geordnete und rationale Weise zu handeln, fähig, über sich zu entscheiden, und auf Selbstverwirklichung ausgerichtet. Als Person ist der Mensch daher Subjekt der Arbeit. Als Person arbeitet er und vollzieht die verschiedenen Handlungen, die zum Arbeitsprozeß gehören; unabhängig von ihrem objektiven Inhalt müssen diese alle der Verwirklichung seines Menschseins dienen, der Erfüllung seiner Berufung zum Personsein, die ihm eben aufgrund seines Menschseins eigen ist. Die wichtigsten Wahrheiten zu diesem Thema hat in unserer Zeit das II. Vatikanische Konzil in der Konstitution Gaudium et spes, insbesondere im Kapitel I über die Berufung des Menschen, unterstrichen.

So bezieht sich also die »Herrschaft«, von welcher unser Bibeltext spricht, nicht nur auf die objektive Dimension der Arbeit, sondern führt uns gleichzeitig zum Begreifen ihrer subjektiven Dimension. Die Arbeit als Prozeß, durch den sich der Mensch und die Menschheit die Erde untertan machen, wird jener grundlegenden Auffassung der Bibel nur dann gerecht, wenn in diesem ganzen Prozeß sich der Mensch zugleich immer als der erweist und bestätigt, der »herrscht«. Dieses Herrschen bezieht sich in gewisser Hinsicht sogar mehr auf die subjektive als auf die objektive Dimension: gerade jene Dimension bedingt ja die ethische Substanz der Arbeit. Denn es steht außer Zweifel, daß die menschliche Arbeit ihren ethischen Wert hat, der unmittelbar und direkt mit der Tatsache verbunden ist, daß der, welcher sie ausführt, Person ist, ein mit Bewußtsein und Freiheit ausgestattetes Subjekt, das heißt ein Subjekt, das über sich entscheidet.

Diese Wahrheit, die in gewissem Sinne den fundamentalen und bleibenden Kern der christlichen Lehre über die menschliche Arbeit darstellt, war und ist für das Erfassen wichtiger sozialer Probleme epochalen Ausmaßes von grundlegender Bedeutung.

Die Antike teilte die Menschen nach eigenem, typischem Maßstab nach der Art der Arbeit ein, die sie verrichteten. Die Arbeit, die vom Arbeitenden den Einsatz seiner körperlichen Kräfte erforderte, die Arbeit der Muskeln und der Hände, wurde für freie Menschen als unwürdig betrachtet; zu ihrer Verrichtung wurden deshalb die Sklaven bestimmt. Das Christentum bewirkte in Ausweitung einiger schon im Alten Testament enthaltener Gedanken eine grundlegende Umwälzung solcher Anschauungen, wobei es von der Botschaft des Evangeliums in ihrer Gesamtheit und vor allem von der Tatsache ausging, daß derjenige, der Gott war, uns jedoch in allem gleich geworden ist, 11 den größten Teil seiner irdischen Lebensjahre der körperlichen Arbeit in der Werkstatt eines Zimmermanns gewidmet hat. Dieser Umstand ist als solcher das beredteste »Evangelium der Arbeit«, aus dem hervorgeht, daß die Grundlage zur Bewertung menschlicher Arbeit nicht in erster Linie die Art der geleisteten Arbeit ist, sondern die Tatsache, daß der, der sie verrichtet, Person ist. Die Würde der Arbeit wurzelt zutiefst nicht in ihrer objektiven, sondern in ihrer subjektiven Dimension.

Bei einer solchen Sicht verschwindet geradezu die Grundlage der in der Antike gemachten Einteilung der Menschen in verschiedene Gruppen nach der Art der von ihnen verrichteten Arbeit. Damit soll nicht gesagt sein, daß die menschliche Arbeit, objektiv verstanden, nicht irgendwie bewertet und qualifiziert werden könne oder dürfe, sondern lediglich, daß die erste Grundlage für den Wert der Arbeit der Mensch selbst ist, ihr Subjekt. Hiermit verbindet sich sogleich eine sehr wichtige Schlußfolgerung ethischer Natur: So wahr es auch ist, daß der Mensch zur Arbeit bestimmt und berufen ist, so ist doch in erster Linie die Arbeit für den Menschen da und nicht der Mensch für die Arbeit. Mit dieser Schlußfolgerung kommt man logisch zur Anerkennung des Vorranges der subjektiven Bedeutung der Arbeit vor der objektiven. Aufgrund dieser Auffassung und vorausgesetzt, daß verschiedene von Menschen verrichtete Arbeiten einen größeren oder geringeren objektiven Wert haben können, geht es uns vor allem darum, deutlich zu machen, daß der Maßstab für jede dieser Arbeiten in erster Linie die Würde ihres Subjekts ist, also der Person, des Menschen, der sie verrichtet. Noch einmal: Unabhängig von der Arbeit, die jeder Mensch verrichtet, und vorausgesetzt, daß diese einen Zweck seines Handelns darstellt - der ihn oft stark engagiert -, ist festzuhalten, daß dieser Zweck für sich allein keine entscheidende Bedeutung besitzt. Zweck der Arbeit, jeder vom Menschen verrichteten Arbeit - gelte sie auch in der allgemeinen Wertschätzung als die niedrigste Dienstleistung, als völlig monotone, ja als geächtete Arbeit -, bleibt letztlich immer der Mensch selbst.

7. Eine Bedrohung der rechten Wertordnung

Gerade diese fundamentalen Feststellungen über die Arbeit kristallisierten sich zu allen Zeiten aus dem Reichtum der christlichen Wahrheit, insbesondere aus der Botschaft des »Evangeliums der Arbeit«, und haben die Grundlage für eine neue Art des Denkens, Bewertens und Handelns unter den Menschen geschaffen. In der Gegenwart, schon seit Beginn des Industriezeitalters, mußte sich die christliche Wahrheit über die Arbeit verschiedenen materialistischen und ökonomistischen Strömungen entgegenstellen.

Manche Anhänger solcher Ideen betrachteten und behandelten die Arbeit als eine Art »Ware«, die der Arbeitnehmer, vor allem der Industriearbeiter, dem Arbeitgeber verkauft, der gleichzeitig der Besitzer des Kapitals ist, das heißt der gesamten Arbeitsgeräte und der Mittel, welche die Produktion ermöglichen. Diese Auffassung von Arbeit war wohl besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet. In der Folgezeit sind ausdrückliche Formulierungen dieser Art fast gänzlich verschwunden und haben einer humaneren Sicht und Wertung der Arbeit Platz gemacht. Die Wechselbeziehung zwischen dem arbeitenden Menschen und dem Gesamt der Arbeitsgeräte und Produktionsmittel ließ verschiedene Formen des Kapitalismus und, in Parallele dazu, des Kollektivismus entstehen; hinzu kamen weitere sozio-ökonomische Elemente als Ergebnis neuartiger konkreter Umstände oder durch das Wirken der Arbeitnehmerverbände und der öffentlichen Hand sowie das Auftreten großer übernationaler Unternehmen. Allerdings bleibt die Gefahr bestehen, die Arbeit wie eine Art von »Ware sui generis« zu behandeln oder wie eine anonyme, für die Produktion erforderliche »Kraft« (man spricht geradezu von »Arbeits-Kraft«), besonders dann, wenn die gesamte Sicht der wirtschaftlichen Problematik von den Voraussetzungen des materialistischen Ökonomismus geprägt ist.

Eine ständige Gelegenheit und in gewisser Hinsicht sogar ein Anreiz für diese Weise, zu denken und zu werten, liegt im beschleunigten Entwicklungsprozeß einer einseitig materialistischen Zivilisation, in der man in erster Linie der objektiven Dimension der Arbeit Bedeutung beimißt, während die subjektive Dimension - alles, was in direkter oder indirekter Beziehung zum Subjekt der Arbeit steht - im Hintergrund bleibt. In allen solchen Fällen, in jeder sozialen Situation dieser Art geschieht eine Verwirrung oder sogar Umkehrung der Ordnung, wie sie von Anfang an mit den Worten des Buches Genesis festgelegt ist: der Mensch wird als bloßes Werkzeug behandelt, 12 während er - um seiner selbst willen, unabhängig von der Arbeit, die er tut - als deren verursachendes Subjekt, als deren wahrer Gestalter und Schöpfer behandelt werden sollte. Gerade diese Umkehrung der Ordnung, ganz abgesehen vom Programm und vom Namen, unter dem dieses sich verwirklicht, würde in dem weiter unten ausführlicher erläuterten Sinne die Bezeichnung »Kapitalismus« verdienen. Der Kapitalismus hat bekanntlich als System, als wirtschaftlich-soziales System, seinen genauen, geschichtlich gewachsenen Inhalt aus der Gegenüberstellung zum »Sozialismus« und »Kommunismus«. Doch im Licht der Analyse der grundlegenden Wirklichkeit im gesamten wirtschaftlichen Prozeß und vor allem in der Struktur der Produktion - eben der Arbeit - ist es angebracht zuzugeben, daß der Irrtum des primitiven Kapitalismus sich überall dort wiederholen kann, wo der Mensch in irgendeiner Weise dem Gesamt der materiellen Produktionsmittel gleichgeschaltet und so wie ein Instrument behandelt wird und nicht entsprechend der wahren Würde seiner Arbeit, das heißt als ihr Subjekt und Urheber, und ebendadurch als wahres Ziel des ganzen Produktionsprozesses.

So versteht man, wie eine Analyse der menschlichen Arbeit im Licht jener Worte, welche die »Herrschaft« des Menschen über die Erde betreffen, bis in die Mitte der ethisch-sozialen Problematik vordringen sollte. Diese Sicht müßte auch eine zentrale Stellung im ganzen Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik finden, sei es auf der Ebene der einzelnen Länder, sei es auf der größeren Ebene der internationalen und interkontinentalen Beziehungen, besonders hinsichtlich der Spannungen, die sich in der Welt nicht nur längs der Ost-West-, sondern auch längs der Nord-Süd-Achse abzeichnen. Entschlossene Aufmerksamkeit schenkten Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Mater et magistra und Papst Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio diesen Dimensionen der heutigen ethisch-sozialen Problematik.

8. Die Solidarität der arbeitenden Menschen

Wenn man von der menschlichen Arbeit in der fundamentalen Dimension ihres Subjekts spricht, also vom personalen Menschen, der diese Arbeit ausführt, so muß man unter diesem Gesichtspunkt auch eine wenigstens summarische Wertung der Entwicklungen vornehmen, die sich in den 90 Jahren seit der Enzyklika Rerum novarum in bezug auf den subjektiven Aspekt der Arbeit vollzogen haben. Denn obwohl das Subjekt der Arbeit immer das gleiche ist, nämlich der Mensch, so kann man doch im objektiven Bereich eine beachtliche Vielfalt sehen. Wenn man auch sagen kann, daß die Arbeit aufgrund ihres Subjektes nur eine (einzig und jeweils unwiederholbar) ist, muß man im Hinblick auf ihre objektive Ausrichtung doch feststellen, daß es viele Arbeiten gibt: lauter verschiedene Arbeiten. Die Entwicklung der menschlichen Zivilisation führt auf diesem Gebiet zu ständiger Bereicherung. Gleichzeitig jedoch kann man nicht übersehen, daß im Verlauf dieser Entwicklung nicht nur neue Formen von Arbeit auftauchen, sondern andere auch verschwinden. Mag man darin auch im großen und ganzen eine normale Erscheinung sehen, so muß man dennoch darauf achten, ob und in welchem Maß sich dabei nicht auch gewisse Auswüchse einschleichen, die in ethisch-sozialer Hinsicht gefährlich sein können.

Gerade infolge eines solchen Auswuchses von großer Tragweite entstand im vergangenen Jahrhundert die sogenannte Arbeiterfrage, manchmal auch als Problem des Proletariats bezeichnet. Diese Frage und die mit ihr verbundenen Probleme haben eine berechtigte soziale Reaktion hervorgerufen und unter den arbeitenden Menschen, in erster Linie unter den Industriearbeitern, geradezu einen Sturm der Solidarität ausgelöst. Der Aufruf zu Solidarität und gemeinsamem Handeln, der an die Arbeiter - vor allem an jene in eintöniger, nur in Teilvorgängen bestehender, abstumpfender Arbeit industrieller Großbetriebe, wo die Maschine immer mehr den Menschen beherrscht - ergangen ist, war vom Standpunkt der Sozialethik wertvoll und ausdrucksstark. Es war die Reaktion gegen die Erniedrigung des Menschen als des Subjekts der Arbeit und gegen die damit verbundene unerhörte Ausbeutung auf dem Gebiet der Löhne, der Arbeitsbedingungen und der Vorsorge für die Person des Arbeiters. Diese Reaktion hat die Arbeiterwelt zu einer durch große Solidarität gekennzeichneten Gemeinschaft zusammengeschlossen.

Im Einklang mit der Enzyklika Rerum novarum und vielen darauffolgenden Dokumenten des kirchlichen Lehramtes muß man offen anerkennen, daß die Reaktion gegen das ungerechte und schädliche System, das auf dem arbeitenden Menschen in jener Zeit rascher Industrialisierung lastete und das um Rache zum Himmel schrie, 13 sozialmoralisch gerechtfertigt war. Diese Zustände waren durch das sozio-politische System des Liberalismus begünstigt, das ja nach seinen ökonomistischen Grundsätzen die wirtschaftliche Initiative ausschließlich der Kapitaleigentümer stärkte und sicherte, sich jedoch nicht genügend um die Rechte des arbeitenden Menschen kümmerte, entsprechend der These, die menschliche Arbeit sei lediglich ein Produktionsmittel, das Kapital hingegen sei die Grundlage, der Maßstab und der Zweck der Produktion.

Seitdem hat die Solidarität unter den arbeitenden Menschen, verbunden mit einem klareren und einsatzbereiteren Bewußtsein der Gegenseite hinsichtlich der Rechte der Arbeiter, in vielen Fällen tiefgreifende Änderungen bewirkt. Verschiedene neue Systeme sind erdacht worden. Verschiedene Formen von Neo-Kapitalismus und Kollektivismus haben sich entwickelt. Nicht selten können die Arbeiter an der Leitung und an der Produktivitätskontrolle der Unternehmen teilnehmen und machen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch. Mit der Hilfe entsprechender Verbände nehmen sie auf die Arbeits- und Lohnbedingungen sowie auf die Sozialgesetzgebung Einfluß. Gleichzeitig jedoch ließen verschiedene ideologische Systeme oder Machtgruppierungen sowie auch neue Beziehungen auf den einzelnen Ebenen menschlichen Zusammenlebens offene Ungerechtigkeiten weiterbestehen oder haben neue geschaffen. Auf Weltebene hat die Entwicklung von Zivilisation und Kommunikation eine vollständigere Beurteilung der Lebens- und Arbeitsbedingungen des Menschen auf der ganzen Erde möglich gemacht, aber auch neue Weisen von Ungerechtigkeit ans Licht gebracht und zwar weit größeren Ausmaßes als jene, die im vorigen Jahrhundert den Zusammenschluß der arbeitenden Menschen durch eine besondere Solidarität in der Welt der Arbeit angeregt hatten. Das gilt für die Länder, die bereits einen gewissen Prozeß industrieller Revolution hinter sich haben, wie auch für jene, wo die vorherrschende Arbeit weiterhin in der Bebauung der Erde oder ähnlichen Tätigkeiten besteht.

Bewegungen der Solidarität auf dem Gebiet der menschlichen Arbeit - einer Solidarität, die sich nie dem Dialog und der Zusammenarbeit mit der anderen Seite verschließen darf - können auch im Hinblick auf die Lage von sozialen Gruppen erforderlich sein, welche zunächst in diesen Bewegungen nicht vertreten waren, jedoch unter den sich wandelnden Gesellschaftssystemen und Lebensbedingungen eine tatsächliche »Proletarisierung« erfahren oder sich sogar schon in der Situation eines »Proletariates« befinden, die vielleicht noch nicht mit diesem Namen bezeichnet wird, ihn jedoch von der Sache her bereits verdient. In dieser Lage können sich manche Kategorien oder Gruppen der arbeitsabhängigen »Intelligenz« befinden, besonders dann, wenn zugleich mit einem immer breiteren Zugang zur Bildung und bei anwachsender Zahl von Personen mit abgeschlossenem Studium die Nachfrage nach ihrer Arbeit abnimmt. Diese Arbeitslosigkeit der Intellektuellen ergibt sich oder steigert sich sogar, wenn die offenstehenden Bildungswege nicht auf die von echten Erfordernissen der Gesellschaft verlangten Leistungen oder Dienste ausgerichtet sind oder wenn eine Arbeit, die eine wenigstens berufsbezogene Bildung voraussetzt, weniger gefragt oder schlechter bezahlt ist als manche manuelle Arbeit. Selbstverständlich stellt Bildung als solche immer einen Wert und eine wichtige Bereicherung der menschlichen Persönlichkeit dar; doch bleiben unabhängig von dieser Tatsache manche Prozesse der »Proletarisierung« hierbei möglich.

Man muß sich daher weiterhin die Frage nach dem Subjekt der Arbeit und nach seinen Lebensbedingungen stellen. Will man die soziale Gerechtigkeit in den verschiedenen Teilen der Welt, in den verschiedenen Ländern und in den Beziehungen zwischen ihnen verwirklichen, bedarf es immer neuer Bewegungen von Solidarität der Arbeitenden und mit den Arbeitenden. Diese Solidarität muß immer dort zur Stelle sein, wo es die soziale Herabwürdigung des Subjekts der Arbeit, die Ausbeutung der Arbeitnehmer und die wachsenden Zonen von Elend und sogar Hunger erfordern. Die Kirche setzt sich in diesem Anliegen kraftvoll ein, weil sie es als ihre Sendung und ihren Dienst, als Prüfstein ihrer Treue zu Christus betrachtet, um so wirklich die »Kirche der Armen« zu sein. Die »Armen« treten in verschiedenem Gewande auf, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten; sie treten vielfach auf als Ergebnis einer Verletzung der Würde der menschlichen Arbeit: sei es, daß die Arbeitsmöglichkeiten beschränkt sind - also wegen der Plage der Arbeitslosigkeit -, sei es, daß die Arbeit und die Rechte, die sich aus ihr ergeben, vor allem das Recht auf angemessene Entlohnung und auf die Sicherheit der Person des Arbeitnehmers und seiner Familie, entleert werden.

9. Arbeit und personale Würde

Wenn wir bei dieser Sicht des Menschen als Subjekt der Arbeit noch etwas verweilen, ist es angebracht, zumindest in großen Zügen einige Aspekte zu berühren, welche die Würde der menschlichen Arbeit näher erläutern, insofern sie eine vollständigere Kennzeichnung ihres spezifischen moralischen Wertes gestatten. Dabei muß man sich ständig die in der Bibel ausgesprochene Berufung vor Augen halten, die »Erde untertan zu machen«, 14 in welcher der Wille des Schöpfers zum Ausdruck kommt, daß die Arbeit es dem Menschen ermögliche, die ihm in der sichtbaren Welt zukommende »Herrschaft« zu verwirklichen.

Diese grundlegende Urabsicht Gottes für den Menschen, den er als sein Abbild schuf, ihm ähnlich, 15 wurde nicht einmal in dem Augenblick abgeändert oder ausgelöscht, da der Mensch nach dem Bruch des ersten Bundes mit Gott die Worte vernahm: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen«. (16) Diese Worte beziehen sich auf die manchmal drückende Mühe, welche seither die menschliche Arbeit begleitet, ändern jedoch nichts an der Tatsache, daß die Arbeit der Weg ist, auf dem der Mensch die ihm eigene »Herrschaft« über die sichtbare Welt verwirklicht, indem er sich die Erde »untertan macht«. Diese Mühe ist eine allgemein bekannte, weil allgemein erfahrene Realität. Das wissen die Menschen mit körperlicher Arbeit, deren Tätigkeit manchmal unter äußerst schweren Bedingungen zu verrichten ist. Das wissen nicht nur die in der Landwirtschaft Tätigen, deren langes Tagewerk dem Bebauen der Erde gilt, die ihnen manchmal »Dornen und Disteln« (17) trägt, sondern auch die Arbeiter in den Bergwerken und Steinbrüchen, die Arbeiter der Metallindustrie an ihren Hochöfen, die oft an Leben und Gesundheit gefährdeten Bauarbeiter. Das wissen auch die Menschen in der Werkstatt intellektueller Arbeit; das wissen die Wissenschaftler und die Menschen, auf denen die schwere Verantwortung für sozial weitreichende Entscheidungen lastet. Das wissen die Ärzte und die Krankenpfleger, die Tag und Nacht bei ihren Kranken wachen. Das wissen die Frauen, die manchmal ohne gebührende Anerkennung seitens der Gesellschaft, ja sogar der Angehörigen, tagtäglich die Mühe und die Verantwortung des Haushalts und der Kindererziehung tragen. Das wissen alle arbeitenden Menschen, und da zu arbeiten die Berufung aller ist, wissen es alle Menschen.

Dennoch ist die Arbeit mit all dieser Mühe - und in gewissem Sinne vielleicht gerade aufgrund dieser Mühe - ein Gut für den Menschen. Wenn dieses Gut das Zeichen eines »bonum arduum« - um mit dem heiligen Thomas von Aquin (18) zu sprechen -, eines »schwierigen Gutes«, an sich trägt, so bleibt die Arbeit als solche doch ein Gut für den Menschen, und zwar nicht nur ein »nützliches« oder ein »angenehmes«, sondern ein »würdiges«, das heißt der Würde des Menschen entsprechendes Gut, ein Gut, das diese Würde zum Ausdruck bringt und sie vermehrt. Wenn man die ethische Bedeutung der Arbeit genauer bestimmen will, muß man in erster Linie diese Wahrheit vor Augen haben. Die Arbeit ist ein Gut für den Menschen - für sein Menschsein -, weil er durch die Arbeit nicht nur die Natur umwandelt und seinen Bedürfnissen anpaßt, sondern auch sich selbst als Mensch verwirklicht, ja gewissermaßen »mehr Mensch wird«.

Ohne diese Überlegung kann man die Bedeutung der Tugend des Fleißes nicht verstehen, genauer: man kann nicht verstehen, wieso der Fleiß eine Tugend sein soll; ist doch die Tugend als moralische Haltung das, wodurch der Mensch als Mensch gut wird. (19) Dieser positive Zusammenhang ändert aber nichts an unserer berechtigten Sorge, der Mensch könnte in der Arbeit, durch welche die Materie veredelt wird, an sich selbst eine Herabsetzung seiner Würde erleiden. (20) Es ist ja bekannt, daß die Arbeit verschiedentlich gegen den Menschen verwendet werden kann; daß man ihn mit dem System der Zwangsarbeit in Konzentrationslagern bestrafen kann; daß man die Arbeit zu einem Mittel der Unterdrückung des Menschen machen kann; daß man schließlich in verschiedener Weise die menschliche Arbeit - das heißt den arbeitenden Menschen! - ausbeuten kann. All dies spricht für die moralische Verpflichtung, den Fleiß als Tugend mit einer sozialen Ordnung zu verbinden, die es dem Menschen erlaubt, in der Arbeit »mehr Mensch zu werden«, statt sich ihretwegen zu erniedrigen und nicht nur seine Körperkräfte zu verbrauchen (was ja wenigstens zu einem gewissen Grad unvermeidlich ist), sondern sogar seine ureigene Würde und Personalität verletzt zu sehen.

10. Arbeit und Gemeinschaft: in Familie und Nation

Nachdem so die personale Dimension der menschlichen Arbeit bekräftigt ist, müssen wir nun zu einem zweiten Bereich von Werten übergehen, der mit der Arbeit notwendigerweise verbunden ist. Die Arbeit bildet eine Grundlage für den Aufbau des Familienlebens, welches ein Recht und eine Berufung des Menschen ist. Diese beiden Wertbereiche - der eine mit der Arbeit verbunden, der andere aus dem Familiencharakter des menschlichen Lebens folgend - müssen auf rechte Art miteinander verbunden sein, auf rechte Weise einander durchdringen. Die Arbeit ist in gewisser Hinsicht Vorbedingung für die Gründung einer Familie, da diese für ihren Unterhalt Mittel braucht, die sich der Mensch normalerweise durch die Arbeit erwirbt. Arbeit und Fleiß prägen auch den gesamten Erziehungsprozeß in der Familie, eben deshalb, weil jeder unter anderem durch die Arbeit »Mensch wird« und dieses Mensch-werden gerade das Hauptziel des ganzen Erziehungsprozesses ist. Augenscheinlich sind hier in gewissem Sinne zwei Aspekte der Arbeit miteinander im Spiel: der eine, welcher der Familie den Lebensunterhalt ermöglicht, und der andere, durch den sich die Ziele der Familie verwirklichen, vor allem die Erziehung. Diese beiden Aspekte der Arbeit sind jedoch miteinander verbunden und ergänzen einander in verschiedenen Punkten.

Insgesamt muß man daran erinnern und feststellen, daß die Familie einen der wichtigsten Bezugspunkte für den rechten Aufbau einer sozial-ethischen Ordnung der menschlichen Arbeit bildet. Die Lehre der Kirche hat diesem Problem immer besondere Aufmerksamkeit geschenkt, und auch wir werden in diesem Dokument noch darauf zurückkommen müssen. Ist doch die Familie eine durch die Arbeit ermöglichte Gemeinschaft und die erste, häusliche Schule der Arbeit für jeden Menschen.

Der dritte Bereich von Werten, der in unserer gegenwärtigen Perspektive - vom Subjekt der Arbeit her - sichtbar wird, betrifft jene umfassende Gemeinschaft, welcher der Mensch aufgrund besonderer kultureller und historischer Bindungen angehört. Die Volksgemeinschaft ist - auch wenn sie noch nicht die ausgereifte Form einer Nation angenommen hat - nicht nur die große, wenn auch indirekte »Erzieherin« jedes Menschen (da jeder sich in der Familie die Gehalte und Werte zu eigen macht, die in ihrer Gesamtheit die Kultur einer bestimmten Nation ausmachen), sondern auch eine große historische und soziale Inkarnation der Arbeit aller Generationen. All das bewirkt, daß der Mensch seine tiefste menschliche Identität mit der Zugehörigkeit zu einer Nation verbindet und seine Arbeit auch als eine zusammen mit seinen Landsleuten erarbeitete Mehrung des Gemeinwohls versteht, wobei ihm auch bewußt wird, daß auf diesem Weg die Arbeit zur Mehrung der Güter der ganzen Menschheitsfamilie, aller auf Erden lebenden Menschen, dient.

Diese drei Bereiche behalten ständig ihre Bedeutung für die menschliche Arbeit in ihrer subjektiven Dimension. Und diese Dimension, die konkrete Wirklichkeit des arbeitenden Menschen also, hat Vorrang vor der objektiven. In der subjektiven Dimension vor allem verwirklicht sich jene »Herrschaft« über die Welt der Natur, zu welcher der Mensch nach den Worten der Genesis von Anfang an berufen ist. Wenn der Prozeß des »Untertan-machens der Erde«, also die Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Technik, im Lauf der Geschichte und insbesondere im Lauf der letzten Jahrhunderte von einer ungeheuren Entwicklung der Produktionsmittel gekennzeichnet ist, so ist das eine vorteilhafte, positive Gegebenheit, vorausgesetzt, daß die objektive Dimension der Arbeit nicht die Oberhand über die subjektive gewinnt und so dem Menschen seine Würde und seine unveräußerlichen Rechte nimmt oder schmälert.

III. DER KONFLIKT ZWISCHEN ARBEIT UND KAPITAL IM GEGENWÄRTIGEN ABSCHNITT DER GESCHICHTE

 

11. Dimensionen dieses Konfliktes

Die im Vorhergehenden kurz dargelegten grundlegenden Bezüge menschlicher Arbeit stützen sich einerseits auf die ersten Seiten der Bibel und bilden andererseits in gewissem Sinne das Grundgerüst der entsprechenden kirchlichen Lehre, die sich im Lauf der Jahrhunderte und im Zusammenhang der verschiedenen geschichtlichen Erfahrungen unverändert durchgehalten hat. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen, welche der Enzyklika Rerum novarum vorangegangen und gefolgt sind, gewinnen sie jedoch besondere Eindringlichkeit und lebendige Aktualität. So erscheint die Arbeit in dieser Analyse als eine große Wirklichkeit, die auf die menschenwürdige Gestaltung der uns vom Schöpfer anvertrauten Welt einen grundlegenden Einfluß ausübt; sie ist gleichzeitig eine Wirklichkeit, die mit dem Menschen - als ihrem Subjekt - und mit seinem vernünftigen Handeln eng verbunden ist.

Diese Wirklichkeit füllt normalerweise das menschliche Leben aus und prägt maßgebend seinen Wert und Sinn. Wenn auch mit Mühe und Anstrengung verbunden, bleibt die Arbeit dennoch ein Gut, so daß sich der Mensch durch die Liebe zu ihr entwickelt. Dieser durchaus positive und schöpferische, erzieherische und verdienstliche Charakter der menschlichen Arbeit muß die Grundlage der Wertungen und Entscheidungen bilden, die heute für den Bereich der Arbeit getroffen werden, und dies auch hinsichtlich der subjektiven Rechte des Menschen, wie internationale Erklärungen und auch zahlreiche Arbeitsgesetzgebungen zeigen, die entweder von den zuständigen gesetzgebenden Organen der einzelnen Länder oder von den Organisationen ausgearbeit wurden, die ihre soziale oder auch sozialwissenschaftliche Aktivität der Problematik der Arbeit widmen. Eine Organisation, die solche Initiativen auf internationaler Ebene fördert, ist das Internationale Arbeitsamt, die älteste Unterorganisation der Vereinten Nationen.

In einem späteren Teil unserer Erwägungen möchte ich genauer auf diese wichtigen Probleme eingehen und zumindest die grundlegenden Elemente der kirchlichen Lehre zu diesem Thema in Erinnerung rufen. Vorher ist es jedoch angezeigt, einen sehr wichtigen Problemkreis zu berühren, vor dessen Hintergrund sich diese Lehre in ihrer letzten Phase herausgebildet hat, in jenem Zeitabschnitt, für den das Jahr der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum gleichsam das symbolische Datum darstellt.

Bekanntlich wurde während dieses ganzen Zeitabschnittes, der übrigens noch keinesfalls beendet ist, das Problem der Arbeit zur Grundlage des großen Konfliktes, der in der Epoche der industriellen Entwicklung und Hand in Hand mit ihr zwischen der »Welt des Kapitals« und der »Welt der Arbeit« auftrat, das heißt zwischen der kleinen, aber sehr einflußreichen Gruppe der Unternehmer, der Eigentümer oder Besitzer der Produktionsmittel, und der viel zahlreicheren Menge derer, die nicht über diese Mittel verfügten, sondern am Produktionsprozeß ausschließlich durch ihre Arbeit teilnahmen. Dieser Konflikt entstand dadurch, daß die Arbeiter ihre Kräfte der Gruppe der Unternehmer zur Verfügung stellten und diese, weil vom Prinzip des größten Gewinns geleitet, darum bestrebt war, für die Leistung der Arbeiter eine möglichst niedrige Entlohnung festzulegen. Dazu kamen noch andere Elemente der Ausbeutung, die mit dem Mangel an Sicherheit am Arbeitsplatz und auch an Garantien hinsichtlich der Gesundheit und des Lebens der Arbeiter und ihrer Familien zu tun hatten.

Dieser Konflikt, von einigen als sozio-ökonomischer Konflikt mit Klassencharakter gedeutet, fand seinen Ausdruck im ideologischen Konflikt zwischen dem Liberalismus - als Ideologie des Kapitalismus verstanden - und dem Marxismus - als Ideologie des theoretischen Sozialismus und des Kommunismus aufgefaßt -, der den Anspruch erhebt, als Wortführer der Arbeiterklasse, des Proletariats der ganzen Welt aufzutreten. Auf diese Weise wurde der reale Konflikt, der zwischen der Welt der Arbeit und der Welt des Kapitals bestand, zum programmierten Klassenkampf, der nicht nur mit ideologischen, sondern gerade und in erster Linie mit politischen Mitteln geführt wurde. Die Geschichte dieses Konflikts ist bekannt; bekannt sind auch die Forderungen der einen und der anderen Seite. Das marxistische Programm, das auf der Philosophie von Marx und Engels aufbaut, sieht im Klassenkampf den einzigen Weg zur Beseitigung der klassenbezogenen Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft und auch der Klassen selbst. Die Verwirklichung dieses Programms setzt an den Anfang die Kollektivierung der Produktionsmittel, damit durch die Übertragung dieser Mittel von Privatpersonen auf das Kollektiv die menschliche Arbeit vor der Ausbeutung bewahrt bleibe.

Dieses Ziel strebt der nicht nur mit ideologischen, sondern auch mit politischen Mitteln geführte Kampf an. Die Gruppierungen, die sich als politische Parteien von der marxistischen Ideologie leiten lassen, streben gemäß dem Prinzip der »Diktatur des Proletariats« und durch die Ausübung verschiedenartiger Einflüsse - einschließlich des revolutionären Druckes - nach dem Machtmonopol in den einzelnen Ländern, um dort durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln das kollektivistische System einzuführen. Nach den wichtigsten Ideologen und Führern dieser großen internationalen Bewegung ist es das Ziel eines solchen Aktionsprogramms, die soziale Revolution zu vollziehen und in der ganzen Welt den Sozialismus und letzten Endes das kommunistische System einzuführen.

Wenn wir diesen außerordentlich wichtigen Kreis von Problemen berühren, die keine bloße Theorie sind, sondern geradezu ein Geflecht von sozio-ökonomischen, politischen und internationalen Lebensvollzügen unserer Epoche, ist es nicht möglich, aber auch nicht notwendig, auf Einzelheiten einzugehen, da diese aufgrund der reichen Literatur wie auch der praktischen Erfahrungen bekannt sind. Man muß vielmehr von ihrem geschichtlichen Kontext auf das zugrundeliegende Problem der menschlichen Arbeit zurückgehen, dem die Erwägungen des vorliegenden Dokumentes vor allem gelten. Umgekehrt läßt sich natürlich dieses zentrale Problem - »zentral« wieder im Hinblick auf den Menschen gesagt, stellt es doch eine der grundlegenden Dimensionen seines irdischen Daseins und seiner Berufung dar - nur dann klären, wenn man dem ganzen Kontext der zeitgenössischen Wirklichkeit Rechnung trägt.

12. Der Vorrang der Arbeit

Angesichts der gegenwärtigen Wirklichkeit, in deren Struktur so viele vom Menschen verursachte Konflikte zutiefst eingefügt sind und in der die technischen Mittel - eine Frucht der menschlichen Arbeit - eine erstrangige Rolle spielen (man denke hier auch an die Möglichkeit eines weltweiten Zusammenbruchs im Falle eines Atomkrieges mit seinen fast unvorstellbaren Zerstörungskräften), muß man vor allem ein Prinzip in Erinnerung rufen, das die Kirche immer gelehrt hat: das Prinzip des Vorranges der Arbeit gegenüber dem Kapital. Dieses Prinzip betrifft direkt den Produktionsprozeß, für den die Arbeit immer eine der hauptsächlichen Wirkursachen ist, während das Kapital, das ja in der Gesamtheit der Produktionsmittel besteht, bloß Instrument oder instrumentale Ursache ist. Dieses Prinzip ist eine offensichtliche Wahrheit, die sich aus der ganzen geschichtlichen Erfahrung des Menschen ergibt.

Wenn wir im ersten Kapitel der Bibel hören, daß der Mensch die Erde sich untertan machen soll, dann wissen wir, daß sich diese Worte auf alle Schätze beziehen, welche die sichtbare Welt zur Verfügung des Menschen in sich birgt. Dennoch können diese Reichtümer nur durch die Arbeit dem Menschen nutzbar gemacht werden. Mit der Arbeit ist von Anfang an auch das Problem des Eigentums verbunden. Tatsächlich verfügt der Mensch, will er die in der Natur verborgenen Schätze sich und den anderen nutzbar machen, nur über ein einziges Mittel, nämlich die Arbeit. Um aber diese Schätze durch seine Arbeit ausnützen zu können, eignet sich der Mensch kleine Teile der Naturschätze des Erdinnern, des Meeres, der Erde, des Weltraums an. Von all dem eignet er sich etwas an und macht daraus seine Werkstatt. Diese Aneignung geschieht durch Arbeit und für weitere Arbeit.

Das gleiche Prinzip läßt sich auf die nachfolgenden Phasen dieses Prozesses anwenden, dessen erste Phase stets die Beziehung des Menschen zu den Schätzen der Natur bleibt. All das Bemühen des Geistes um die Entdeckung dieser Schätze und ihrer verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten durch den Menschen und für den Menschen macht uns bewußt, daß alles, was bei der gesamten Wirtschaftsproduktion vom Menschen stammt - sowohl die Arbeit als auch die Gesamtheit der Produktionsmittel und die mit ihnen verbundene Technik, das heißt die Fähigkeit, diese Mittel bei der Arbeit einzusetzen -, die Schätze der sichtbaren Welt voraussetzt, die der Mensch vorfindet, nicht schafft. Er findet sie gewissermaßen schon fertig vor, bereit für die erkennende Entdeckung und für die richtige Verwendung im Produktionsprozeß. In jeder Phase seiner Arbeit steht der Mensch vor der Tatsache, daß er zuallererst von seiten der Natur und letzten Endes von seiten des Schöpfers beschenkt wird. Am Anfang der menschlichen Arbeit steht das Geheimnis der Schöpfung. Diese bereits als Ausgangspunkt angegebene Feststellung zieht sich wie ein roter Faden durch das vorliegende Dokument und wird in dessen letztem Teil noch weiter entfaltet werden.

Die folgenden Gedanken zu diesem Problem sollen uns bestärken in der Überzeugung vom Vorrang der menschlichen Arbeit gegenüber dem, was mit der Zeit allmählich als »Kapital« bezeichnet wurde. Wenn nämlich zum Bedeutungsbereich dieses Begriffes außer den uns zur Verfügung stehenden Naturschätzen auch das Gesamt all jener Mittel gehört, durch die der Mensch sie sich zu eigen macht und seinen Erfordernissen entsprechend umwandelt, wobei er sie so in gewissem Sinne »humanisiert«, dann muß man bereits hier feststellen, daß diese Gesamtheit der Mittel das geschichtlich gewachsene Erbe menschlicher Arbeit ist. Alle Produktionsmittel, von den primitivsten bis zu den ultramodernen, sind nach und nach vom Menschen erarbeitet worden, von seiner Erfahrung und seiner Intelligenz. Auf diese Weise entstanden nicht nur die einfacheren Werkzeuge, die zur Bebauung der Erde dienen, sondern - dank des entsprechenden Fortschritts der Wissenschaft und Technik - auch die moderneren und komplizierteren: Maschinen, Fabriken, Laboratorien und Computer. So ist alles, was zur Arbeit dient, alles, was beim heutigen Stand der Technik ihr immer vollkommeneres »Werkzeug« darstellt, eine Frucht der Arbeit.

Dieses gigantische und mächtige Werkzeug - die Gesamtheit der Produktionsmittel, die in gewissem Sinne mit dem »Kapital« gleichgesetzt werden - ist Frucht der menschlichen Arbeit und trägt deren Zeichen. Wenn der Mensch, das Subjekt der Arbeit, beim heutigen Ausmaß technischen Fortschritts, sich dieser Gesamtheit moderner Instrumente, der Produktionsmittel also, bedienen will, muß er sich zuerst die Frucht der Arbeit jener Menschen geistig aneignen, die diese Instrumente erfunden, geplant, konstruiert und vervollkommnet haben und dies noch weiterhin tun. Die Arbeitsfähigkeit, das heißt die Fähigkeit wirksamer Teilnahme am modernen Produktionsprozeß, erfordert eine immer bessere Vorbereitung und vor allem eine entsprechende Ausbildung. Natürlich bleibt bestehen, daß jeder Mensch, der am Produktionsprozeß teilnimmt - auch dann, wenn er nur eine solche Arbeit verrichtet, für die weder eine besondere Ausbildung noch spezielle Voraussetzungen erforderlich sind -, in diesem Prozeß als echtes Subjekt wirksam ist, während sämtliche Instrumente, seien sie als solche auch noch so vollkommen, einzig und allein dem menschlichen Tun untergeordnete Werkzeuge sind.

Diese Wahrheit, die zum festen Bestand der kirchlichen Lehre gehört, muß im Zusammenhang mit der Frage der Arbeitsordnung und auch des gesamten sozio-ökonomischen Systems immer wieder betont werden. Man muß den Primat des Menschen im Produktionsprozeß, den Primat desMenschen gegenüber den Dingen unterstreichen und herausstellen. Alles, was der Begriff »Kapital« - im engeren Sinn - umfaßt, ist nur eine Summe von Dingen. Der Mensch als Subjekt der Arbeit und unabhängig von der Arbeit, die er verrichtet, der Mensch und er allein ist Person. Diese Wahrheit enthält wichtige und entscheidende Folgerungen.

13. Ökonomismus und Materialismus

Vor allem wird im Licht dieser Wahrheit ganz deutlich, daß man das Kapital nicht von der Arbeit trennen und man keineswegs die Arbeit und das Kapital in einen Gegensatz zueinander stellen kann, geschweige denn - wie später erläutert werden wird - die konkreten Menschen, die jeweils hinter diesen Begriffen stehen. Richtig, das heißt dem Wesen des Problems entsprechend, richtig, das heißt innerlich wahr und zugleich moralisch zulässig, kann eine Arbeitsordnung nur dann sein, wenn sie schon in ihren Grundlagen den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital überwindet und versucht, sich nach dem oben dargelegten Prinzip des wesenhaften und effektiven Vorranges der Arbeit aufzubauen, nach dem Prinzip des Menschen als des Subjektes der Arbeit und seiner wirksamen Teilnahme am ganzen Produktionsprozeß, unabhängig von der Art der Leistungen, die der Arbeitende erbringt.

Der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital hat seinen Ursprung nicht in der Struktur des eigentlichen Produktionsprozesses und auch nicht in jener des allgemeinen Wirtschaftsprozesses. Dieser Prozeß zeigt vielmehr eine gegenseitige Durchdringung von Arbeit und dem, was wir gewöhnlich als Kapital bezeichnen, zeigt deren unauflösbare Verbindung. In jeder Werkstätte, sei sie verhältnismäßig einfach oder auch ultramodern, kann sich der Mensch leicht darüber klar werden, daß er mit seiner Arbeit in ein doppeltes Erbe eintritt, in jenes, das die allen Menschen gegebenen Naturschätze bilden, und in jenes, das andere schon vor ihm aus diesen Naturschätzen erarbeitet haben vor allem durch die Entwicklung der Technik, nämlich durch die Herstellung immer vollkommenerer Arbeitsgeräte: arbeitend tritt der Mensch zugleich in die Arbeit anderer ein. 21 Vom Verstand und auch von unserem aus dem Wort Gottes erleuchteten Glauben her nehmen wir ohne Schwierigkeiten ein solches Bild vom Schauplatz und vom Prozeß menschlicher Arbeit an. Es ist ein vollständiges, Gott und den Menschen einbeziehendes Bild. Der Mensch ist darin »Herr« der Geschöpfe, die in der sichtbaren Welt seiner Verfügung unterstellt sind. Wenn im Lauf des Arbeitsprozesses eine Abhängigkeit aufscheint, so ist es die Abhängigkeit vom Geber aller guten Gaben der Schöpfung und dazu diejenige von anderen Menschen, deren Arbeit und Initiative wir unsere bereits vervollkommneten und erweiterten Arbeitsmöglichkeiten verdanken. Von alledem, was im Produktionsprozeß eine Summe von »Sachen« darstellt, von den Instrumenten und vom Kapital, können wir nur sagen, daß es die Arbeit des Menschen »bedingt«, nicht aber, daß es gleichsam ein anonymes »Subjekt« bildet, von dem der Mensch und seine Arbeit abhängig wären.

Das Zerbrechen dieses vollständigen Bildes, in dem das Prinzip des Primates der Person über die Sachen voll zur Geltung kommt, hat sich im menschlichen Denken vollzogen - manchmal nach einer langen, unterschwelligen Vorbereitung im praktischen Leben -, und zwar dergestalt, daß die Arbeit vom Kapital getrennt und beide in einen Gegensatz zueinander gestellt wurden, als ob es sich um zwei anonyme Kräfte handle, um zwei Produktionsfaktoren, beide von derselben »ökonomistischen« Betrachtungsweise nebeneinander gesetzt. Ein solcher Problemansatz enthielt den grundlegenden Irrtum, den man als Irrtum des Ökonomismus bezeichnen kann, wenn er die menschliche Arbeit ausschließlich nach ihrer wirtschaftlichen Zielsetzung betrachtet. Man kann und muß diesen fundamentalen Irrtum des Denkens auch einen Irrtum des Materialismus nennen, insofern der Ökonomismus direkt oder indirekt die Überzeugung vom Primat und Vorrang des Materiellen enthält, während er das Geistige und Personhafte (das Wirken des Menschen, die moralischen Werte und ähnliches) direkt oder indirekt der materiellen Wirklichkeit unterordnet. Das ist noch nicht der theoretische Materialismus im Vollsinn des Wortes, aber sicher schon ein praktischer Materialismus, der nicht so sehr wegen seiner aus der materialistischen Theorie abgeleiteten Voraussetzungen für fähig gehalten wird, die Bedürfnisse des Menschen zu erfüllen, sondern aufgrund einer bestimmten Art zu werten, also aufgrund einer gewissen auf die unmittelbare und größere Anziehungskraft des Materiellen gegründeten Rangordnung der Werte. Das irrige Denken nach den Kategorien des Ökonomismus ging Hand in Hand mit dem Auftauchen der materialistischen Philosophie und mit ihrer Entwicklung von der mehr elementaren und allgemeinen Phase (auch Vulgärmaterialismus genannt, weil er beansprucht, die geistige Wirklichkeit zu einem überflüssigen Phänomen zu machen) zur Phase des sogenannten dialektischen Materialismus. Allerdings scheint es, daß - im Rahmen der vorliegenden Erwägungen - der Ökonomismus für das grundlegende Problem der menschlichen Arbeit und insbesondere für jene Trennung und Gegenüberstellung von »Arbeit« und »Kapital« als zwei Produktionsfaktoren, die man beide nur in der oben genannten ökonomistischen Weise sehen wollte, von entscheidender Bedeutung war und gerade diesen inhumanen Problemansatz noch vor dem philosophischen System des Materialismus geprägt hat. Doch ist offensichtlich auch der Materialismus nicht in der Lage, auch nicht in seiner dialektischen Form, der Reflexion über die menschliche Arbeit hinreichende und entscheidende Grundlagen zu bieten, durch die er dem Vorrang des Menschen vor dem Instrument »Kapital«, dem Vorrang der Person vor der Sache eine angemessene und unwiderlegbare Begründung und Stütze geben könnte. Auch im dialektischen Materialismus ist der Mensch nicht in erster Linie Subjekt der Arbeit und Wirkursache des Produktionsprozesses, sondern wird in Abhängigkeit vom Materiellen gesehen und behandelt, als eine Art »Ergebnis« der die betreffende Zeit prägenden Wirtschafts- und Produktionsverhältnisse.

Selbstverständlich nimmt der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, von dem hier die Rede ist - der Gegensatz, der die Arbeit vom Kapital trennt und diesem wie ein eigenes »Ding« gegenüberstellt, als wäre sie irgendein beliebiges Element des wirtschaftlichen Prozesses -, nicht nur in der Philosophie und in den Wirtschaftstheorien des 18. Jahrhunderts seinen Anfang, sondern viel mehr noch in der gesamten wirtschaftlich-sozialen Praxis jener Zeit der beginnenden und rasch fortschreitenden Industrialisierung, bei der man vor allem die Möglichkeit einer starken Vermehrung der materiellen Reichtümer, also der Mittel, entdeckte, während man das Ziel, den Menschen, dem diese Mittel dienen müssen, aus dem Auge verlor. Gerade dieser praktische Irrtum hat vor allem die menschliche Arbeit, den arbeitenden Menschen getroffen und die ethisch gerechtfertigte Reaktion verursacht, von der bereits die Rede war. Der gleiche Irrtum, der nun bereits sein bestimmtes, mit dieser Zeit des ersten Kapitalismus und des Liberalismus verbundenes historisches Profil hat, kann sich unter anderen zeitlichen und örtlichen Umständen wiederholen, wenn man bei der Reflexion von den gleichen theoretischen und praktischen Voraussetzungen ausgeht. Eine radikale Überwindung dieses Irrtums erscheint unmöglich, solange es nicht zu angemessenen Änderungen kommt sowohl auf theoretischem wie auch auf praktischem Gebiet, Änderungen auf der Linie einer entschiedenen Überzeugung vom Primat der Person über die Sache, der menschlichen Arbeit über das Kapital als die Gesamtheit der Produktionsmittel.

14. Arbeit und Eigentum

Der hier kurz geschilderte historische Prozeß, der sicher sein Anfangsstadium schon überschritten hat, aber immer noch im Gange ist und sich durch die Beziehungen zwischen den Nationen und Kontinenten sogar noch ausweitet, erfordert auch unter einem anderen Gesichtspunkt eine Klarstellung. Wenn man von einer Antinomie zwischen Arbeit und Kapital spricht, so sind damit selbstverständlich nicht nur abstrakte oder »anonyme Kräfte« gemeint, die bei der wirtschaftlichen Produktion am Werk sind. Hinter beiden Begriffen stehen Menschen, lebende, konkrete Menschen; auf der einen Seite diejenigen, welche die Arbeit verrichten, ohne Eigentümer der Produktionsmittel zu sein, auf der anderen Seite jene, welche die Rolle des Unternehmers innehaben und entweder selbst die Eigentümer dieser Mittel sind oder deren Vertreter. So ist also im Ganzen dieses schwierigen historischen Prozesses von Anfang an das Problem des Eigentums enthalten. Die Enzyklika Rerum novarum, deren Thema die soziale Frage ist, legt auch auf dieses Problem Gewicht, indem sie die Lehre der Kirche über das Eigentum, über das Recht auf Privateigentum auch hinsichtlich der Produktionsmittel in Erinnerung bringt und bestätigt. Das gleiche tat die Enzyklika Mater et magistra.

Dieses Prinzip, wie es damals betont wurde und noch heute von der Kirche gelehrt wird, unterscheidet sich radikal vom Programm des Kollektivismus, das vom Marxismus proklamiert und im Laufe der Jahrzehnte seit der Enzyklika Leos XIII. in verschiedenen Ländern der Welt verwirklicht worden ist. Es unterscheidet sich zugleich vom Programm des Kapitalismus, das vom Liberalismus und den von ihm inspirierten politischen Systemen verwirklicht wird. In diesem zweiten Fall liegt der Unterschied in der Auffassung selbst vom Recht auf Eigentum. Die christliche Tradition hat dieses Recht nie als absolut und unantastbar betrachtet. Ganz im Gegenteil, sie hat es immer im größeren Rahmen des gemeinsamen Rechtes aller auf die Nutzung der Güter der Schöpfung insgesamt gesehen: das Recht auf Privateigentum als dem gemeinsamen Recht auf Nutznießung untergeordnet, als untergeordnet der Bestimmung der Güter für alle.

Außerdem hat die Lehre der Kirche das Eigentum nie so aufgefaßt, daß es zur Ursache sozialen Kontrastes in der Arbeit hätte werden können. Wie bereits erwähnt, erwirbt man Eigentum vor allem durch Arbeit und, damit es der Arbeit diene. Das gilt besonders für das Eigentum an Produktionsmitteln. Eine Auffassung, welche diese isoliert betrachtet, als einen geschlossenen Komplex von Eigentum, der dann als »Kapital« der »Arbeit« gegenüberstände oder sie gar ausbeuten sollte, steht im Gegensatz zum Wesen dieser Mittel und ihres Besitzes. Man darf sie nicht gegen die Arbeit besitzen; man darf sie auch nicht um des Besitzes willen besitzen, weil das einzige Motiv, das ihren Besitz rechtfertigt - sei es in der Form des Privateigentums, sei es in der des öffentlichen oder kollektiven Eigentums -, dies ist, der Arbeit zu dienen und dadurch die Verwirklichung des ersten Prinzips der Eigentumsordnung zu ermöglichen: die Bestimmung der Güter für alle und das gemeinsame Recht auf ihren Gebrauch. Unter diesem Gesichtspunkt also, im Hinblick auf die menschliche Arbeit und den gemeinsamen Zugang zu den Gütern, die dem Menschen zugedacht sind, ist unter den entsprechenden Bedingungen auch die Sozialisierung gewisser Produktionsmittel nicht auszuschließen. All diese Prinzipien hat die Kirche bei ihrer Unterweisung im Laufe der Jahrzehnte seit der Veröffentlichung der Enzyklika Rerum novarum immer betont, wobei sie sich auf Argumente bezog, die eine viel ältere Tradition formuliert hatte, zum Beispiel auf die bekannten Argumente der Summa Theologiae des heiligen Thomas von Aquin. 22

Im vorliegenden Dokument, dessen Hauptthema die menschliche Arbeit ist, soll all der Nachdruck bestätigt werden, mit dem die Unterweisung der Kirche über das Eigentum den Primat der Arbeit und damit den Subjektcharakter des Menschen im sozialen Leben und vor allem in der dynamischen Struktur des gesamten Wirtschaftsprozesses bisher zu sichern suchte und dies weiterhin versucht. In dieser Hinsicht bleibt der Standpunkt des »strengen« Kapitalismus, der das ausschließliche Recht des Privateigentums an den Produktionsmitteln wie ein unantastbares »Dogma« des Wirtschaftslebens verteidigt, weiterhin unannehmbar. Der Grundsatz von der Achtung der Arbeit fordert, daß dieses Recht einer konstruktiven - theoretischen und praktischen - Revision unterzogen wird. Denn wenn es wahr ist, daß das Kapital als Gesamtheit der Produktionsmittel zugleich die Frucht der Arbeit von Generationen darstellt, so ist es ebenso wahr, daß es ununterbrochen neu entsteht durch die Arbeit mit diesen Produktionsmitteln, die einer großen Werkbank gleichen, wo Tag für Tag die gegenwärtige Generation der Arbeitenden im Einsatz ist. Es handelt sich hier selbstverständlich um die verschiedenen Arten von Arbeit, nicht nur um die sogenannte Handarbeit, sondern auch um die vielgestaltige intellektuelle Arbeit von der Forschung bis zur Führung.

In diesem Licht gewinnen die zahlreichen, von den Fachleuten der katholischen Soziallehre und auch vom obersten kirchlichen Lehramt 23 vorgebrachten Anregungen besondere Bedeutung. Sie betreffen das Miteigentum an den Produktionsmitteln, die Mitbestimmung, die Gewinnbeteiligung, die Arbeitnehmeraktien und ähnliches. Unabhängig von der konkreten Möglichkeit, diese verschiedenen Anregungen zu verwirklichen, bleibt es offensichtlich, daß die Anerkennung der richtig verstandenen Stellung der Arbeit und des arbeitenden Menschen im Produktionsprozeß verschiedene Anpassungen des Rechtswesens auf dem Gebiet des Eigentums an Produktionsmitteln erfordert. Das gilt nicht nur im Hinblick auf schon länger bestehende Verhältnisse, sondern in erster Linie für die Realität und Problemlage, die sich in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in der sogenannten Dritten Welt herausgebildet haben mit den verschiedenen neuen, unabhängigen Ländern, die - vor allem in Afrika - an der Stelle ehemaliger Kolonialgebiete entstanden sind.

Wenn also der Standpunkt des »strengen« Kapitalismus einer ständigen Revision mit dem Ziel einer Reform unter der Rücksicht der Menschenrechte unterzogen werden muß - wobei die Menschenrechte im weitesten Sinn und im Zusammenhang mit der Arbeit zu verstehen sind -, so muß man unter dem gleichen Gesichtspunkt feststellen, daß diese vielfältigen und so sehr erwünschten Reformen nicht a priori durch eine Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln verwirklicht werden können. Denn es ist zu bedenken, daß es für eine zufriedenstellende Sozialisierung der Produktionsmittel (des Kapitals) nicht genügt, sie einfach den Händen ihrer privaten Eigentümer zu entziehen. Sie hören in diesem Fall nur auf, Eigentum einer bestimmten Gesellschaftsgruppe, der privaten Eigentümer, zu sein, um dafür Eigentum der organisierten Gesellschaft zu werden und dabei unter die Verwaltung und direkte Kontrolle einer anderen Personengruppe zu geraten, die, ohne Eigentümer der Produktionsmittel zu sein, durch ihre Machtposition in der Gesellschaft darüber auf der Ebene der gesamten nationalen oder der örtlichen Wirtschaft verfügt.

Diese führende und verantwortliche Gruppe kann ihre Aufgaben in einer vom Standpunkt des Primates der Arbeit befriedigenden Weise erfüllen; sie kann sie aber auch schlecht erfüllen, indem sie für sich das Monopol in Anspruch nimmt, die Produktionsmittel zu verwalten und über sie zu verfügen, und dabei nicht einmal vor der Verletzung fundamentaler Menschenrechte zurückschreckt. So ist also der bloße Übergang der Produktionsmittel in Staatseigentum im kollektivistischen System keineswegs schon gleichbedeutend mit einer »Sozialisierung« dieses Eigentums. Von Sozialisierung kann man nur dann sprechen, wenn der Subjektcharakter der Gesellschaft garantiert ist, das heißt wenn jeder aufgrund der eigenen Arbeit den vollen Anspruch hat, sich zugleich als Miteigentümer der großen Werkstätte zu betrachten, in der er gemeinsam mit allen anderen arbeitet. Ein Weg auf dieses Ziel hin könnte sein, die Arbeit soweit wie möglich mit dem Eigentum am Kapital zu verbinden und eine große Vielfalt mittlerer Körperschaften mit wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Zielsetzung ins Leben zu rufen: Körperschaften mit echter Autonomie gegenüber den öffentlichen Behörden, Körperschaften, die ihre spezifischen Ziele in ehrlicher Zusammenarbeit und mit Rücksicht auf die Forderungen des Gemeinwohls verfolgen und sich in Form und Wesen als lebensvolle Gemeinschaften erweisen, so daß sie ihre Mitglieder als Personen betrachten und behandeln und zu aktiver Teilnahme an ihrem Leben anregen. 24

15. Der personale Gesichtspunkt

So ist also das Prinzip des Primates der Arbeit vor dem Kapital eine Forderung sozialethischer Natur. Diese Forderung nimmt sowohl in demjenigen System eine Schlüsselstellung ein, das sich auf dem Grundsatz des privaten Eigentums an Produktionsmitteln aufbaut, als auch in jenem, in dem dieses, zuweilen sogar bis an die Wurzel, eingeschränkt worden ist. Die Arbeit ist in gewisser Hinsicht untrennbar mit dem Kapital verbunden und duldet in keiner Form jene Antinomie, die sie von den Produktionsmitteln trennen und ihnen entgegenstellen will und die als Ergebnis rein wirtschaftlichen Denkens das Leben der Menschen während der letzten Jahrhunderte belastet hat. Wenn der Mensch arbeitet und sich dabei der Gesamtheit der Produktionsmittel bedient, so möchte er zugleich, daß die Früchte dieser Arbeit ihm und den anderen zugute kommen und daß er bei diesem Arbeitsprozeß Mitverantwortlicher und Mitgestalter in der Werkstätte sein darf, in der er tätig ist.

Daraus ergeben sich einige spezifische Rechte der Arbeitnehmer, welche der Verpflichtung zur Arbeit entsprechen. Es wird davon in der Folge die Rede sein. Schon hier ist jedoch allgemein hervorzuheben, daß der Arbeitende nicht nur das geschuldete Entgelt für seine Arbeit erwartet, sondern auch, daß im Produktionsprozeß selbst die Möglichkeit erwogen werde, daß er bei seiner Arbeit - auch bei Gemeinschaftseigentum - gleichzeitig das Bewußtsein haben könne, im eigenen Bereich zu arbeiten. Dieses Bewußtsein wird in ihm ausgelöscht bei einem System übermäßiger bürokratischer Zentralisierung, wo sich der Arbeitnehmer eher als Rädchen in einem von oben bewegten Mechanismus vorkommt und sich - aus mehr als einem Grund - eher als bloßes Produktionsmittel denn als echtes Subjekt der Arbeit fühlt, das mit Eigeninitiative begabt ist. Die Lehre der Kirche hat immer die sichere und tiefe Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die menschliche Arbeit nicht nur mit der Wirtschaft zu tun hat, sondern auch und vor allem personale Werte mitbetrifft. Die volle Achtung dieser personalen Werte gereicht gerade dem Wirtschaftssystem selbst und dem Produktionsprozeß zum Vorteil. Nach dem heiligen Thomas von Aquin 25 ist es vor allem dieser Grund, der für das Privateigentum an den Produktionsmitteln spricht. Wenn wir auch anerkennen, daß aus bestimmten begründeten Motiven Ausnahmen vom Grundsatz des Privateigentums gemacht werden können - heutzutage sind wir sogar Zeugen der Einführung des Systems »sozialisierten« Eigentums -, so verliert dennoch der personale Gesichtspunkt weder auf grundsätzlicher noch auf praktischer Ebene seine Bedeutung. Jede Sozialisierung von Produktionsmitteln, die überlegt und fruchtbar sein will, muß diesen Gesichtspunkt berücksichtigen. Man muß alles daransetzen, daß der Mensch auch in einem solchen System das Bewußtsein behalten kann, im eigenen Bereich zu arbeiten. Sonst ergeben sich im ganzen Wirtschaftsprozeß unkalkulierbare Schäden, und zwar nicht nur wirtschaftlicher Art, sondern vor allem Schäden am Menschen

IV. DIE RECHTE DES ARBEITENDEN MENSCHEN

 

16. Im großen Zusammenhang der Menschenrechte

Wenn die Arbeit eine Pflicht im mehrfachen Sinne dieses Wortes ist, eine Verpflichtung, dann ist sie zugleich auch eine Quelle von Rechten des Arbeitnehmers. Diese Rechte müssen untersucht werden im großen Zusammenhang der Menschenrechte insgesamt, der Rechte, die sich aus der Natur des Menschen ergeben und von denen viele durch verschiedene internationale Stellen proklamiert sind und von den einzelnen Staaten für ihre Bürger immer mehr garantiert werden. Die Achtung dieses weiten Gefüges der Menschenrechte stellt die Grundbedingung für den Frieden in der Welt von heute dar: für den Frieden sowohl im Inneren der einzelnen Länder und Völker als auch auf internationaler Ebene. Das Lehramt der Kirche hat dies schon oft betont, besonders seit der Enzyklika »Pacem in terris«. In den weiteren Rahmen dieser fundamentalen Rechte der Person lassen sich die Menschenrechte, die der Arbeit entspringen, ohne Schwierigkeit einfügen.

Dennoch weisen sie innerhalb dieses Rahmens einen spezifischen Charakter auf, welcher der besonderen, oben dargelegten Natur der menschlichen Arbeit entspricht, und gerade diesem Charakter gemäß müssen wir sie nun betrachten. Die Arbeit ist, wie gesagt, eine Pflicht, eine Verpflichtung des Menschen, und das im mehrfachen Sinne dieses Wortes. Der Mensch muß arbeiten, einmal weil es ihm der Schöpfer aufgetragen hat, dann wegen seiner Menschennatur, für deren Erhaltung und Entwicklung die Arbeit erforderlich ist. Der Mensch schuldet die Arbeit auch seinen Mitmenschen, insbesondere seiner Familie, aber auch der Gesellschaft, der er angehört, der Nation, deren Sohn oder Tochter er ist, der ganzen Menschheitsfamilie, deren Glied er ist: Erbe der Arbeit von Generationen und zugleich Mitgestalter der Zukunft derer, die im Ablauf der Geschichte nach ihm kommen werden. All das macht die moralische Verpflichtung zur Arbeit aus, im weiten Sinne jenes Wortes. Wenn es um die moralischen Rechte jedes Menschen hinsichtlich der Arbeit geht, welche dieser Verpflichtung entsprechen, muß man also immer das ganze, weite Bezugssystem vor Augen haben, in dem sich die Tätigkeit jedes arbeitenden Menschen abspielt.

So haben wir, wenn wir von der Verpflichtung zur Arbeit und den Rechten des Arbeitnehmers sprechen, welche dieser Verpflichtung entsprechen, vor allem die Beziehung zwischen dem direkten oder indirekten Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer im Sinn.

Die Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Arbeitgeber erscheint sehr wichtig im Hinblick auf die konkrete Organisation der Arbeit wie auch auf das mögliche Entstehen gerechter oder ungerechter Beziehungen im Arbeitsbereich.

Wenn direkter Arbeitgeber jene Person oder Institution ist, mit der ein Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag unter bestimmten Bedingungen direkt abschließt, so muß man als indirekten Arbeitgeber die zahlreichen, verschiedenartigen Faktoren »hinter« dem direkten Arbeitgeber verstehen, die sowohl auf die Fassung des Arbeitsvertrages als somit auch auf das Entstehen mehr oder weniger gerechter Beziehungen im Bereich der menschlichen Arbeit einwirken.

17. »Indirekter« und »direkter« Arbeitgeber

Der Begriff des indirekten Arbeitgebers umfaßt Personen wie auch Institutionen verschiedener Art; er umfaßt auch kollektive Arbeitsverträge und Verhaltensprinzipien, die von diesen Personen und Institutionen festgelegt sind und das ganze sozio-ökonomische System bestimmen oder sich aus ihm ergeben. Der Begriff des indirekten Arbeitgebers bezieht sich somit auf viele verschiedene Elemente. Die Verantwortung des indirekten Arbeitgebers unterscheidet sich von der des direkten, wie schon das Wort besagt: die Verantwortung ist weniger direkt, bleibt jedoch eine echte Verantwortung; der indirekte Arbeitgeber bestimmt wesentlich den einen oder anderen Aspekt des Arbeitsverhältnisses und bedingt so das Verhalten des direkten Arbeitgebers, wenn dieser den Arbeitsvertrag und das Arbeitsverhältnis konkret festlegt. Eine solche Feststellung verfolgt nicht das Ziel, den direkten Arbeitgeber von der ihm eigenen Verantwortung zu entbinden, sondern möchte nur die Aufmerksamkeit auf das Geflecht von Bedingtheiten lenken, die sein Verhalten beeinflussen. Wenn es um die Fassung einer ethisch korrekten Arbeitspolitik geht, muß man all diese Bedingtheiten vor Augen haben. Und sie ist korrekt, wenn die objektiven Rechte des Arbeitnehmers vollauf gewahrt sind.

Der Begriff des indirekten Arbeitgebers läßt sich auf jedes einzelne Land und vor allem auf den Staat anwenden. Gerade dem Staat obliegt ja eine gerechte Arbeitspolitik. Es ist jedoch bekannt, daß im heutigen System der Weltwirtschaft zahlreiche Verbindungen zwischen den einzelnen Staaten bestehen, zum Beispiel im Bereich von Ein- und Ausfuhr, also des gegenseitigen Tausches von Wirtschaftsgütern, seien dies Rohstoffe, Halbfabrikate oder Fertigprodukte. Diese Beziehungen schaffen auch gegenseitige Abhängigkeiten, weshalb es heute schwer wäre, bei irgendeinem Staat, und sei er auch wirtschaftlich der mächtigste, von voller Selbstversorgung, von Autarkie, zu sprechen.

Ein solches System gegenseitiger Abhängigkeiten ist an sich etwas Normales; es kann aber leicht zum Anlaß verschiedener Formen von Ausbeutung und Ungerechtigkeit werden und folglich die Arbeitspolitik der einzelnen Staaten und somit letzten Endes den einzelnen Arbeitnehmer, das eigentliche Subjekt der Arbeit, beeinflussen. So suchen zum Beispiel die hochindustrialisierten Länder und mehr noch jene Unternehmen, welche in hohem Maß über die industriellen Produktionsmittel bestimmen (die sogenannten multinationalen oder übernationalen Unternehmen), während sie die Preise für ihre Produkte möglichst hoch festsetzen, gleichzeitig die Preise der Rohstoffe oder der Halbfabrikate möglichst niedrig zu halten, was zusammen mit anderen Ursachen zu einem immer größeren Mißverhältnis zwischen den Nationaleinkommen der betroffenen Länder führt. Dieser Abstand zwischen den meisten reichen und den ärmeren Ländern verringert sich nicht und gleicht sich nicht aus, sondern wird immer noch größer, natürlich den letzteren zum Schaden. Es liegt auf der Hand, daß dies nicht ohne Auswirkungen auf die lokale Arbeitspolitik und auf die Lage des arbeitenden Menschen in den wirtschaftlich benachteiligten Ländern bleiben kann. Der direkte Arbeitgeber, der in einem ähnlichen System von Bedingtheiten steht, setzt die Arbeitsbedingungen unter dem objektiven Bedarf und Anspruch der Arbeitnehmer an, vor allem dann, wenn er selbst möglichst hohe Gewinne aus dem von ihm geführten Unternehmen ziehen will (oder aus mehreren von ihm geführten Unternehmen im Fall von »sozialisiertem« Eigentum an den Produktionsmitteln).

Dieses System der Abhängigkeiten, die zum Begriff des indirekten Arbeitgebers gehören, ist, wie man leicht folgern kann, sehr ausgedehnt und kompliziert. Um es näher zu bestimmen, muß man gewissermaßen die Gesamtheit der für das wirtschaftliche Leben im Profil des betreffenden Landes und Staates entscheidenden Elemente berücksichtigen; gleichzeitig jedoch muß man noch viel weitere Verbindungen und Abhängigkeiten im Auge haben. Die Verwirklichung der Rechte des Arbeitnehmers darf aber nicht dazu verurteilt sein, nur einen Ableger von Wirtschaftssystemen darzustellen, die mehr oder weniger ausschließlich vom Gesichtspunkt des größtmöglichen Profits geleitet würden. Ganz im Gegenteil, gerade die Rücksicht auf die objektiven Rechte des Arbeitenden (jede Art von Arbeit eingeschlossen: körperliche und geistige, in Industrie und Landwirtschaft) ist es, die einen angemessenen und grundlegenden Maßstab für den Aufbau der gesamten Wirtschaft bilden muß, sowohl innerhalb von Land und Staat als auch im Gesamt der Weltwirtschaftspolitik mit den von ihr bestimmten internationalen Systemen und Beziehungen.

In dieser Richtung sollten alle dazu berufenen internationalen Organisationen ihren Einfluß geltend machen, angefangen von der Organisation der Vereinten Nationen. Das Internationale Arbeitsamt OIT und die Unterorganisation der Vereinten Nationen für Ernährung und Landwirtschaft FAO und noch andere mehr können wahrscheinlich gerade hierzu neue Beiträge anbieten. Auf der Ebene der einzelnen Staaten gibt es Ministerien, Behörden und auch verschiedene gesellschaftliche Einrichtungen zu diesem Zweck. All das macht unübersehbar, welch große Bedeutung, wie erwähnt, dem indirekten Arbeitgeber bei der Verwirklichung der vollen Achtung der Rechte des Arbeitnehmers zukommt; denn die Rechte der menschlichen Person sind in der gesamten Sozialmoral das entscheidende Element.

18. Das Problem des Arbeitsplatzes

Wenn man die Rechte der Arbeitenden gerade im Hinblick auf diesen »indirekten Arbeitgeber« bedenkt, also im Hinblick auf das Gefüge der nationalen und internationalen Stellen, die für die ganze Ausrichtung der Arbeitspolitik verantwortlich sind, muß man seine Aufmerksamkeit zuerst auf ein grundlegendes Problem richten, nämlich auf das Problem des Arbeitsplatzes, mit anderen Worten, auf das Problem einer geeigneten Beschäftigung für alle Arbeitsfähigen. Das Gegenteil einer gerechten und geordneten Situation auf diesem Gebiet ist die Arbeitslosigkeit, der Mangel an Arbeitsplätzen für Arbeitsfähige. Es kann sich dabei um eine allgemeine oder eine auf einzelne Sektoren beschränkte Arbeitslosigkeit handeln. Aufgabe der genannten Institutionen, die hier unter dem Namen des indirekten Arbeitgebers verstanden werden, ist es, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, die in jedem Fall ein Übel ist und, wenn sie große Ausmaße annimmt, zu einem echten sozialen Notstand werden kann. Ein besonders schmerzliches Problem wird sie, wenn sie vor allem die Jugendlichen trifft, die nach einer entsprechenden allgemeinbildenden, technischen und beruflichen Vorbereitung keinen Arbeitsplatz finden können und ihren ehrlichen Arbeitswillen und ihre Bereitschaft, die ihnen zukommende Verantwortung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gesellschaft zu übernehmen, schmerzlich frustriert sehen. Die Pflicht der Hilfeleistung für die Arbeitslosen, das heißt die Verpflichtung, den beschäftigungslosen Arbeitnehmern und ihren Familien durch die dazu nötige entsprechende Unterstützung den Lebensunterhalt zu sichern, entspringt dem Grundprinzip der für diesen Bereich gültigen sittlichen Ordnung, nämlich dem Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der Güter oder, anders und einfacher ausgedrückt, dem Recht auf Leben und Unterhalt.

Um der Gefahr der Arbeitslosigkeit entgegenzutreten und allen einen Arbeitsplatz zu sichern, müssen die hier als »indirekte Arbeitgeber« bezeichneten Stellen für eine Gesamtplanung zugunsten jener differenzierten Werkstatt sorgen, in der sich nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das kulturelle Leben eines Landes formt; darüber hinaus müssen sie auf eine korrekte und rationelle Organisation der Arbeit in dieser Werkstatt achten. Diese Gesamtsorge obliegt letzten Endes dem Staat, darf jedoch nicht einer einseitigen Zentralisierung durch die öffentliche Hand gleichkommen . Es geht vielmehr um eine gerechte und überlegte Koordinierung, in deren Rahmen die freie Initiative der einzelnen Personen, der unabhängigen Gruppen, der örtlichen Betriebe und Unternehmen garantiert sein muß, unter Berücksichtigung dessen, was oben bereits über den subjekthaften Charakter der menschlichen Arbeit gesagt worden ist.

Die Tatsache der gegenseitigen Abhängigkeit der einzelnen Länder und Staaten und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten fordern, daß man - unter Berücksichtigung der souveränen Rechte eines jeden von ihnen auf den Gebieten der Planung und der Organisation der Arbeit im eigenen Bereich - in diesem wichtigen Sektor gleichzeitig auf der Ebene der internationalen Zusammenarbeit durch entsprechende Verträge und Vereinbarungen tätig wird. Auch hier muß das Grundanliegen solcher Verträge und Vereinbarungen immer mehr die menschliche Arbeit werden, als Grundrecht aller Menschen verstanden; die Arbeit, welche allen, die sie verrichten, analoge Rechte verleiht, so daß der Lebensstandard der Arbeitenden in den einzelnen Ländern immer weniger jene Ärgernis erregenden Unterschiede aufweise, die ungerecht sind und sogar gewaltsame Reaktionen hervorrufen können. Die internationalen Organisationen haben auf diesem Gebiet enorme Aufgaben zu erfüllen. Sie müssen sich dabei von einer genauen Diagnose der vielschichtigen Situationen und ihrer naturgegebenen, geschichtlichen, politischen und sonstigen Bedingungen leiten lassen; darüber hinaus müßten sie in der Verwirklichung der gemeinsam festgelegten Aktionspläne eine größere Leistungsfähigkeit und Effizienz erlangen.

Auf diesem Wege ließe sich der Plan eines universalen und ausgeglichenen Fortschritts aller verwirklichen, wie er den Leitfaden der Enzyklika Populorum progressio Pauls VI. bildet. Dabei ist hervorzuheben, daß das entscheidende Element und gleichzeitig der beste Prüfstein eines solchen Fortschritts im Geist der Gerechtigkeit und des Friedens, wie ihn die Kirche verkündet und unaufhörlich vom Vater aller Menschen und Völker erbittet, gerade die ständige Aufwertung der menschlichen Arbeit ist, sei es unter dem Gesichtspunkt ihrer objektiven Zielsetzung, sei es im Hinblick auf die Würde des Subjekts jeder Arbeit, das der Mensch ist. Der Fortschritt, um den es sich handelt, muß sich durch den Menschen und für den Menschen vollziehen und in ihm Früchte tragen. Prüfstein dieses Fortschritts wird eine immer echtere Anerkennung der Zielsetzung der Arbeit und eine immer allgemeinere Achtung der Rechte sein, die sich aus ihr entsprechend der Würde des Menschen, der das Subjekt der Arbeit ist, ergeben.

Vernünftige Planung und angemessene Organisation der menschlichen Arbeit im Rahmen der einzelnen Länder und Staaten sollten auch die Ermittlung des rechten Verhältnisses zwischen den verschiedenen Arten von Beschäftigung erleichtern: Arbeit in der Landwirtschaft, in der Industrie und in den vielfältigen Dienstleistungsberufen, Arbeit in der Verwaltung wie auch in der Wissenschaft und Kunst, je nach den Fähigkeiten der einzelnen Menschen und für das Gemeinwohl der einzelnen Länder und der ganzen Menschheit. Der Organisation des menschlichen Lebens nach den vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten müßte ein angemessenes Unterrichts- und Erziehungssystem entsprechen; es sollte in erster Linie die Entwicklung einer reifen Menschlichkeit zum Ziel haben, dann aber auch die fachliche Befähigung, um nutzbringend einen rechten Platz in der großen und sozial differenzierten Werkstatt einnehmen zu können.

Wenn wir auf die gesamte Menschheitsfamilie rund um die Erde schauen, werden wir unvermeidlich von einer erschütternden Tatsache ungeheuren Ausmaßes schmerzlich berührt: Während einerseits beträchtliche Naturschätze ungenützt bleiben, gibt es andrerseits Scharen von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten und ungezählte Massen von Hungernden, eine Tatsache, die zweifelsfrei bezeugt, daß im Inneren der einzelnen politischen Gemeinschaften wie auch in den Beziehungen zwischen ihnen auf kontinentaler und globaler Ebene hinsichtlich der Organisation der Arbeit und der Beschäftigung irgendetwas nicht funktioniert, und zwar gerade in den entscheidenden und sozial wichtigsten Punkten.

19. Lohn und besondere Sozialleistungen

Nachdem wir die wichtige Rolle beschrieben haben, welche dem Bemühen um eine Beschäftigung für alle Arbeitnehmer zukommt, um so die Achtung der unveräußerlichen Rechte des Menschen hinsichtlich seiner Arbeit zu gewährleisten, ist es angebracht, diese Rechte näher zu betrachten, die letzten Endes im Verhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem direkten Arbeitgeber ins Spiel kommen. Alles, was bisher zum Thema des indirekten Arbeitgebers gesagt worden ist, dient dem Zweck, eben dieses Verhältnis genauer zu bestimmen, und zwar durch das Aufzeigen jener vielfältigen Bedingungen, die es indirekt prägen. Diese Erwägung hat jedoch keinen ausschließlich beschreibenden Sinn; sie ist auch nicht ein kurzer Traktat über Wirtschaft oder Politik. Es geht darum, den deontologischen und moralischen Aspekt eines Problems deutlich zu machen. Das Schlüsselproblem der Sozialethik ist aber die Frage des gerechten Lohnes für die geleistete Arbeit. Es gibt heutzutage keine wichtigere Weise, die Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu verwirklichen, als eben die Bezahlung der Arbeit. Unabhängig davon, ob diese Arbeit im System des Privateigentums an den Produktionsmitteln geleistet wird oder in einem System, wo dieses Eigentum eine Art »Sozialisierung« erfahren hat, wird das Verhältnis zwischen dem Arbeitgeber (vor allem direkter Art) und dem Arbeitnehmer durch den Lohn geregelt, durch das gerechte Entgelt für die geleistete Arbeit.

Es ist auch hervorzuheben, daß die Gerechtigkeit eines sozio-ökonomischen Systems und auf jeden Fall sein rechtes Funktionieren letzten Endes nach der Art und Weise einzuschätzen sind, wie in jenem System die menschliche Arbeit ihre angemessene Entlohnung findet. Hier sind wir erneut beim Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung angelangt, beim Prinzip der gemeinsamen Nutznießung der Güter. In jedem System, unabhängig von dem ihm zugrundeliegenden konkreten Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, bleibt die Bezahlung, das heißt der Lohn für die geleistete Arbeit, der konkrete Weg, der den meisten Menschen den Zugang zu jenen Gütern eröffnet, die zur gemeinsamen Nutznießung bestimmt sind, seien es die Güter der Natur, seien es die Erzeugnisse der Produktion. Zu beiden Arten hat der Arbeitende durch die Bezahlung Zugang, die er als Entlohnung für seine Arbeit erhält. Somit wird gerade die gerechte Bezahlung jeweils zum Prüfstein für die Gerechtigkeit des gesamten sozio-ökonomischen Systems und für sein rechtes Funktionieren. Es ist dies nicht der einzige Maßstab hierfür, aber ein besonders wichtiger und in gewissem Sinne der entscheidende.

Eine solche Überprüfung betrifft vor allem die Familie. Die gerechte Entlohnung für die Arbeit eines Erwachsenen, der Verantwortung für eine Familie trägt, muß dafür ausreichen, eine Familie zu gründen, angemessen zu unterhalten und für die Zukunft zu sichern. Eine solche Entlohnung kann entweder durch eine sogenannte familiengerechte Bezahlung zustandekommen - das heißt durch einen dem Familienvorstand für seine Arbeit ausbezahlten Gesamtlohn, der für die Erfordernisse der Familie ausreicht, ohne daß die Gattin einem außerhäuslichen Erwerb nachgehen muß - oder durch besondere Sozialleistungen, wie Familienbeihilfen oder Zulagen für die Mutter, die sich ausschließlich der Familie widmet; diese Beihilfen müssen im Einklang mit den tatsächlichen Notwendigkeiten der Familie stehen, also der Zahl der zu versorgenden Personen entsprechen, solange diese nicht in der Lage sind, die Verantwortung für ihr Leben auf angemessene Weise in eigene Hände zu nehmen.

Die Erfahrung bestätigt, daß man sich für die soziale Aufwertung der mütterlichen Aufgaben einsetzen muß, für die Aufwertung der Mühen, die mit ihnen verbunden sind, und des Bedürfnisses der Kinder nach Pflege, Zuwendung und Herzlichkeit, damit sie sich zu verantwortungsbewußten, sittlich und religiös reifen und psychisch ausgeglichenen Persönlichkeiten entwickeln können. Es wird einer Gesellschaft zur Ehre gereichen, wenn sie es der Mutter ermöglicht, sich ohne Behinderung ihrer freien Entscheidung, ohne psychologische oder praktische Diskriminierung und ohne Benachteiligung gegenüber ihren Kolleginnen der Pflege und Erziehung ihrer Kinder je nach den verschiedenen Bedürfnissen ihres Alters zu widmen. Der notgedrungene Verzicht auf die Erfüllung dieser Aufgaben um eines außerhäuslichen Verdienstes willen ist im Hinblick auf das Wohl der Gesellschaft und der Familie unrecht, wenn er jenen vorrangigen Zielen der Mutterschaft widerspricht oder sie erschwert. 26

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß, allgemeiner gesprochen, der ganze Arbeitsprozeß so organisiert und angepaßt werden muß, daß die Erfordernisse der Person und ihrer Lebensweise, vor allem ihres häuslichen Lebens, gebührende Beachtung finden, wobei dem Alter und Geschlecht eines jeden Rechnung zu tragen ist. Es ist eine Tatsache, daß in vielen Ländern die Frauen in fast allen Lebensbereichen tätig sind. Sie sollten aber diese Tätigkeiten ihrem eigenen Wesen gemäß verrichten können, ohne Diskriminierungen und ohne Ausschluß von Stellungen, für die sie befähigt sind, aber zugleich auch, ohne wegen ihrer familiären Wünsche oder wegen ihrer spezifischen Rolle bei der Aufgabe, an der Seite der Männer zum Wohl der Gesellschaft beizutragen, weniger geachtet zu werden. Die wahre Aufwertung der Frau erfordert eine Arbeitsordnung, die so strukturiert ist, daß sie diese Aufwertung nicht mit dem Aufgeben ihrer Eigenheit bezahlen muß und zum Schaden der Familie, wo ihr als Mutter eine unersetzliche Rolle zukommt.

Neben dem Lohn kommen hier noch verschiedene Sozialleistungen in Betracht, deren Zweck es ist, das Leben und die Gesundheit des Arbeitnehmers und seiner Familie zu sichern. Die mit der nötigen Sorge für die Gesundheit verbundenen Ausgaben, besonders bei Arbeitsunfällen, machen es notwendig, dem Arbeitnehmer einen leichteren Zugang zu ärztlicher Hilfe zu verschaffen, und zwar zu einem möglichst geringen Preis oder auch ganz unentgeltlich. Ein anderer Bereich solcher Leistungen steht im Zusammenhang mit dem Recht auf Ruhe und Erholung: es handelt sich hier vor allem um die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit, die zumindest den Sonntag umfassen sollte, ferner um eine längere Erholungszeit, den sogenannten Urlaub, einmal im Jahr oder eventuell mehrmals im Jahr in kürzeren Zeitabschnitten. Schließlich geht es um das Recht auf Ruhestandsgeld, auf Alterssicherung und auf Versicherung bei Arbeitsunfällen. Im Rahmen dieser hauptsächlichen Rechte gibt es ein ganzes System einzelner Rechtsansprüche, deren Beachtung zusammen mit der Entlohnung der Arbeit für ein korrektes Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber entscheidend ist. Unter diesen Einzelrechten ist immer auch der Anspruch auf solche Arbeitsräume und Produktionsprozesse zu beachten, die dem Arbeitnehmer weder gesundheitlich noch geistig-sittlich schaden.

20. Die Bedeutung der Gewerkschaften

Aus all diesen Rechtsansprüchen zusammen mit der Notwendigkeit, daß die Arbeitnehmer selbst sich für deren Gewährleistung einsetzen, ergibt sich noch ein weiteres Recht, nämlich sich zusammenzuschließen, also Verbände oder Vereinigungen zu bilden, deren Zweck es ist, die Lebensinteressen der in den verschiedenen Berufen Tätigen zu vertreten. Solche Vereinigungen werden als Gewerkschaften bezeichnet. Die Lebensinteressen der Arbeitnehmer sind bis zu einem gewissen Punkt allen gemeinsam; gleichzeitig jedoch weist jede Art von Arbeit, jeder Beruf bestimmte Eigenheiten auf, die in diesen Organisationen ihre besondere Berücksichtigung finden sollten.

Die Gewerkschaften gehen in gewissem Sinne schon auf die mittelalterlichen Zünfte zurück, insofern diese Organisationen jeweils Angehörige des gleichen Handwerks umfaßten, also Menschen aufgrund der von ihnen verrichteten Arbeit zusammenschlossen. Gleichzeitig besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen solchen Korporationen und den Gewerkschaften: Die modernen Gewerkschaften sind aus dem Kampf der Arbeitnehmer, der Arbeiterschaft und vor allem der Industriearbeiter, für den Schutz ihrer legitimen Rechte gegenüber den Unternehmern und den Besitzern der Produktionsmittel entstanden. Ihre Aufgabe ist die Verteidigung der existentiellen Interessen der Arbeitnehmer in allen Bereichen, wo ihre Rechte berührt werden. Die historische Erfahrung lehrt, daß Organisationen dieser Art ein unentbehrliches Element des sozialen Lebens darstellen, vor allem in den modernen Industriegesellschaften. Das bedeutet freilich nicht, daß nur Industriearbeiter Vereinigungen dieser Art errichten könnten. Die Angehörigen aller Berufe können sich ihrer zur Sicherung der jeweiligen Rechte bedienen. Es gibt daher auch Gewerkschaften der Landwirte und der Arbeitnehmer in leitender Stellung wie auch Vereinigungen der Arbeitgeber. Alle teilen sich dann, wie gesagt, entsprechend den verschiedenen Berufszweigen noch weiter in Gruppen und Untergruppen auf.

Die katholische Soziallehre vertritt nicht die Meinung, daß die Gewerkschaften nur Ausdruck der »Klassen«-Struktur einer Gesellschaft und Teilnehmer des Klassenkampfes seien, der unvermeidlich das gesellschaftliche Leben beherrsche. Gewiß, sie nehmen teil am Kampf für die soziale Gerechtigkeit, für die berechtigten Ansprüche der Arbeitenden in den verschiedenen Berufen. Dieser »Kampf« muß jedoch als ein normaler Einsatz für ein gerechtes Gut angesehen werden: in diesem Fall für das Wohl, das den Bedürfnissen und Verdiensten der nach Berufen zusammengeschlossenen Arbeitnehmern entspricht. Es ist dies aber kein Kampf gegen andere. Wenn er bei umstrittenen Fragen auch den Charakter einer Opposition gegen andere annimmt, so geschieht das im Hinblick auf das Gut der sozialen Gerechtigkeit und nicht um des »Kampfes« willen oder um den Gegner auszuschalten. Es ist ein Kennzeichen der Arbeit, daß sie die Menschen vor allem eint; darin besteht ihre soziale Kraft: sie bildet Gemeinschaft. In dieser Gemeinschaft müssen sich letzten Endes alle irgendwie zusammenfinden, sowohl jene, die arbeiten, wie auch jene, die über die Produktionsmittel verfügen oder sie besitzen. Im Licht dieser grundlegenden Struktur jeder Arbeit - im Licht der Tatsache, daß schließlich in jedem sozialen System »Arbeit« und »Kapital« die unentbehrlichen Elemente des Produktionsprozesses sind - bleibt der arbeitsbedingte Zusammenschluß von Menschen zur Verteidigung der ihnen zukommenden Rechte ein positiver Faktor der sozialen Ordnung und Solidarität, von dem man nicht absehen kann.

Der legitime Einsatz zur Sicherung der Rechte von Arbeitnehmern derselben Berufsgruppe muß allerdings immer den Beschränkungen Rechnung tragen, welche die allgemeine Wirtschaftslage des Landes auferlegt. Die gewerkschaftlichen Forderungen dürfen nicht in Gruppen- oder Klassenegoismus ausarten, wenngleich sie im Interesse des Gemeinwohls der ganzen Gesellschaft auch auf die Verbesserung all dessen abzielen können und müssen, was im System des Eigentums an den Produktionsmitteln oder in der Art, sie einzusetzen und über sie zu verfügen, fehlerhaft ist. Das gesellschaftliche und wirtschaftlich-soziale Leben ist gewiß wie ein System »kommunizierender Röhren«, und auch jede soziale Aktivität zugunsten der Rechte einzelner Gruppen muß sich in dieses System einfügen.

In diesem Sinn gehört die Aktivität der Gewerkschaften zweifellos in das Gebiet der »Politik«, wenn sie als kluges Bemühen um das Gemeinwohl aufgefaßt wird. Andererseits ist es nicht Aufgabe der Gewerkschaften, »Politik zu machen« im heute üblichen Sinne dieses Ausdrucks. Die Gewerkschaften haben nicht die Eigenschaft politischer Parteien, die um die Macht kämpfen, und sollten auch nicht den Entscheidungen der politischen Parteien unterstellt sein oder in zu enger Verbindung mit ihnen stehen. Sonst verlieren sie nämlich leicht den Kontakt mit ihrem eigentlichen Auftrag, der Sicherung der berechtigten Ansprüche der Arbeitnehmer im Rahmen des Gemeinwohls des ganzen Landes, und werden statt dessen ein Werkzeug für andere Zwecke.

Wenn vom Schutz der berechtigten Ansprüche der Arbeitnehmer je nach den verschiedenen Berufen die Rede ist, muß man natürlich immer vor Augen haben, was in jedem Beruf für den subjekthaften Charakter der Arbeit entscheidend ist, aber gleichzeitig oder sogar in erster Linie, was die dem Subjekt der Arbeit eigene Würde bedingt. Hier eröffnen sich der Tätigkeit der Gewerkschaften vielfältige Möglichkeiten, auch in ihrer Bildungs- und Erziehungsarbeit und bei ihrer Förderung der Selbsterziehung. Große Verdienste haben sich dabei Gewerkschaftsschulen, die sogenannten Arbeiter und Volkshochschulen sowie die Programme und Kurse für Fortbildung erworben, die gerade derartige Aktivitäten entwickelt haben und dies weiterhin tun. Es ist stets zu wünschen, daß es dem Arbeitnehmer dank des Wirkens seiner Gewerkschaft gelingt, nicht nur mehr zu »haben«, sondern vor allem mehr zu »sein«, sein Menschsein also in jeder Richtung voller zu verwirklichen.

Bei ihrem Einsatz für die berechtigten Forderungen ihrer Mitglieder bedienen sich die Gewerkschaften auch der Methode des Streiks, das heißt der Arbeitsniederlegung als einer Art von Ultimatum, das sich an die zuständigen Organe und vor allem an die Arbeitgeber richtet. Sie wird von der katholischen Soziallehre als eine unter den notwendigen Bedingungen und in den rechten Grenzen erlaubte Methode anerkannt. Auf dieser Grundlage müßte den Arbeitnehmern das Recht auf Streik garantiert werden, ohne daß ihre Teilnahme daran negative Folgen für sie nach sich zieht. Wenn man zugibt, daß der Streik ein erlaubtes Mittel ist, muß man jedoch gleichzeitig hervorheben, daß er in gewissem Sinn ein äußerstes Mittel bleibt. Man darf ihn nicht mißbrauchen, vor allem nicht für politisches Taktieren. Auch darf man nie außer acht lassen, daß die für das Leben und Zusammenleben der Bürger notwendigen Dienstleistungen auf jeden Fall sichergestellt werden müssen, wenn nötig, durch besondere gesetzliche Maßnahmen. Der Mißbrauch des Streiks kann zu einer Lähmung des ganzen sozio-ökonomischen Lebens führen, und das widerspricht den Erfordernissen des Gemeinwohls der Gesellschaft, das auch mit der richtig verstandenen Natur der Arbeit selbst im Einklang steht.

21. Die Würde der Landarbeit

Alles, was bisher über die Würde der Arbeit, über die objektive und subjektive Dimension der Arbeit des Menschen gesagt worden ist, läßt sich direkt auf den Bereich der Landarbeit und auf die Situation des Menschen anwenden, der in harter Feldarbeit die Erde bebaut. Es handelt sich hier um einen Bereich, der einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung unseres Planeten umfaßt, der nicht auf den einen oder anderen Erdteil beschränkt ist und nicht nur jene Länder betrifft, die bereits einen gewissen Grad von Entwicklung und Fortschritt erreicht haben. Die Landwirtschaft, die der Gesellschaft die für den täglichen Lebensunterhalt erforderlichen Güter bietet, ist von grundlegender Bedeutung. Die Lebensbedingungen im ländlichen Bereich und in der landwirtschaftlichen Arbeit sind nicht überall die gleichen, wie auch die soziale Stellung der Landbevölkerung in den einzelnen Ländern unterschiedlich ist. All das hängt nicht nur vom Grad der Entwicklung der Agrartechnik ab, sondern ebenso und vielleicht noch mehr von der Anerkennung der berechtigten Ansprüche der Bauern und Landarbeiter und schließlich vom Bewußtseinsstand bei der gesamten sozialethischen Betrachtung der Arbeit.

Die Landarbeit unterliegt starken Belastungen, wie die ständige körperliche Anstrengung, oft bis hin zur Erschöpfung, die geringe Achtung, die ihr in der Gesellschaft entgegengebracht wird und die in den Betroffenen den Eindruck hervorruft, an den Rand des sozialen Lebens gedrängt zu sein und die hierdurch immer mehr provozierte Landflucht zu den Städten, die leider in noch entwürdigendere Lebensbedingungen führt. Dazu kommen das Fehlen einer entsprechenden Berufsausbildung und der erforderlichen Arbeitsgeräte, ein gewisser untergründiger Individualismus und auch objektiv ungerechte Situationen.

In manchen Entwicklungsländern sind Millionen von Menschen gezwungen, die Felder anderer zu bebauen, und werden dabei von den Großgrundbesitzern ausgenützt, ohne jede Hoffnung, einmal auch nur ein kleines Stück Erde ihr eigen nennen zu können. Es fehlt an Formen eines gesetzlichen Schutzes für die Person des Landarbeiters und für seine Familie im Fall von Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Lange Tagewerke harter Arbeit werden armselig bezahlt. Nutzbare Bodenflächen werden von den Besitzern brach liegengelassen. Rechtstitel für den Besitz eines kleinen Grundstückes, das der Landarbeiter seit Jahren für sich bebaute, werden übergangen oder sind schutzlos mächtigeren Personen oder Gruppen und ihrem »Hunger nach Boden« ausgesetzt. Aber auch in den wirtschaftlich entwickelten Ländern, wo wissenschaftliche Forschung, technologische Errungenschaften und politische Maßnahmen die Landwirtschaft auf ein sehr hohes Niveau gebracht haben, kann das Recht auf Arbeit verletzt werden, wenn man dem Landarbeiter die Möglichkeit verwehrt, an Entscheidungen bezüglich seiner Arbeitsleistung teilzunehmen, oder wenn ihm das Recht auf freie Vereinigung für einen berechtigten sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt verweigert wird.

Für zahlreiche solche Situationen sind also radikale Änderungen dringend notwendig, um der Landwirtschaft und den in ihr Tätigen wieder den wahren Wert zu geben, der ihnen als Grundlage einer gesunden Volkswirtschaft in der gesamten Entwicklung der Gesellschaft zukommt. Es gilt also, die Würde der Arbeit zu proklamieren und zu fördern - jeder Arbeit und besonders der Landarbeit, durch die sich der Mensch die von Gott als Geschenk empfangene Erde auf so anschauliche Weise »untertan macht« und seine »Herrschaft« über die sichtbare Welt ausübt.

22. Der behinderte Mensch und die Arbeit

Erst kürzlich haben die nationalen Gemeinschaften und die internationalen Organisationen ihre Aufmerksamkeit einem anderen mit der Arbeit in Verbindung stehenden und sehr einschneidenden Problem zugewandt: dem der Behinderten. Auch sie sind personales Subjekt mit vollem Menschsein, mit entsprechenden vorgegebenen, heiligen und unverletzlichen Rechten, die gerade angesichts der dem Körper und seinen Fähigkeiten auferlegten Behinderungen und Leiden die Würde und Größe des Menschen besonders sichtbar machen. Da der Behinderte ein personales Subjekt mit all seinen Rechten ist, muß ihm die Teilnahme am Leben der Gesellschaft in allen Dimensionen und auf allen Ebenen, die seinen Fähigkeiten zugänglich sind, ermöglicht werden. Der Behinderte ist einer von uns und teilt voll und ganz unsere Menschennatur. Es wäre des Menschen von Grund auf unwürdig und eine Verleugnung der gemeinsamen Menschennatur, wenn man zum Leben der Gesellschaft und so auch zur Arbeit nur voll Leistungsfähige zuließe, weil man damit in eine schwere Form von Diskriminierung verfiele, nämlich in die Aufteilung von Starken und Gesunden auf der einen und den Schwachen und Kranken auf der anderen Seite. Die Arbeit im objektiven Sinne muß auch hier der Würde des Menschen untergeordnet werden, dem Subjekt der Arbeit und nicht dem wirtschaftlichen Vorteil.

Es obliegt daher den verschiedenen mit Arbeitsfragen befaßten Stellen - dem direkten wie dem indirekten Arbeitgeber -, mit geeigneten und wirksamen Maßnahmen das Recht des Behinderten auf berufliche Ausbildung und auf Arbeit zu fördern, damit er in eine fruchtbare Tätigkeit eingegliedert werden kann, für die er befähigt ist. Hier stehen wir vor vielen praktischen, rechtlichen und auch wirtschaftlichen Problemen; es ist jedoch Aufgabe der Gemeinschaft, also der öffentlichen Stellen, der Vereinigungen und Gruppen der mittleren Ebene, der Unternehmen und der Behinderten selbst, gemeinsam ihre Ideen und Kräfte in den Dienst dieses unverrückbaren Zieles zu stellen: den Behinderten eine ihren Möglichkeiten entsprechende Arbeit anzubieten ; denn das erfordert ihre Würde als Menschen und Subjekte der Arbeit. Jede Gemeinschaft wird in der Lage sein, sich Strukturen zu geben, in denen Arbeitsplätze für Behinderte ausfindig gemacht oder geschaffen werden können, sei es in den normalen öffentlichen oder privaten Unternehmen, indem gewöhnliche oder besonders geeignete Arbeitsplätze angeboten werden, sei es in sogenannten »beschützten« Unternehmen oder Werkstätten.

Wie bei allen anderen Arbeitnehmern muß auch bei den Behinderten den körperlichen und psychischen Arbeitsbedingungen, der gerechten Entlohnung, den Aufstiegsmöglichkeiten und der Beseitigung verschiedener Hemmnisse große Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ohne die Augen davor zu verschließen, daß es sich hierbei um eine vielschichtige und schwierige Aufgabe handelt, kann man doch wünschen, daß eine richtige Auffassung von der Arbeit in ihrer subjektiven Bedeutung zu einer solchen Situation führe, in der es dem Behinderten möglich wird, sich nicht am Rande der Arbeitswelt und in Abhängigkeit von der Gesellschaft zu fühlen, sondern als vollwertiges Subjekt der Arbeit, nützlich für das Ganze, um seiner Menschenwürde willen geachtet und berufen, zum Fortschritt und Wohl seiner Familie und der Volksgemeinschaft nach seinen Fähigkeiten beizutragen.

23. Die Arbeit und das Problem der Emigration

Schließlich sind zumindest einige wenige Worte zum Thema der sogenannten Arbeitsemigration zu sagen. Sie ist eine schon von früher her bekannte Erscheinung, die sich jedoch ständig aufs neue abspielt und auch heute wieder beträchtliche Ausmaße annimmt durch die Komplikationen des modernen Lebens. Der Mensch hat das Recht, seine Heimat aus verschiedenen Gründen zu verlassen - wie auch dorthin zurückzukehren - und in einem anderen Land bessere Lebensbedingungen zu suchen. Dies bringt zweifellos Schwierigkeiten verschiedener Art mit sich; vor allem stellt es im allgemeinen einen Verlust für das Land dar, aus dem man auswandert. Es verliert einen Menschen, ein Mitglied der großen Gemeinschaft, die durch Geschichte, Tradition und Kultur zusammengehalten wird; dieses Mitglied beginnt ein Leben inmitten einer anderen Gesellschaft, welche durch eine andere Kultur und meist auch durch eine andere Sprache geeint ist. Es geht somit ein arbeitender Mensch verloren, der mit den Leistungen seines Verstandes oder seiner Hände zur Steigerung des Gemeinwohls im eigenen Lande hätte beitragen können; nun kommen dieser Beitrag und diese Leistung einem anderen Land zugute, das in einem gewissen Sinne geringeres Recht darauf hat als das Heimatland.

Gleichwohl ist die Emigration, wenn auch in mancher Hinsicht ein Übel, so doch unter bestimmten Umständen ein, wie man sagt, notwendiges Übel. Man muß darum alles daransetzen - und sicher geschieht bereits vieles zu diesem Zweck -, daß dieses objektive Übel nicht größere Schäden in moralischer Hinsicht mit sich bringt, ja daß es sogar so weit wie möglich zu einem Vorteil für das persönliche, familiäre und soziale Leben der Emigranten werde, und dies im Hinblick auf das Gastland wie auch auf das Herkunftsland. In diesem Bereich hängt sehr viel von einer gerechten Gesetzgebung ab, besonders wenn es um die Rechte des arbeitenden Menschen geht. Ein solches Problem gehört darum selbstverständlich in den Rahmen der vorliegenden Erwägungen, gerade wenn man es vom angegebenen Standpunkt aus betrachtet.

Das Wichtigste ist, daß der Mensch, der als ständiger Emigrant oder auch als Saisonarbeiter außerhalb seines Heimatlandes arbeitet, im Bereich der Arbeitnehmerrechte gegenüber den anderen Arbeitern aus dem Gastland selbst nicht benachteiligt wird. Die Arbeitsemigration darf in keiner Weise eine Gelegenheit zu finanzieller oder sozialer Ausbeutung werden. Hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses müssen für den eingewanderten Arbeitnehmer die gleichen Kriterien gelten wie für jeden anderen Arbeitnehmer des betreffenden Landes. Der Wert der Arbeit muß mit dem gleichen Maßstab gemessen werden und nicht nach der verschiedenen Nationalität, Religion oder Rasse. Erst recht darf die Notlage, in der ein Emigrant sich befindet, nicht ausgenützt werden. Alle diese Umstände müssen - natürlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten - vor dem fundamentalen Wert der Arbeit zurückstehen, der mit der Würde der menschlichen Person verbunden ist. Das grundlegende Prinzip sei hier nochmals wiederholt: Die Rangordnung der Werte und der tiefere Sinn der Arbeit fordern, daß das Kapital der Arbeit diene und nicht die Arbeit dem Kapital.

V. ELEMENTE FÜR EINE SPIRITUALITÄT DER ARBEIT

 

24. Eine besondere Aufgabe der Kirche

Der letzte Teil der vorliegenden Erwägungen zum Thema der menschlichen Arbeit aus Anlaß des 90. Jahrestages der Enzyklika Rerum novarum sei der Spiritualität der Arbeit im christlichen Sinne dieses Ausdrucks gewidmet. Da die Arbeit in ihrer subjektiven Dimension immer ein personales Tun ist - actus personae -, ist folglich an ihr der ganze Mensch beteiligt, Körper und Geist, unabhängig davon, ob es sich um körperliche oder um geistige Arbeit handelt. Dem ganzen Menschen gilt auch die Frohbotschaft des Evangeliums, in der wir viele Aussagen finden, die ein besonderes Licht auf die menschliche Arbeit werfen. Solche Aussagen erfordern aber eine entsprechende Aneignung; sie verlangen ein inneres Bemühen des menschlichen Geistes unter der Leitung von Glaube, Hoffnung und Liebe, wenn sie der Arbeit des konkreten Menschen jene Bedeutung geben sollen, die sie in den Augen Gottes hat und durch die sie zum Heilsgeschehen gehört, unbeschadet ihrer weltlichen Struktur und Verflechtung, die ihre besondere Bedeutung behalten.

Wenn es die Kirche als ihre Pflicht erachtet, sich zur Arbeit unter dem Gesichtspunkt ihres menschlichen Wertes und der moralischen Ordnung, zu der sie gehört, zu äußern, und auch darin eine wichtige Aufgabe im Rahmen ihres Dienstes an der gesamten Frohbotschaft sieht, so erblickt sie gleichzeitig eine besondere Verpflichtung in der Herausbildung einer Spiritualität der Arbeit, deren Sinn es ist, allen Menschen zu helfen, durch die Arbeit Gott, dem Schöpfer und Erlöser, näherzukommen, an seinem Heilsplan für Mensch und Welt mitzuwirken und in ihrem Leben die Freundschaft mit Christus zu vertiefen und durch den Glauben lebendig teilzunehmen an seiner dreifachen Mission als Priester, Prophet und König, wie es das II. Vatikanische Konzil in herrlichen Wendungen beschreibt.

25. Die Arbeit als Teilnahme am Werk des Schöpfers

»Eins steht für die Glaubenden fest«, so das II. Vatikanische Konzil, »das persönliche und gemeinsame menschliche Schaffen, dieses gewaltige Bemühen der Menschen im Ablauf der Jahrhunderte, ihre Lebensbedingungen auf einen stets besseren Stand zu bringen, entspricht an und für sich der Absicht Gottes. Der nach Gottes Bild geschaffene Mensch hat ja den Auftrag erhalten, sich die Erde mit allem, was zu ihr gehört, zu unterwerfen und die Welt in Heiligkeit und Gerechtigkeit zu regieren. Er soll ferner durch die Anerkennung Gottes als des Schöpfers aller Dinge sich selbst und die gesamte Wirklichkeit in Beziehung zu Gott bringen, so daß, nachdem alle Dinge dem Menschen unterworfen sind, Gottes Name wunderbar sei auf der ganzen Erde«. 27

Im Wort der göttlichen Offenbarung ist diese fundamentale Wahrheit zutiefst eingeprägt, daß der Mensch, als Abbild Gottes geschaffen, durch seine Arbeit am Werk des Schöpfers teilnimmt und es im Rahmen seiner menschlichen Möglichkeiten in gewissem Sinne weiterentwickelt und vollendet, indem er unaufhörlich voranschreitet in der Entdeckung der Schätze und Werte, welche die gesamte Schöpfung in sich birgt. Dieser Wahrheit begegnen wir schon am Anfang der Heiligen Schrift, im Buch Genesis, wo das Schöpfungswerk selbst in Form einer »Arbeit« dargestellt wird, die Gott im Verlauf von »sechs Tagen« 28 verrichtet, um am siebten Tag zu »ruhen«. 29 Und noch im letzten Buch der Heiligen Schrift klingt die gleiche Ehrfurcht vor dem Werk an, das Gott durch seine schöpferische »Arbeit« vollbracht hat, wenn es dort heißt: »Groß und wunderbar sind deine Taten, Herr, Gott und Herrscher über die ganze Schöpfung« 30 - die gleiche Ehrfurcht, die im Buch Genesis zum Ausdruck kommt, wenn es die Beschreibung der einzelnen Schöpfungstage mit der Feststellung beschließt: »Gott sah, daß es gut war«. 31

Diese Beschreibung des Schöpfungswerkes, die wir bereits im ersten Kapitel des Buches Genesis finden, ist zugleich in einem gewissen Sinne das erste »Evangelium der Arbeit«; zeigt sie doch auf, worin deren Würde besteht: sie lehrt, daß der Mensch durch seine Arbeit Gott, seinen Schöpfer, nachahmen soll, da er - und nur er allein - mit dem Privileg der Ebenbildlichkeit ausgestattet ist. Der Mensch soll Gott nachahmen sowohl in der Arbeit als auch in der Ruhe, da Gott selbst ihm sein eigenes schöpferisches Tun in der Form der Arbeit und der Ruhe vor Augen führen wollte. Dieses Wirken Gottes in der Welt setzt sich unaufhörlich fort, wie es die Worte Christi bezeugen: »Mein Vater ist noch immer am Werk...«. 32 Er wirkt mit schöpferischer Kraft, indem er die Welt im Sein erhält, die er aus dem Nichts ins Sein gerufen hat; er wirkt mit heilbringender Kraft in den Herzen der Menschen, die er seit Anbeginn zur »Ruhe« 33 bestimmt hat, bei ihm selbst, »im Haus des Vaters«. 34 Daher erfordert die menschliche Arbeit auch die Ruhe - an jedem »siebten Tag«. 35 Vor allem aber darf sie nicht bloß im äußerlichen Einsatz der menschlichen Kräfte bestehen; sie muß im Inneren des Menschen einen Freiraum lassen, wo der Mensch immer mehr das wird, was er dem Willen Gottes entsprechend sein soll, und sich so auf jene »Ruhe« vorbereitet, die der Herr seinen Dienern und Freunden bereithält. 36

Das Bewußtsein von der menschlichen Arbeit als einer Teilnahme am Wirken Gottes muß - wie das Konzil lehrt - auch »das gewöhnliche, alltägliche Tun (durchdringen); denn Männer und Frauen, die beim Erwerb des Lebensunterhalts für sich und ihre Familie ihre Tätigkeiten so ausüben, daß sie ein sinnvoller Dienst für die Gesellschaft sind, dürfen mit Recht überzeugt sein, daß sie durch ihre Arbeit das Werk des Schöpfers weiterentwickeln, daß sie dem Wohl ihrer Brüder dienen und durch ihr persönliches Bemühen zur geschichtlichen Erfüllung des göttlichen Plans beitragen«. 37

Es ist darum erforderlich, daß diese christliche Spiritualität der Arbeit zum gemeinsamen Besitz aller wird. Vor allem heute muß aber die Spiritualität der Arbeit von jener Reife geprägt sein, welche die Spannungen und die Unruhe der Geister und Herzen verlangen: »Den Christen liegt es deshalb fern zu glauben, daß die von des Menschen Geist und Kraft geschaffenen Werke einen Gegensatz zu Gottes Macht bilden oder daß dieses mit Vernunft begabte Geschöpf sozusagen als Rivale dem Schöpfer gegenübertrete. Im Gegenteil, sie sind überzeugt, daß die Siege der Menschheit ein Zeichen der Größe Gottes und die Frucht seines unergründlichen Ratschlusses sind. Je mehr aber die Macht des Menschen wächst, desto mehr weitet sich die Verantwortung der einzelnen wie der Gemeinschaften aus. Daraus wird klar, daß die Menschen durch die christliche Botschaft nicht vom Aufbau der Welt abgehalten noch zur Vernachlässigung des Wohls ihrer Mitmenschen veranlaßt, sondern vielmehr strenger zur Bewältigung dieser Aufgaben verpflichtet werden«. 38

Das Bewußtsein des Menschen, durch die Arbeit am Schöpfungswerk teilzunehmen, bildet für ihn den tiefsten Beweggrund, sie in den verschiedenen Bereichen auf sich zu nehmen: »Die Gläubigen müssen also«, so lesen wir in der Konstitution Lumen gentium, »die innerste Natur der ganzen Schöpfung, ihren Wert und ihre Hinordnung auf das Lob Gottes anerkennen. Sie müssen auch durch das weltliche Wirken sich gegenseitig zu einem heiligeren Leben verhelfen. So soll die Welt vom Geist Christi erfüllt werden und in Gerechtigkeit, Liebe und Frieden ihr Ziel wirksamer erreichen... Sie sollen also durch ihre Zuständigkeit in den profanen Bereichen und durch ihre innerlich von der Gnade Christi erhöhte Tätigkeit einen gültigen Beitrag leisten, daß die geschaffenen Güter gemäß der Ordnung des Schöpfers und im Lichte seines Wortes durch menschliche Arbeit, Technik, Zivilisation und Kultur... entwickelt... werden«. 39

26. Christus, ein Mann der Arbeit

Die Wahrheit, daß der Mensch durch die Arbeit am Wirken Gottes, seines Schöpfers, teilnimmt, hat besonders eindringlich Jesus Christus ins Licht gerückt - Jesus, über den viele seiner ersten Zuhörer in Nazaret staunten und sagten: »Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist?... Ist das nicht der Zimmermann?«. 40 Das ihm anvertraute »Evangelium«, das Wort der ewigen Weisheit, hat Jesus nicht nur verkündet, sondern vor allem durch sein Werk vollbracht. Daher war dieses Evangelium auch ein »Evangelium der Arbeit«, weil der, der es verkündete, selbst ein Mann der Arbeit war, der handwerklichen Arbeit, wie Josef von Nazaret. 41 Wenn wir auch in seinen Worten keine besondere Ermahnung zur Arbeit finden, sondern einmal sogar ein Verbot übertriebener Sorge um Arbeit und Unterhalt, 42 so ist doch die Sprache des Lebens Christi selbst eindeutig: Er gehört zur »Welt der Arbeit«, anerkennt und achtet die menschliche Arbeit. Man kann sogar sagen: Er schaut mit Liebe auf die Arbeit und ihre verschiedenen Formen, deren jede ihm ein besonderer Zug in der Ähnlichkeit des Menschen mit Gott, dem Schöpfer und Vater, ist. Hat er nicht gesagt: »... mein Vater ist ein Winzer«, 43 hat er nicht auf verschiedene Weise jene grundlegende Wahrheit über die Arbeit in seine Lehre übernommen, die schon in der ganzen Tradition des Alten Testamentes, vom Buch Genesis an, zum Ausdruck kommt?

In den Büchern des Alten Testaments fehlt es nicht an zahlreichen Hinweisen auf die menschliche Arbeit, auf die verschiedenen Berufe des Menschen: so auf den Arzt, 44 den Apotheker, 45 den Kunsthandwerker, 46 den Schmied 47 - man könnte diese Worte auf die Tätigkeit des Metallarbeiters von heute beziehen -, auf den Töpfer, 48 den Landwirt, 49 den Gelehrten, 50 den Seefahrer, 51 den Bauarbeiter, 52 den Musiker, 53 den Hirten, 54 den Fischer. 55 Bekannt sind die schönen Worte über die Arbeit der Frauen. 56 Jesus Christus bezieht sich in seinen Gleichnissen über das Reich Gottes ständig auf die menschliche Arbeit: auf die des Hirten, 57 des Landwirts, 58 des Arztes, 59 des Sämanns, 60 des Hausherrn, 61 des Dieners, 62 des Verwalters, 63 des Fischers, 64 des Händlers, 65 des Landarbeiters. 66 Er spricht auch von den verschiedenen Arbeiten der Frauen. 67 Er vergleicht das Apostolat mit der körperlichen Arbeit der Ernte 68 oder des Fischfangs. 69 Auch auf die Arbeit der Gelehrten bezieht er sich. 70

Diese Lehre Christi über die Arbeit, deren Grundlage das Beispiel seines eigenen Lebens während der Jahre in Nazaret ist, findet in der Lehre des Apostels Paulus ein besonders lebendiges Echo. Paulus rühmte sich seiner Berufsarbeit - wahrscheinlich war er Zeltmacher 71 -, und dank dieser Tätigkeit konnte er sich auch als Apostel sein Brot selbst verdienen. 72 »Wir haben uns gemüht und geplagt, Tag und Nacht haben wir gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen«. 73 Dies ist die Quelle seiner Anweisungen zum Thema der Arbeit; sie haben ermahnenden und fordernden Charakter: »Wir ermahnen sie und gebieten ihnen im Namen Jesu Christi, des Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr selbstverdientes Brot zu essen«, schreibt er an die Thessalonicher. 74 Im Zusammenhang mit der Feststellung, daß einige von ihnen »ein unordentliches Leben führen..., nur nicht arbeiten«, 75 sagt der Apostel auch ohne Bedenken: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen«. 76 An einer anderen Stelle macht er Mut: »Tut eure Arbeit gern, als wäre sie für den Herrn und nicht für Menschen; ihr wißt, daß ihr vom Herrn euer Erbe als Lohn empfangen werdet«. 77

Wie man sieht, nehmen die Weisungen des Völkerapostels für die Moral und Spiritualität der menschlichen Arbeit eine Schlüsselstellung ein. Sie sind eine wichtige Ergänzung dieses großen, wenn auch diskreten Evangeliums der Arbeit, das wir in Christi Leben und Gleichnissen finden, in dem, »was Jesus getan und gelehrt hat«. 78

Erleuchtet von dieser Urquelle, hat die Kirche immer verkündet, was seinen modernen Ausdruck in der Weisung des II. Vatikanischen Konzils gefunden hat: »So wie das menschliche Schaffen aus dem Menschen hervorgeht, so ist es auch auf den Menschen hingeordnet. Wenn nämlich der Mensch wirkt, formt er nicht nur die Dinge und die Gesellschaft um, sondern vollendet auch sich selbst. Er lernt vieles, entwickelt seine Fähigkeiten, überschreitet sich selbst und wächst über sich hinaus. Solches Wachstum ist, richtig verstanden, mehr wert als äußerer Reichtum, der angesammelt werden kann... Richtschnur für das menschliche Schaffen ist daher, daß es gemäß dem Plan und Willen Gottes mit dem echten Wohl der Menschheit übereinstimme und dem Menschen als Einzelwesen und als Glied der Gesellschaft die Entfaltung und Erfüllung seiner vollen Berufung gestatte«. 79

Im Licht einer solchen Auffassung von den Werten menschlicher Arbeit, einer solchen Spiritualität der Arbeit, erklärt sich vollauf das, was wir an der gleichen Stelle der Pastoralkonstitution des Konzils zum Thema der rechten Bedeutung des Fortschritts lesen: »Der Mensch ist mehr wert durch das, was er ist, als durch das, was er hat. Ebenso hat alles, was die Menschen zur Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der sozialen Beziehungen tun, größeren Wert als technische Fortschritte. Diese Fortschritte können zwar gleichsam das Material für den menschlichen Aufstieg bieten, doch den Aufstieg selbst werden sie durch sich allein keineswegs zustandebringen«. 80

Diese Lehraussage zum Problem des Fortschritts und der Entwicklung - ein im modernen Denken so beherrschendes Thema - kann nur als Frucht einer erprobten Spiritualität der menschlichen Arbeit verstanden werden, und nur auf der Grundlage einer solchen Spiritualität kann sie verwirklicht und in konkrete Praxis umgesetzt werden. Das also ist die Lehre und das Programm, die aus dem »Evangelium der Arbeit« erwachsen.

27. Die menschliche Arbeit im Licht von Christi Kreuz und Auferstehung

Noch ein Aspekt der menschlichen Arbeit, eine ihrer wesentlichen Dimensionen, wird von der Spiritualität aus dem Evangelium tief durchdrungen. Jede Arbeit - ob körperlich oder geistig - ist unvermeidlich mit Mühen verbunden. Das Buch Genesis bringt dies in wirklich eindringlicher Weise zum Ausdruck, indem es der ursprünglichen Segnung der Arbeit, die im Schöpfungsgeheimnis enthalten und mit der Erhöhung des Menschen zum Abbild Gottes verbunden ist, den Fluch entgegenstellt, den die Sünde mit sich gebracht hat: »So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens«. 81 Diese mit der Arbeit verbundene Mühsal kennzeichnet den Weg des menschlichen Lebens auf Erden und stellt eine Ankündigung des Todes dar: »Mit Schweiß im Gesicht wirst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden. Von ihm bist du ja genommen«. 82 Fast wie ein Echo auf diese Worte klingen jene aus den Weisheitsbüchern: »Dann dachte ich nach über alle meine Werke, die meine Hände vollbracht, und über die Mühe, mit der ich mich plagte, um sie zu vollbringen«. 83 Es gibt wohl keinen Menschen auf Erden, der nicht in diesen Worten sich selbst erkennen könnte.

Das Evangelium spricht gewissermaßen sein letztes Wort auch zu dieser Frage im Paschageheimnis Jesu Christi aus. Dort muß man die Antwort auf diese für die Spiritualität der menschlichen Arbeit so gewichtigen Probleme suchen. Das Paschageheimnis umschließt das Kreuz Christi, seinen Gehorsam bis zum Tod, den der Apostel jenem Ungehorsam entgegenstellt, der seit Anbeginn über der Geschichte des Menschen auf Erden lastete. 84 Dieses Geheimnis umfaßt auch die Erhöhung Christi, der durch den Kreuzestod hindurch mit der Kraft des Heiligen Geistes in der Auferstehung zu seinen Jüngern zurückkehrt.

Schweiß und Mühsal, welche die Arbeit in der gegenwärtigen Heilssituation der Menschheit notwendigerweise mit sich bringt, bieten dem Christen und jedem Menschen, der zur Nachfolge Christi berufen ist, die Möglichkeit zur liebenden Teilnahme an jenem Werk, für das Christus gekommen ist. 85 Dieses Heilswerk wurde durch Leid und Kreuzestod vollzogen. Indem der Mensch die Mühsal der Arbeit in Einheit mit dem für uns gekreuzigten Herrn erträgt, wirkt er mit dem Gottessohn an der Erlösung der Menschheit auf seine Weise mit. Er erweist sich als wahrer Jünger Christi, wenn auch er Tag für Tag bei der ihm aufgegebenen Tätigkeit sein Kreuz auf sich nimmt. 86

Christus erduldete »für uns alle, die wir Sünder sind, ... den Tod, und belehrt uns so durch sein Beispiel, daß auch das Kreuz getragen werden muß, das Fleisch und Welt denen auf die Schultern legen, die Frieden und Gerechtigkeit suchen«. Zugleich jedoch »durch seine Auferstehung zum Herrn eingesetzt, wirkt Christus, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, durch die Kraft seines Geistes bereits in den Herzen der Menschen... und beseelt, reinigt und stärkt auch jenes hochherzige Streben, mit dem die Menschheitsfamilie sich bemüht, ihr eigenes Leben menschlicher zu gestalten und die ganze Erde diesem Ziel dienstbar zu machen«. 87

In der menschlichen Arbeit findet der Christ einen kleinen Teil des Kreuzes Christi und nimmt ihn mit der gleichen Erlösergesinnung auf sich, mit der Christus für uns sein Kreuz auf sich genommen hat. In der Arbeit entdecken wir immer, dank des Lichtes, das uns von der Auferstehung Christi her durchdringt, einen Schimmer des neuen Lebens und des neuen Gutes, gleichsam eine Ankündigung des »neuen Himmels und der neuen Erde«, 88 die gerade durch die Mühsal der Arbeit hindurch dem Menschen und der Welt zuteil werden: durch die Mühsal - und nie ohne sie. So bestätigt sich einerseits die Unausweichlichkeit des Kreuzes in der Spiritualität der menschlichen Arbeit; andererseits enthüllt sich bereits in diesem Mühsal-Kreuz ein neues Gut, das von der Arbeit ausgeht: von der Arbeit, verstanden in der Tiefe und Fülle ihrer Bedeutung - und nie ohne die Arbeit.

Ist dieses neue Gut - eine Frucht der menschlichen Arbeit - schon ein kleiner Teil jener »neuen Erde«, wo die Gerechtigkeit wohnt? 89 In welchem Verhältnis steht es zur Auferstehung Christi, wenn die vielfältige Mühsal der menschlichen Arbeit tatsächlich ein kleiner Teil des Kreuzes Christi ist? Auch darauf sucht das Konzil eine Antwort zu geben, wobei es sein Licht von der Quelle des geoffenbarten Wortes selbst bezieht: »Gewiß, wir werden gemahnt, daß es dem Menschen nichts nützt, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst jedoch dabei verliert (vgl. Lk 9, 25). Trotzdem darf die Erwartung einer neuen Erde die Sorge für die Gestaltung dieser Erde, auf der sich der wachsende Leib der neuen Menschheitsfamilie wie ein erster Umriß der zukünftigen Welt darbietet, nicht abschwächen, sondern sollte sie im Gegenteil ermutigen. Obschon der irdische Fortschritt vom Wachsen des Reiches Christi sorgsam zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann«. 90

Wir haben versucht, in den vorliegenden Erwägungen über die menschliche Arbeit all das hervorzuheben, was unerläßlich für die Überlegung erschien, daß sich durch die Arbeit unter den »Früchten unseres Fleißes« vor allem »die Güter der menschlichen Würde, der brüderlichen Gemeinschaft und der Freiheit« 91 mehren sollen. Der Christ, der auf das Wort des lebendigen Gottes hört und die Arbeit mit dem Gebet verbindet, soll wissen, welcher Platz seiner Arbeit zukommt, nicht nur im irdischen Fortschritt, sondern auch bei der Entfaltung des Reiches Gottes, in das wir alle berufen sind durch die Kraft des Heiligen Geistes und das Wort des Evangeliums.

Gerne erteile ich zum Abschluß dieser Überlegungen Euch allen, verehrte Brüder, geliebte Söhne und Töchter, den Apostolischen Segen.

Dieses Dokument, das ich für eine Veröffentlichung am 15. Mai dieses Jahres, dem neunzigsten Jahrestag der Enzyklika Rerum novarum, vorbereitet hatte, konnte ich erst nach meinem Krankenhausaufenthalt endgültig verabschieden.

Gegeben in Castel Gandolfo, am 14. September, dem Fest Kreuzerhöhung, im Jahre 1981, dem dritten meines Pontifikates.




ENZYKLIKA
DES HEILIGEN VATERS PAPST
PAUL VI.

POPULORUM PROGRESSIO(1)

ÜBER DIE ENTWICKLUNG DER VÖLKER 

 

Einleitung

WELTWEITE AUSMASSE DER SOZIALEN FRAGE

1. Die Entwicklung der Völker wird von der Kirche aufmerksam verfolgt: vor allem derer, die dem Hunger, dem Elend, den herrschenden Krankheiten, der Unwissenheit zu entrinnen suchen; derer, die umfassender an den Früchten der Zivilisation teilnehmen und ihre Begabung wirksamer zur Geltung bringen wollen, die entschieden ihre vollere Entfaltung erstreben. Das Zweite Vatikanische Konzil wurde vor kurzem abgeschlossen. Seither steht das, was das Evangelium in dieser Frage fordert, klarer und lebendiger im Bewußtsein der Kirche. Es ist ihre Pflicht, sich in den Dienst der Menschen zu stellen, um ihnen zu helfen, dieses schwere Problem in seiner ganzen Breite anzupacken, und sie in diesem entscheidenden Augenblick der Menschheitsgeschichte von der Dringlichkeit gemeinsamen Handelns zu überzeugen.

2. In ihren großen Enzykliken Rerum novarum Leos XIII. (2), Quadragesimo anno Pius' XI. (3) - nicht zu sprechen von den Botschaften, die Pius XII. (4) durch den Rundfunk an alle Völker gerichtet hat3 -, Mater et magistra (5) und Pacem in terris (6) Johannes' XXIII. haben sich Unsere Vorgänger der Pflicht ihres Amtes, die soziale Frage ihre Zeit im Licht des Evangeliums zu erhellen, nicht entzogen.

3. Heute ist - darüber müssen sich alle klar sein - die soziale Frage weltweit geworden. Johannes XXIII. hat dies deutlich ausgesprochen (7), und das Konzil hat es in der pastoralen Konstitution über Die Kirche in der Welt von heute (8) bestätigt. Die darin enthaltene Lehre ist gewichtig, ihre Verwirklichung drängt. Die Völker, die Hunger leiden, bitten die Völker, die im Wohlstand leben, dringend und inständig um Hilfe. Die Kirche erzittert vor diesem Schrei der Angst und wendet sich an jeden einzelnen, dem Hilferuf seines Bruders in Liebe zu antworten.

4. Bevor Uns die Leitung der katholischen Kirche anvertraut wurde, haben Uns zwei Reisen, die eine nach Lateinamerika (1960), die andere nach Afrika (1962), in unmittelbare Berührung mit den beängstigenden Problemen gebracht, die jene Kontinente, die an sich reich sind an unverbrauchten körperlichen und geistigen Kräften, bedrängen und geradezu einschnüren. Erhoben zu dem Amt, dem die väterliche Sorge um alle Menschen obliegt, konnten Wir anläßlich der Reisen ins Heilige Land und nach Indien die ungeheuren Schwierigkeiten sehen und gleichsam mit unseren Händen greifen, mit denen sich jene Völker einer alten Kultur auseinanderzusetzen haben, um die Entwicklung ihrer Verhältnisse zu erlangen. Schließlich ergab sich gegen Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils für Uns durch Gottes Fügung die Gelegenheit, Uns an die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu wenden. Wir haben Uns vor diesem weltweiten Forum zum Anwalt der armen Völker gemacht.

5. Erst jüngst haben Wir schließlich in dem Bestreben, den Wünschen des Konzils zu entsprechen und zugleich dem Interesse des Apostolischen Stuhles an der großen und gerechten Sache der Entwicklungsländer Ausdruck zu geben, es für Unsere Pflicht erachtet, die Behörden der Römischen Kurie durch eine Päpstliche Kommission zu ergänzen, deren Aufgabe es sein soll, "im ganzen Volk Gottes die Einsicht zu wecken, welche Aufgaben die Gegenwart von ihm fordert: die Entwicklung der armen Völker vorantreiben, die soziale Gerechtigkeit zwischen den Nationen fördern; den weniger entwickelten Nationen zu helfen, daß sie selbst und für sich selbst an ihrem Fortschritt arbeiten können (9)". "Gerechtigkeit und Friede" ist Name und Programm dieser Kommission. Wir zweifeln nicht daran, daß sich mit Unseren katholischen Söhnen und den christlichen Brüdern alle Menschen guten Willens vereinen werden, um diese Vorhaben in die Tat umzusetzen. Deshalb richten Wir heute an alle diesen feierlichen Aufruf zu gemeinsamem Werk in Fragen der Entwicklung, einer umfassenden für jeden Menschen, einer solidarischen für die Menschheit.


Erster Teil  

UMFASSENDE ENTWICKLUNG DES MENSCHEN 

1. Das Problem

6. Freisein von Elend, Sicherung des Lebensunterhalts, Gesundheit, feste Beschäftigung, Schutz vor Situationen, die seine Würde als Mensch verletzen, ständig wachsende Leistungsfähigkeit, bessere Bildung, mit einem Wort: mehr arbeiten, mehr lernen, mehr besitzen, um mehr zu gelten. Das ist die Sehnsucht des Menschen von heute, und doch ist eine große Zahl von ihnen dazu verurteilt, unter Bedingungen zu leben, die dieses Verlangen illusorisch machen. Überdies empfinden viele Völker, die erst vor kurzem ihre nationale Selbständigkeit erlangt haben, die Notwendigkeit, daß zu der erlangten bürgerlichen Freiheit die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung hinzukomme, um ihren Bürgern eine volle menschliche Entfaltung zu sichern und somit einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft der Völker zu erlangen.

7. Vor dem Umfang und der Dringlichkeit dieser Aufgabe sind die bisherigen Mittel unzureichend; aber sie waren nicht schlechthin falsch. Man wird sicher zugeben müssen, daß die Kolonialmächte häufig ihre eigenen Interessen verfolgt haben, ihre Machtstellung, ihr Ansehen, und daß ihr Abzug manchmal eine verwundbare wirtschaftliche Situation hinterlassen hat, die z.B. an den Ertrag einer Monokultur gebunden war, deren Erzeugnisse jähen und breiten Preisschwankungen ausgesetzt sind. Man kann sicherlich manche Übelstände eines sogenannten Kolonialismus und seine Folgen nicht leugnen. Trotzdem darf man auch die Tüchtigkeit und das Werk mancher Kolonisatoren rühmend erwähnen, die so manchem bettelarmen Land ihr Wissen und ihr Können zur Verfügung gestellt und gesegnete Früchte ihres Wirkens hinterlassen haben. So unvollkommen auch die damals geschaffenen Einrichtungen sein mögen, sie haben die Unwissenheit und die Krankheit zurückgedrängt, neue Verbindungswege eröffnet und die Lebenslage verbessert.

8. Dies alles zugegeben, ist es trotzdem einleuchtend, daß diese Einrichtungen schlechthin unzureichend sind, um der schwierigen wirtschaftlichen Situation in unseren Tagen zu steuern. Wenn nämlich die Möglichkeiten, die heute zur Verfügung stehen, nicht genutzt werden, so führt dies notwendig zur Verschärfung der Ungleichheiten, nicht zur Entspannung, zum Mißverhältnis im Lebensstandard: die reichen Völker erfreuen sich eines raschen Wachstums, bei den armen geht es nur langsam voran. Die Störung des Gleichgewichts wird bedrohlicher: die einen erzeugen Nahrungsmittel in Überfluß, während andere daran jämmerlichen Mangel leiden oder für ihren geringfügigen Überschuß keine gesicherten Absatzmöglichkeiten haben.

9. Gleichzeitig haben die sozialen Konflikte weltweites Ausmaß angenommen. Unruhen, die die ärmeren Bevölkerungsklassen während der Entwicklung ihres Landes zum Industriestaat erfaßt haben, greifen auch auf Länder über, deren Wirtschaft noch fast rein agrarisch ist. Auch die ländliche Bevölkerung wird sich so heute ihrer "elenden und unheilvollen Verhältnisse" bewußt (10). Und zu allem kommt der Skandal schreiender Ungerechtigkeit nicht nur im Besitz der Güter, sondern mehr noch in deren Gebrauch. Eine kleine Schicht genießt in manchen Ländern alle Vorteile der Zivilisation und der Rest der Bevölkerung ist arm, hin- und hergeworfen und ermangelt "fast jeder Möglichkeit, initiativ und eigenverantwortlich zu handeln, und befindet sich oft in Lebens- und Arbeitsbedingungen, die des Menschen unwürdig sind (11)".

10. Ein weiterer Punkt: das Aufeinanderprallen der überlieferten Kulturen mit der neuen industriellen Welt zerbricht die Strukturen, die sich nicht den neuen Gegebenheiten anpassen. Ihr Gefüge, manchmal sehr starr, war der notwendige Halt für das Leben des einzelnen wie der Familie. Die Älteren halten noch daran fest, die Jungen entziehen sich ihnen als einem unnützen Hindernis und wenden sich begierig den neuen Formen sozialen Lebens zu. Der Konflikt der Generationen verschärft sich so zu einem tragischen Dilemma: entweder die Gebräuche und Überzeugung der Väter bewahren und auf den Fortschritt verzichten, oder sich der von außen kommenden Technik und Zivilisation öffnen und die Tradition mit ihrem ganzen menschlichen Reichtum hingeben. Und in der Tat: der sittliche, geistige, religiöse Halt von früher löst sich nur allzuoft auf, ohne daß die Eingliederung in die neue Welt genügend gesichert ist.

11. In dieser Verwirrung wächst die Versuchung, sich durch großtuerische, aber trügerische Versprechungen von Menschen verlocken zu lassen, die sich wie ein zweiter Messias aufspielen. Wer sieht nicht die daraus erwachsenden Gefahren: Zusammenrottung der Massen, Aufstände, Hineinschlittern in totalitäre Ideologien? Das sind die verschiedenen Gesichtspunkte des Problems, um das es geht, deren schwerwiegender Bedeutung, so meinen Wir, sich niemand entziehen kann. 

2. Die Kirche und die Entwicklung

12. Treu der Weisung und dem Beispiel ihres göttlichen Stifters, der die Verkündigung der Frohbotschaft an die Armen als Zeichen für seine Sendung hingestellt hat (Vgl. Lk 7,22), hat sich die Kirche immer bemüht, die Völker, denen sie den Glauben an Christus brachte, zur menschlichen Entfaltung zu führen. Ihre Missionare haben neben Kirchen auch Hospize, Krankenhäuser, Schulen, Universitäten gebaut. Sie haben die Eingeborenen gelehrt, die Hilfsquellen ihres Landes besser zu nutzen, und haben sie so nicht selten gegen die Gier der Fremden geschützt. Natürlich war auch ihr Werk, wie jegliches menschliche Werk, nicht vollkommen, und manche von ihnen mögen ihre heimische Denk- und Lebensweise mit der Verkündigung der eigentlichen Frohbotschaft verbunden haben. Trotzdem verstanden sie es, auch die dortigen Lebensformen zu pflegen und zu fordern Vielerorts gehören sie zu den Pionieren des materiellen Fortschritts und des kulturellen Aufstiegs; um nur ein Beispiel zu nennen: Charles de Foucauld, der um seiner Nächstenliebe willen "Bruder aller" genannt wurde und der ein wertvolles Lexikon der Sprache der Tuareg schuf. Sie alle sollen in Ehren erwähnt sein, die allzu oft Unbekannten, die Vorboten, die die Liebe Christi drängte, und die ihrem Beispiel und ihren Spuren gefolgt sind und noch heute in einem hochherzigen und selbstlosen Dienst bei denen ausharren, denen sie die Frohbotschaft bringen.

13. Aber diese Anstrengungen, die heute von einzelnen und Gruppen in jenen Ländern unternommen werden, genügen heute jedoch nicht mehr. Die gegenwärtige Situation der Welt verlangt ein gemeinsames Handeln, beginnend bereits mit einer klaren Konzeption auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und geistigem Gebiet. Auf Grund ihrer Erfahrung in allem, was den Menschen betrifft, geht es der Kirche, ohne sich in die staatlichen Belange einmischen zu wollen, "nur um dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben (Vgl. Joh 18,37); zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen (Vgl. Joh 3,17; Mt 20,28; Mk 10,45)" (12). Gegründet, um schon auf dieser Erde das Himmelreich aufzurichten, nicht um irdische Macht zu erringen, bezeugt sie ohne Zweideutigkeit, daß die beiden Bereiche voneinander verschieden sind, daß beide, die kirchliche und die staatliche Gewalt, die höchste ist in ihrer Ordnung (13). Aber, weil die Kirche wirklich unter den Menschen lebt, darum hat sie "die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten (14)". Sie teilt mit den Menschen deren bestes Streben, und leidet, wenn es nicht erfüllt wird. Sie möchte ihnen helfen, sich voll zu entfalten, und deswegen eröffnet sie ihnen das, was ihr allein eigen ist: eine umfassende Sicht des Menschen und des Menschentums.

14. Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit ,wirtschaftlichem Wachstum. Wahre Entwicklung muß umfassend sein, sie muß jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben, wie ein Fachmann auf diesem Gebiet geschrieben hat: "Wir lehnen es ab, die Wirtschaft vom Menschlichen zu trennen, von der Entwicklung der Kultur, zu der sie gehört. Was für uns zählt, ist der Mensch, jeder Mensch, jede Gruppe von Menschen bis hin zur gesamten Menschheit (15)."

15. Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln, weil das Leben eines jeden Menschen von Gott zu irgendeiner Aufgabe bestimmt ist. Von Geburt an ist allen keimhaft eine Fülle von Fähigkeiten und Eigenschaften gegeben, die Frucht tragen sollen. Ihre Entfaltung, Ergebnis der Erziehung durch die Umwelt und persönlicher Anstrengung, gibt jedem die Möglichkeit, sich auf das Ziel auszurichten, das ihm sein Schöpfer gesetzt hat. Mit Verstand und freiem Willen begabt, ist der Mensch für seinen Fortschritt ebenso verantwortlich wie für sein Heil. Unterstützt, manchmal auch behindert durch seine Erzieher und seine Umwelt, ist jeder seines Glückes Schmied, seines Versagens Ursache, wie immer auch die Einflüsse sind, die auf ihn wirken. Jeder Mensch kann durch die Kräfte seines Geistes und seines Willens als Mensch wachsen, mehr wert sein, sich vervollkommnen.

16. Dieses Wachstum der menschlichen Persönlichkeit ist nicht dem freien Belieben des Menschen anheimgestellt. Wie die gesamte Schöpfung auf ihren Schöpfer hingeordnet ist, so ist auch das geistbegabte Geschöpf gehalten, von sich aus sein Leben auf Gott, die erste Wahrheit und das höchste Gut, auszurichten. Deshalb ist auch für uns die Entfaltung der menschlichen Person unsere oberste Pflicht. Mehr noch, dieser durch persönliche und verantwortungsbewußte Anstrengung zur Ausgewogenheit gekommene Mensch ist darüber hinaus zu einer höheren Würde berufen. Durch seine Eingliederung in den lebendigmachenden Christus gelangt er zu einer neuen Entfaltung, zu einem Humanismus jenseitiger, ganz anderer Art, der ihm die höchste Lebensfülle schenkt: das ist das letzte Ziel und der letzte Sinn menschlicher Entfaltung.

17. Der Mensch ist aber auch Glied der Gemeinschaft. Er gehört zur ganzen Menschheit. Nicht nur dieser oder jener, alle Menschen sind aufgerufen, zur vollen Entwicklung der ganzen menschlichen Gesellschaft beizutragen. Die Kulturen entstehen, wachsen, vergehen. Aber wie jede Woge der steigenden Hut weiter als die vorhergehende den Strand überspült, schreitet auch die Menschheit auf dem Weg ihrer Geschichte voran. Erben unserer Väter und Beschenkte unserer Mitbürger, sind wir allen verpflichtet, und jene können uns nicht gleichgültig sein, die nach uns den Kreis der Menschheitsfamilie weiten. Die Solidarität aller, die etwas Wirkliches ist, bringt für uns nicht nur Vorteils mit sich, sondern auch Pflichten.

18. Die Entfaltung des einzelnen und der ganzen Menschheit wäre in Frage gestellt, wenn die wahre Hierarchie der Werte abgebaut würde. Da das Verlangen des Menschen, sich die notwendigen Güter zu beschaffen, berechtigt ist, folgt, daß die Arbeit, durch die wir jene Güter erlangen, zur Pflicht wird: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (2 Thess 3,10)." Aber der Erwerb zeitlicher Güter kann zu maßloser Gier führen, zum Verlangen nach immer mehr Besitz und zum Streben nach immer größerer Macht. Die Habsucht der einzelnen, der Familien, der Völker kann die Armen und die Reichen packen und bei den einen wie den andern einen erstickenden Materialismus hervorrufen.

19. Mehr haben ist also weder für die Völker noch für den einzelnen das höchste Ziel. Jedes Wachstum hat seine zwei Seiten. Es ist unentbehrlich, damit der Mensch mehr Mensch werde, aber es sperrt ihn wie in ein Gefängnis ein, wenn es zum höchsten Wert wird, der dem Menschen den Blick nach oben versperrt. Dann verhärtet sich das Herz, der Geist verschließt sich, die Menschen kennen keine Freundschaft mehr, sondern nur noch das eigene Interesse, das sie gegeneinander aufbringt und entzweit. Das ausschließliche Streben nach materiellen Gütern verhindert das innere Wachstum und steht seiner wahren menschlichen Größe entgegen. Sowohl die Völker als auch die einzelnen, die von der Habsucht infiziert sind, offenbaren deutlich eine moralische Unterentwicklung.

20. Die Entwicklungshilfe braucht immer mehr Techniker. Noch nötiger freilich hat sie weise Menschen mit tiefen Gedanken, die nach einem neuen Humanismus Ausschau halten, der den Menschen von heute sich selbst finden läßt, im Ja zu den hohen Werten der Liebe, der Freundschaft, des Gebets, der Betrachtung (16). Nur so kann sich die wahre Entwicklung voll und ganz erfüllen, die für den einzelnen, die für die Völker der Weg von weniger menschlichen zu Menschlicheren Lebensbedingungen ist.

21. Weniger menschlich: das sind die materiellen Nöte derer, denen das Existenzminimum fehlt; das ist die sittliche Not derer, die vom Egoismus zerfressen sind. Weniger menschlich: das sind die Züge der Gewalt, die im Mißbrauch des Besitzes oder der Macht ihren Grund haben, in der Ausbeutung der Arbeiter, in ungerechtem Geschäftsgebaren. Menschlicher: das ist der Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen, die Überwindung der sozialen Mißstände, die Erweiterung des Wissens, der Erwerb von Bildung. Menschlicher: das ist das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen, das Ausrichten auf den Geist der Armut (Vgl. Mt 5,3),, die Zusammenarbeit zum Wohle aller, der Wille zum Frieden. Menschlicher: das ist die Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen und die Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles. Menschlicher: das ist endlich vor allem der Glaube, Gottes Gabe, angenommen durch des Menschen guten Willen, und die Einheit in der Liebe Christi, der uns alle ruft, als Kinder am Leben des lebendigen Gottes teilzunehmen, des Vaters aller Menschen.  

3. Die Aufgabe

22. "Erfüllt die Erde und macht sie euch untertan (Gen 1,28)": die Heilige Schrift lehrt uns auf ihrer ersten Seite, daß die gesamte Schöpfung für den Menschen da ist. Freilich, er muß seine Geisteskraft einsetzen, um ihre Werte zu entwickeln und sie durch seine Arbeit sich dienstbar zu machen und der Vollendung näher zu bringen. Wenn aber die Erde da ist, um jedem die Mittel für seine Existenz und seine Entwicklung zu geben, dann hat jeder Mensch das Recht, auf ihr das zu finden, was er nötig hat. Das Konzil hat dies in Erinnerung gerufen: "Gott hat die Erde mit allem, was sie enthält, zum Nutzen für alle Menschen und Völker bestimmt; darum müssen diese geschaffenen Güter in einem billigen Verhältnis allen zustatten kommen, dabei hat die Gerechtigkeit die Führung, Hand in Hand geht mit ihr die Liebe (17